WAS GRIFF?
Du, der in dem Weltgetriebe,
Wo du fahl begehrst,
Stummverzerrter, durch die Siebe
Enger Straßen fährst,
Wirst du irgendwas erlernen,
Wenn du abwärts schießt,
Wo im Gelbglanz der Laternen
Eis und Wasser fließt?
Stark an grauen Straßenecken
Macht Verhülltes Halt.
Merkst du? Zögert, wie die Schnecken…
Gelb und Herz so bald.
Ich gebe hier ein Buch heraus… (doch ich weiß, etwas „Geschlossenes-Ganzes“ gebe ich nicht heraus), eine Sammlung von Gedichten. Zeitlich auseinanderliegende Dinge, die getrennt empfunden und festgehalten wurden, sind hier zusammengebunden. Einheit liegt nicht vor.
Ich erinnere mich, wie mir zumute war, als ich Einiges von dem hier Aufgenommenen verfaßte. Wie man damals das Inhaltsmäßige fühlte; wie man die Straßen entlang geweht kam (am 31. Januar 1912; vorher war man mit Herrn W. F. und Herrn H. zusammen im q; dann die nachtumwaldete Tauentzienstraße); oder wie manchmal Bedrückendes beim Schaffen wich; wie aber doch manches bedrückend war… Einzelnes; halbgespenstisch. Meine Empfindungen heut abend stehen in keinem Gedicht des Bandes, – dennoch sind die Gedichte des Bandes meine Empfindungen… (Beim Herausgeben muß man das erwähnen.)
Kommt nun (wie jetzt) eine reiche Nachtluft hinzu, durch offne Fenster direkt ins Herz dringend, ist unten alles verstummt, unterhalten sich nur noch leise zwei Dienstmädchen, tickt meine Uhr, höre ich ab und zu die Hochbahn fern rollen —: so passiert es leicht, daß jemand, der sich anschickte, eine Vorrede kritisch-kämpferischen Wesens zu dichten, auf das Ganze dieses Daseins träumerisch reagiert, weil dieses Chaos so voll von Hinreißendem ist und, aus einiger Ferne gesehn, als etwas in seiner Art Einziges blüht…
Dieses Chaotische nun… wird der Lyriker der nächsten Zeit zwar auch in träumerisch-potenter Lust fühlen, doch zugleich mit einer erwachsenen Gier, die Kenntnis von den Dingen unsres Planeten zu vergrößern. Der Lyriker wird immer bewußter empfinden, daß es darauf ankommt (und daß eine große Schönheit darin liegt), für die Klärung der irdischen Phänomene zu sorgen, – ob er gleich weiß: Der Kern der Lyrik ist etwas andres.
Auch der Lyriker wird nächstens ein Erkennender sein, ein Kämpfer; einer, der haltbare Grundlagen sucht, um ein Steigen der Glückschancen für Menschen zu berechnen; einer, der für das Fortschreiten der Menschheit morastlosen Boden sucht; jemand, der (ich weiß, was ich sage) für die Entwicklung kämpft.
Und das Ideal der Künstler, auch der Lyriker, wird sein: Aufrichtigkeit.
(Der erkennende Kämpfer allerdings wird auch ein Lyriker sein. Das ist nichts gewissenhafter Vernunfttätigkeit Entgegengesetztes, sondern etwas, das sie beflügelt, Philosophie wird nächstens nicht mehr verwechselt werden mit umständlichem Geräusper gelehrt anmutender Unrichtigkeiten und Unwichtigkeiten. Der Denker wird ganz sorgfältig und voll Verantwortungsgefühl, dennoch feurig sein.
Als Lyriker aber wird er dieses feurig fühlen: … das ganze Sternschnuppenhafte einer Menschenexistenz, diese Einmaligkeit, das Umwogtsein — und das Stürzen und die Lust und die Melodei –.)
Warum Erkennen? Warum Fortschritt? Warum Entwicklung? Wir sind in dieser herrlichen Weltwildnis mit unsern natürlichen Potenzen, sexuellen und künstlerischen, glücklicher, als wir bei schärferer Bewußtheit wären…
Das ist heute nicht absehbar. Ich weiß indes, daß der Wille zur bewußten Erfassung des Umliegenden ein recht reicher Lustquell ist…
Aufrichtig sein als Erkennender –: ein Ideal, das für Zweifler an der Fundiertheit und den Aussichten menschlichen Erkennens nichts Überzeugendes hat; das als letzte Wahrheit nicht behauptet werden darf; doch (schlimmstenfalls immer noch) die heut reichste Schönheit und Vitalität besitzt, also auch vormaligen Skeptikern an der Wahrheit, späteren Verherrlichern des Chaotisch-Lustspendenden genügen müßte, als der heutige Glaube. (Schlimmstenfalls.)
Als Dichter ein Erkennen das wird der Lyriker der nächsten Jahrzehnte sein.
Weil er ehrlich ist und bewußt, wird er eins auch im Traume nie vergessen: daß er nicht immer ein Engel ist, nicht immer ein Urwesen, nicht immer schwebend und alltagsfern (sondern wie große Erdenreste ihm zu tragen peinlich bleiben). Das wird in seinen Klängen liegen: das Wissen um das Flache des Lebens, das Klebrige, das Alltägliche, das Stimmungslose, das Idiotische, die Schmach, die Miesheit. Die Klänge des nahenden Lyrikers werden nicht „rein“ und „aus der Tiefe“ sein. Er wird nicht einfach ein potentseliges Urgeschöpf sein, sondern einer, der erkennt und zugibt, daß man manchmal recht ins Alltägliche hineingeklebt ist; der noch in der Erhebung weiß, daß man nicht immer erhoben ist. So ist es. Und es wird eine Erhebung für ihn sein, dies zuzugeben. Es wird für ihn darum eine sein, weil er für Ehrlichkeit ist. (Der Lyriker wird finden: der Fortschritt in der Chaosklärung, wenn es ihn nicht gibt, muß erfunden werden. Er streitet für die Wahrheit auch aus Gründen der Schönheit.)
Der Lyriker der nächsten Zeit wird sich nicht schämen.
Auch seiner mehr träumerischen Stimmungen nicht. Doch seine Träume werden anders aussehen, als die weniger Kultivierter; nämlich: gehetzter, weltstädtischer, mit dem lebhaften Willen zur Kritik, mit einem das Träumerische Nicht-Für-Voll-Nehmen. Noch als schwebender Engel im Traum aber weiß er, daß er vielfach als Herr Soundso auf Erden lebt – und viel Irdisches zu ertragen hat. Noch wenn er Lyrik dichtet, wünscht er nicht zu lügen.
Seine Art Lyrik ist „fortgeschrittene“ Lyrik genannt worden; von einem, der, ein großer Lehrer all dieser Dinge, für Europa schafft; von Alfred Kerr. Nicht wegen Großstadtmilieus so genannt, sondern wegen jener kritischen, beschwingten, fechtlustigen Daseinsstimmung selbst in der Lyrik.
Der neue Dichter (der den Alltag kennt, der den Schwindel durchschaut) wird gegen künstlerisches Schaffen überhaupt, soweit es unkritisch ist, etwas skeptisch sein, – dennoch wird er eine Melodie haben…
Weil er wahrheitsliebend ist, werden seine Dichtungen um viel Melodieloses im Erdenleben wissen, – dennoch Dichtungen sein; Dichtungen voll der Schönheit und Intensität eines großen Willens zur Ehrlichkeit. Er wird etwas geben, was, wie Kurt Hiller sagt, funkelt „zwischen Stahl und der Blume Viola“.
Zusammengefaßt: Der kommende Lyriker wird kritisch sein. Er wird träumerische Regungen in sich nicht niederdrücken. Noch im Traume wird er den ehrlichen Willen zur Klärung diesseitiger Dinge haben und den Alltag nicht leugnen. Und diese Ehrlichkeit wird die tiefste Schönheit sein.
Der kommende Lyriker wird, wie gesagt, auch ein Darsteller des Alltags sein. Kein alltäglicher Darsteller! Er wird aber kein Schilderer der Weltstadt sein, sondern ein weltstädtischer Schilderer…
Sollte dann das Niveau noch nicht über kunstbehandelnde Dozenten vom Verstände des Herrn Bab hinübergelangt sein und noch immer in den Gazetten gelegentlich der Gedanke auftauchen, Rhinozeroshaftigkeit und Neid auf Feiner-Behäutete lasse sich schon durch den Willen zu einer neuen, sozusagen synthetischen Andacht überwinden –: so wird der Lyriker für diese Frömmigkeit den gelinden Ausdruck „Lammfrömmigkeit“ bereit haben.
Er selber wird voll Andacht sein, nicht voll dumpfig-stöhnender oder fett-enthusiasmierter Andacht, sondern voll einer skeptischen, gefiederten, fortgeschrittnen, kriegstüchtigen, voll einer tänzerischen und erkennenden und geschwinden Andacht.
Der Lyriker der nächsten Jahrzehnte wird im wesentlichen darauf bestehen, daß seelenlose, mechanische Intelligenz nichts Auszeichnendes, daß jedoch Antiintellektualismus (mit und ohne Schweiz) zum Kotzen ist.
Der zukünftige intellektuelle Lyriker wird sich nicht schämen, weder wegen Intellektuellseins noch wegen Träumerischseins. Als Mann der Schönheit wird er voll irdisch-kämpferischer Stimmung und Kämpfer voll Stimmung und Schönheit sein…
… Mit geflügelten Grüßen an diesen Menschen der nächsten Zeit sei Die Straßen komme ich entlang geweht herausgegeben.
Ernst Blass, 16.9.1912 zur Erstausgabe von Die Straßen komme ich entlang geweht
– Einige Aspekte zu Leben und Werk von Ernst Blass (1890–1939). –
I
Die Adäquierung von Ausdruck und Eindruck, die Symbolwahl, die Akzentverteilung, der ganze Takt im Wortesetzen: einzig alles, unausdenkbar sicher, von quasi mathematischer Präzisheit […]. In Versen gibt es das seit Rilke nirgends sonst […] Ernst Blass hat die Magie. Das Hirn, den Mut und die Magie – Darum ist er der erste seit Goethe, der, ohne epigonal zu sein, ganz goethesch wirkt; darum ist er der besten deutschen Gedichtschreiber einer.
(Kurt Hiller)
Ich erzitterte vor der Urgültigkeit dieser Kunst. Das Blass’sche Buch ist die Angelegenheit eines Menschtums, das nicht beleuchtet werden braucht, da es selbst leuchtet in den springenden Flammen heutiger Lebendigkeit […] Er hat die Tiefe, die Lust, die Sehnsucht und das Können. So kommt es, daß dieses Buch eines der wenigen ist, das nach den großen Gekrönten George und Rilke einen Fortschritt ermöglicht.
(Rudolf Kayser)
Dies sind nur zwei Zitate aus den vielen enthusiastischen Äußerungen, mit denen Ernst Blass’ erster Gedichtband Die Straßen komme ich entlang geweht ab 1912 von der jungen Literatur-Generation begrüßt wurde. Es ließen sich weitere Elogen von Ernst Stadler, Kurt Tucholsky, Paul Zech oder Ludwig Rubiner anführen. Sie alle bezeugen den Rang des Dichters Ernst Blass, der zu den wichtigste Protagonisten des literarischen Expressionismus, jener so folgenreichen künstlerischen Strömung der Zeit von 1910 bis 1920, gehörte. Blass war in jenen Tagen so berühmt, daß seine Wandlung zum Neuklassizisten gleich mehrfach – von Alfred Lichtenstein, Franz Blei oder H.H. Twardowski – parodiert wurde.
Ernst Blass war einer der prägenden, wegweisende Autoren des Expressionismus. Mit seiner kritisch-intellektuellen Großstadt-Poesie inspirierte er einen wesentlichen Zweig der Literatur der Weimarer Republik, nämlich in den Zwanziger Jahren die Lyrik vom jungen Brecht und Mehring bis zu Erich Kästner oder Mascha Kaléko etwa. Und doch verblaßte sein Ruhm, geriet er schon zu Lebzeiten auch infolge tragischer Lebensumstände mehr und mehr in Vergessenheit – erst recht nach Beginn des Nationalsozialismus und lange über dessen zwölfjährige Herrschaft hinaus. Selbst das Licht der Wiederentdeckung des literarischen Expressionismus vor allem in den Sechziger Jahren streifte ihn kaum. Nie erlangte er nach 45 die Popularität und Bekanntheit eines Georg Trakl, Georg Heym oder – wie in letzter Zeit – eines Jakob van Hoddis. Auch tangierte ihn das wiedererwachende Interesse an nazi-verfemter jüdischer Literatur kaum.
Zwar hatte es ihm ja an einzelnen prominenten Befürwortern zu keiner Zeit gemangelt. So hatte noch Anfang der Dreißiger Jahre Alfred Kerr „das Bergen seiner Musik, das Zusammenraffen seiner in Blättern und Büchern verstreuten Schriften“ als „etwas Gegebenes“ bezeichnet:
Für ihn eine Genugtuung. Für den Literaturforscher ein Ziel. Für den Verleger ein Ruhm.
Doch es geschah nichts. Ernst Blass blieb für lange Zeit vergessen.
Ende der Fünfziger Jahre hatten einige Autoren-Kollegen – Karl Otten, Jacob Picard oder Ludwig Kunz – anlässlich seines zwanzigsten Todestages in Zeitungsartikeln auf Blass aufmerksam gemacht und sich – allerdings vergeblich – um eine Edition seiner Werke bemüht. Auch gelegentliche begeisterte Hinweise von seiten jüngerer Autoren, wie Werner Riegel, Peter Rühmkorf, Peter Härtling, Walter E. Richartz, Hans J. Fröhlich oder Günter Kunert, vermochten keine umfassende Wiederentdeckung von Ernst Blass einzuleiten. Wohl häuften sich Anthologie-Abdrucke von Blass – viele renommierte Herausgeber nahmen seit den Fünfziger Jahren bis in die Gegenwart vornehmlich Gedichte von Blass in Anthologien auf. Zu nennen wären etwa Gottfried Benn, Karl Krolow, Johannes Bobrowski, Wolfgang Hädecke, Peter Hamm, Rainer Brambach, Hans Bender, Marcel Reich-Ranicki, Karl Otto Conrady, Rolf Schneider oder Harald Hartung – in fast keiner relevanten Nachkriegs-Anthologie fehlt der Name Ernst Blass.
Erst 1975 erschien eine eigenständige Buchveröffentlichung von Blass, und zwar der erste Gedichtband Die Straßen komme ich entlang geweht, allerdings als bibliophiler Handpressendruck in nur 120 Exemplaren, der Wolfgang Weyrauch in einer Rezension zu der Bemerkung veranlasste:
Aber 120 Exemplare des Außerordentlichen sind mehr wert als 120.000 dessen, was geht.
Im Jahre 1980 kam dann endlich ein Band mit sämtlichen Gedichten von Ernst Blass unter dem Titel Die Straßen komme ich entlang geweht im renommierten Carl Hanser Verlag heraus. Trotz guter Presse-Resonanz wurde er leider nicht allzu erfolgreich, so daß die letzten Exemplare gar verramscht wurden…
Nun aber liegt hiermit endlich – fast 100 Jahre nach dem Erscheinen von Blass’ Erstling Die Straßen komme ich entlang geweht, fast 120 Jahre nach seiner Geburt und 70 Jahre nach seinem Tode – die schon von Alfred Kerr geforderte, langerwartete Werkausgabe von Ernst Blass vor. Sie versammelt in drei Bänden sämtliche Gedichte und Erzählungen Blass’ sowie ausgewählte Feuilletons und literarische Aufsätze von ihm. Möge sie seine längst überfällige Etablierung im literarischen Kanon des 20. Jahrhunderts sowie seine allseitige Kenntnisnahme und Anerkennung als einer der Großen der expressionistischen Lyrik, aber auch als bedeutender Essayist und Prosaist, kurz: als Wegbereiter der Moderne bewirken!
II
Ernst Blass wurde am 17. Oktober 1890 als viertes Kind des jüdischen, mäßig wohlhabenden Kaufmanns und Fabrikanten Max Blass und dessen Ehefrau Elise geb. David in Berlin geboren. Er war der einzige Junge neben fünf Schwestern, was ihm schon von Kind an eine gewisse Sonderstellung in der Familie gab. „Er war ein sehr schönes Kind mit großen blauen Augen und langen blonden Locken“, so schilderte ihn später einmal die zweit jüngste Schwester Edith, „aber recht nervös, blaß und anfällig“:
Beinahe jede zweite Woche hatte er Erkältungserkrankungen mit hohem Fieber. Geistig entwickelte er sich ungeheuer schnell und war seinem Alter an Intelligenz stets weit voraus. Allerdings war das Milieu, in dem er sich befand, ein Erwachsenenmilieu. Mit gleichaltrigen Kindern kam er nicht zusammen.
Ab Ostern 1897 besuchte Ernst Blass das Königliche Wilhelms-Gymnasium zu Berlin, wo er die ersten Schuljahre als schwer und bedrückend empfand und keinerlei Kontakt zu seinen Mitschülern hatte. Erst in den oberen Klassen fand er aufgrund seines Scharfsinns und Witzes Anerkennung bei Lehrern und Schülern. Mit etwa 17 Jahren begann Blass, Gedichte zu schreiben – zunächst stark von Heine beeinflußt, später mehr von Verlaine.
Am 1. Januar 1908 erlitt Ernst Blass einen ersten epileptischen Anfall, dem in längeren Abständen bis 1915 weitere folgten; danach traten sie nicht mehr auf. Aufgrund dieser Anfälle wurde er zu Beginn des Ersten Weltkrieges – trotz freiwilliger Meldung – für dienstuntauglich erklärt und nicht eingezogen.
Nach bestandenem Abitur im Herbst 1908 begann Blass mit einem juristischem Studium an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin – und zwar auf ausdrücklichen Wunsch seiner Eltern, die „seine Einordnung in die bürgerliche Welt wünschten“; er selber hatte von Anfang an freier Schriftsteller werden wollen.
Im Jahre 1909 lernte Blass den 1885 geborenen Schriftsteller Kurt Hiller kennen, eine Glücksstunde in seinem Leben. Hiller, der Blass’ Begabung sogleich erkannte, wurde sein Mentor und führte ihn ins literarische Leben Berlins ein. So wurde Blass Mitglied im Neuen Club, der ersten expressionistischen Autorenvereinigung, in der die bedeutenden Expressionisten Georg Heym und Jakob van Hoddis erstmals mit Lesungen an die Öffentlichkeit traten und von der der gesamte Expressionismus wichtigste Impulse erhielt, und las seine Lyrik und Prosa in dessen Neopathetischem Cabarett für Abenteurer des Geistes und später im Kabarett Gnu. Er verkehrte im Café des Westens und anderen Künstler-Kreisen und konnte ab 1910 seine Gedichte, Glossen, Rezensionen und Prosastücke in fast allen avantgardistischen Zeitschriften der Zeit, die ja eine wichtige Rolle in der Frühphase des Expressionismus bei der Verbreitung und Durchsetzung der neuen Ideen spielten, publizieren. So etwa in Die Aktion, Der Sturm, Herder-Blätter, Saturn, Pan, Das neue Pathos, Die neue Kunst, Revolution, Die weißen Blätter, Zeit-Echo; ferner auch in Anthologien und Almanachen wie Der Kondor (der frühesten expressionistischen Lyrik-Sammlung, 1912, überhaupt), Ballhaus, Vom Jüngsten Tag, Die Dichtung, Menschliche Gedichte im Krieg, Verkündigung, Verse der Lebenden u.a.
An einem Abend des Neopathetischen Cabaretts hatte Karl Kraus das zuvor gehörte Gedicht „Die Kindheit“ persönlich von Blass zur Veröffentlichung in der Fackel erbeten – eine nicht zu unterschätzende Ehre für einen beginnenden jungen Autor.
1912 dann erschien sein erstes Buch im Verlag von Richard Weissbach in Heidelberg, einem heute weniger bekannten Verlag, der aber einst neben Ernst Rowohlt und Kurt Wolff zu den anregendsten Verlagen des Frühexpressionismus gehörte. Es war der Gedichtband Die Strassen komme ich entlang geweht. Dieser machte Blass mit einem Schlag in den literarischen Zirkeln Berlins bekannt und wurde von seinen Autoren-Kollegen – Gleichaltrigen wie Ernst Stadler, Paul Zech, Ludwig Rubiner, Rudolf Kayser oder Kurt Hiller und auch einzelnen Vertretern der älteren Generation wie Heinrich Mann oder Alfred Kerr – in Rezensionen oder persönlichen Zuschriften begeistert aufgenommen, von der bürgerlichen Presse jedoch durchweg abgelehnt.
Im Frühjahr 1913 übersiedelte Ernst Blass nach Heidelberg, da er es in Berlin wegen einer unglücklichen Liebe zu einer zehn Jahre älteren Frau, einer Art Muse der jungen Expressionisten im Café des Westens, die Blass in dem Gedicht „An Gladys“ besungen hatte, nicht länger aushielt und sein Gesundheitszustand infolge des hektischen Bohème-Lebens – nachts hielt er sich in den Caféhäusern auf, tagsüber schlief er – stark angegriffen war. Auch das Studium hatte er nur lasch betrieben, vielfach ohnehin nichts Juristisches, sondern Philosophie, Germanistik, Klassische Philologie oder Kunstgeschichte belegt.
Die Jahre in Heidelberg – mit dem Zauber der süddeutschen Landschaft fern der Großstadt – wurden Blass’ glücklichste, unbeschwerteste Zeit. Hier knüpfte er zahlreiche Kontakte und Freundschaften, etwa mit Karl Jaspers, Ernst Bloch, Friedrich Sieburg, Jacob Picard, Erich Auerbach, Gustav Radbruch oder dem Bildhauer Benno Elkan. Hier promovierte er 1915 mit einer Arbeit über Die Tötung des Verlangenden (§ 216 RStGB) zum Dr. jur.
Und hier begann er, die exklusive literarisch-philosophische Zeitschrift Die Argonauten zu edieren, deren erstes Heft vom Januar 1914 Blass mit folgenden Worten einleitete:
Lynkeus, der Scharfblickende, war der einstigen Argo Lotse, aber mit übermächtigem Saitenspiel begeisterte Orpheus den Mut der Helden. Sie seien schützende Gottheiten unserem Schiff, in dem der Sänger wie der Vernünftiges Sprechende, der Späher wie der Schönheit Ahnende vereinigt sind zu tugendhafter Fahrt.
Zunächst monatlich (Heft 1–6 von Januar bis Juli 1914), erschien die Zeitschrift später nur noch sporadisch (die letzte Ausgabe 1921). Sie enthält vorwiegend philosophische Abhandlungen und Essays, Prosa und Gedichte von so verschiedenen Temperamenten wie Walter Benjamin, Ernst Bloch, Max Scheler, Leonard Nelson, Gustav Radbruch, Paul Ernst, Rudolf Borchardt, Franz Blei, Max Brod, Carl Sternheim, Franz Werfel, Franz Jung, Robert Musil und immer wieder von Blass selbst.
Ende 1915 kehrte Ernst Blass – um seinen Lebensunterhalt zu verdienen – nach Berlin zurück, wo er zunächst eine Anstellung als Archivar bei der Dresdner Bank fand. Sein unmittelbarer Vorgesetzter war übrigens der nachmalige Reichsbankpräsident und nationalsozialistische Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht – welch zynisches Zufallsspiel, daß der jüdische Intellektuelle ausgerechnet Untergebener dieser braun-schillernden Figur wurde!
1915 auch war Blass’ zweiter Lyrikband Die Gedichte von Trennung und Licht erschienen – nun im mittlerweile führenden Verlag des Expressionismus, bei Kurt Wolff, obwohl er kaum noch expressionistische Stilmerkmale enthält.
Nach fünf Jahren gab Blass den ihm verhaßten Posten bei der Bank mit seiner stupiden Regelmäßigkeit und dem bedrückenden Eingezwängtsein in einen vorgeschriebenen Tagesablauf wieder auf. Statt dessen wurde er Journalist, und zwar zunächst festangestellter Tanzkritiker beim Berliner Börsen-Courier (1921–23), danach Theater- und Filmkritiker bei der Wochenzeitung Der Montag-Morgen (Politischer Redakteur: Carl von Ossietzky) und ab November 1924 Filmkritiker und feuilletonistischer Mitarbeiter beim renommierten Berliner Tageblatt. Gleichzeitig wirkte er ab 1924 auch als Lektor im Verlag des bedeutenden Kunsthändlers Paul Cassirer.
Die Zeit um 1920, d.h. die Jahre 1918–22 waren – was Buchveröffentlichungen angeht – die ergiebigsten im Leben von Ernst Blass. So erschienen 1918 Die Gedichte von Sommer und Tod (in Kurt Wolffs berühmter expressionistischer Reihe Der Jüngste Tag) und 1921 der Gedichtband Der offene Strom (wieder bei seinem alten Verlag Weissbach). Ferner 1920 die essayartige Abhandlung in Dialogform Über den Stil Stefan Georges (als zweiter der Drucke des Argonautenkreises bei Weissbach) sowie die Erzählung Der paradiesische Augenblick unter dem Pseudonym Daniel Stabler (als Privatdruck). Und schließlich 1921 im Verlag Erich Lichtenstein die Porträtsammlung Das Wesen der neuen Tanzkunst – über die Ausdruckstänzerinnen Niddy Impekoven, Mary Wigman, Charlotte Bara, Valeska Gert, die Loheland-Schule, Ballett im Allgemeinen usf. Dieser Titel erlebte als einziges Buch Blass’ schon bald eine zweite Auflage (1922).
Von da an, d.h. seit Mitte der Zwanziger Jahre ging es – sozusagen – langsam aber sicher bergab im Leben des Ernst Blass. Vor allem machte ihm sein Augenleiden schwer zu schaffen, bei dem es sich um eine Art Tuberkulose handelte. Die ersten Anzeichen nahm Blass etwa im Jahre 1924 wahr, als im Blickfeld des einen Auges plötzlich ein Schatten auftauchte, der nicht mehr weichen wollte und sein Sehvermögen stark behinderte. Im Laufe der nächsten Jahre wurde das zweite Auge in gleicher Weise affiziert, und daraus wurde schließlich eine fortschreitende Erblindung, so daß er nicht nur für die alltäglichen Handreichungen, sondern auch, was besonders unangenehm für ihn war, zum Lesen und Schreiben auf andere Menschen angewiesen war. Ein mehr als einjähriger Aufenthalt in einem Davoser Augensanatorium brachte nur geringfügige Besserung, d.h. vorübergehenden Stillstand der Krankheit. Hinzu kamen starke finanzielle Sorgen durch die krankheitsbedingte Arbeitsbehinderung, so daß immer wieder Unterstützungsanträge bei Stiftungen und Fürsorgestellen nötig wurden. Auch seine 1920 geschlossene Ehe mit der Grotesktänzerin aus der Loheland-Schule und Gymnastiklehrerin Irma Hirschberg wurde wieder geschieden. Sie hat sich 1933 in Paris das Leben genommen, was Blass zutiefst erschütterte.
In jener Zeit wurde Blass mehr und mehr zu einer – tragischen – Figur der Bohème-Welt. Sein Schwager Lutz Wolff, der vorübergehend mit Blass zusammenlebte, hat später in – unveröffentlichten – Aufzeichnungen Blassens damaliges Leben geschildert. Wenn auch sicherlich ein wenig anekdotisch gefärbt, geben sie dennoch einen bezeichnenden Eindruck von der Situation Ernst Blass’ Ende der Zwanziger/Anfang der Dreißiger Jahre:
Seine Augen wurden langsam ein wenig besser. Er konnte wieder schattenhafte Umrisse sehen. Nach einiger Zeit gingen wir zusammen aus, gingen wie früher zu Mierecke, ins Romanische Café, ins Café Wien ein Schnitzel essen, und in die Bajadere in der Joachimsthaler Straße, sein Lieblings-Nachtlokal. Alkohol war ihm verboten, alkoholfreie Getränke wurden dort nicht serviert, also bestellt Ernst regelmäßig ,Gin-Fizz ohne Gin‘, sprich Zitronenlimonade. Ich beschrieb die Mädchen, die dort herum saßen und brachte diese oder jene an unsern Tisch. Ernst fühlte sich dort wohl, er hörte gern das Geplapper der ,Tischdamen‘. Sein erstes herzliches Lachen war, als eine, die er die Hamburgerin nannte, sagte: – er hatte lange schweigend dagesessen – „Ach, Doktorchen, Du hast aber auch garnich so’n büschen was Munteres an Dir“. Er war gerade deprimiert gewesen, er hatte, was er eine ,Hundert-Mark-Depression‘ nannte, wir waren wieder mal fast ohne Geld. Aber die hübsche Hamburgerin erheiterte ihn, die Depression verblich, und er lachte und streichelte ihr zärtlich die Haare. Die Kapelle Eckstein spielte „Salem Aleikum, die Kundschaft soll mal reinkommn“, die Kentucky Girls (aus Pankow) tanzten und lispelten: „In Persien beim Mondenschein, da küßt mall sich im Palmenhain“ und Ernst wurde heiter und vergnügt.
Der Tag sah anders aus. Es fiel ihm ebenso schwer aufzustehen, wie am frühen Morgen nach Haus zu gehen. Er lag lange im Bett, er war dann mutlos und oft verbissen und wütend, er tyrannisierte seine Schwestern und seine Umwelt und wurde nicht müde, auf seine Wohltäter zu schimpfen. Unser Geldverbrauch war enorm. Sein Freund Feilchenfeldt schickte monatlich ein Direktorengehalt. Tausende kamen von allen möglichen Quellen. Alles war zu wenig. „Ihr müßt mehr Geld beschaffen“, sagte er immer wieder zu seinen Schwestern. Wir zogen um in eine billigere düstere Wohnung in der Spichernstraße. Es war Winter, die Wohnung wurde nie hell. Ehe Ernst aus dem Bett und wir auf die Straße kamen, war es schon dunkel. Wir machten dann die Runde durch die Cafés und die Lokale, wo wir ein bekanntes Paar waren. In einem eleganten Nachtlokal war er eine ungewöhnliche Erscheinung; sein Anzug, obwohl vom ersten Schneider gemacht, war verbeult und zerknittert, die Weste mit Zigarettenasche bestreut, das Haar zerzaust und struppig und seine Bewegungen ungeschickt. Es machte ihm nichts. Die Meinung der Leute war ihm gleichgültig; er ging unbekümmert, nur von mir etwas gesteuert, über die grell erleuchtete leere Tanzfläche zur Bar, um mit ausgestrecktem Arm die Bardame Baby zu begrüßen. (…)
In jener Zeit auch ließ sich Ernst Blass psychoanalytisch behandeln, um seiner zunehmenden Arbeitshemmung auf den Grund zu kommen – jedoch ohne Erfolg. Er hatte viele Pläne – vor allem zu „realistischen Großstadt-Romanen“; doch dazu kam es nicht. Veröffentlicht hat er seit Mitte der Zwanziger bis Anfang der Dreißiger Jahre seine Feuilletons, Erzählungen, Rezensionen, Essays und die Gedichte vornehmlich im Berliner Tageblatt, in der Literarischen Welt und in den anregenden Zeitschriften der Zwanziger Jahre Der Querschnitt, Das Tagebuch, Das Dreieck.
Eine irgendgeartete literarische Ehrung oder einen Literaturpreis hat Blass übrigens zeitlebens nicht erhalten. Wohl war er Mitglied im PEN-Club, im SDS (Schutzverband Deutscher Schriftsteller) und in der Gruppe 25, jener losen Vereinigung bürgerlich-linksliberaler bis marxistischer Autoren, die das Ziel hatte, Schriftsteller von Belang aus ihrer Isolierung herauszuführen und durch kameradschaftlichen Zusammenschluß zu fördern und zu stärken. Außer Blas gehörten dieser Gruppierung u.a. an: Johannes R. Becher, Brecht, Albert Ehrenstein, Walter Hasenclever, Leonhard Frank, Hermann Kasack, Georg Kaiser, Egon Erwin Kisch, Rudolf Leonhard, Joseph Roth und Kurt Tucholsky.
Seit den Tagen des Neuen Clubs, hatte Ernst Blass Kontakt mit zahlreichen interessanten Personen der Kulturszene (Literatur, Kunst, aber auch Film und Journalismus): So etwa mit Else Lasker-Schüler, Theodor Däubler, Max Herrmann-Neisse, René Schickele, Franz Werfel, Max Brod, Georg Heym, Jakob van Hoddis, Franz Blei, Alfred Kern, Heinrich Mann, Oskar Loerke, Alfred Döblin, Max Scheler, Ernst Bloch, Oskar Kokoschka; ja selbst Rilke und Kafka lernte er persönlich kennen.
Im Grunde relativ unpolitisch, engagierte sich Blass jedoch Anfang der Dreißiger Jahre zu Beginn des Faschismus mehr und mehr auf linker Seite und unterzeichnete beispielsweise Ende 1932 den – von Kurt Hiller, Walter Mehring, Ernst Toller, Bruno Vogel, Ignaz Wrobel (= Tucholsky) u.a. initiierten – „Protest der Gruppe Revolutionärer Pazifisten gegen die beabsichtigte Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht“.
Bald nach der nationalsozialistischen Machtergreifung entfielen die letzten Publikationsmöglichkeiten für Blass – mit Ausnahme der Jüdischen Rundschau. Nur noch eine Veröffentlichung, nämlich die poetisch-einfühlsame Übersetzung von Lord Byrons Kain. Ein Mysterium, erschien 1938 im Schocken Verlag/Jüdischer Buchverlag zu Berlin (als 89. Band von dessen Bücherei des Schocken Verlags).
Blass’ Mittellosigkeit und Isolation nahmen immer mehr zu. Die meisten Freunde und Verwandten (außer der jüngsten Schwester Ilse, die sich bis zuletzt um ihn kümmerte) waren emigriert, und so lebte er zurückgezogen und ziemlich vereinsamt in einfachsten Verhältnissen – zur Untermiete in oft wechselnden Pensionen oder möblierte Zimmern –, gezeichnet von Krankheit und Not. Davon legt einer seiner letzten – an seinen emigrierten Freund Hans Schönlank gerichteten – Briefe auf erschütternde Weise Zeugnis ab:
Ich war sieben Wochen dritter Klasse im Jüdischen Krankenhaus, Elsasserstr. Ärzte und Krankenschwestern waren auffallend fähig und sympathisch. Ich bin wohl jetzt wieder organisch gesund, das Herz hat sich fabelhaft benommen, zuerst in der lebensgefährlichen Zeit auch die Nerven. Aber als es mir schon besser ging, war ich mit den Nerven fertig, bin auch jetzt noch übel dran, muß aber ein Buch über den Maler Pissarro zusammenstellen. Die Krankenhaus-Eindrücke lassen sich nur so style Céline darstellen. Neben mir ein alter Jude mit Bart und Käppchen, danach ein Apoplektiker mit Aphasie-Amnesie. Der erste betete und sang mit Talles und Tefillin. Er wurde durchuntersucht: Galle, Niere, Blase. Schließlich fehlte ihm garnichts, ich hatte ihn mindestens auf Würmer eingeschätzt. All das schiß und pißte um mich herum, alte Juden aus dem Norden Berlins. Nein, es ist schlimm, sensibel und arm zu sein. Ich habe nicht die Nerven von Jean Pauls Katzenberger. Es geht mir jetzt organisch leidlich, aber ich habe Selbstmord-Gedanken, sicher nur von diesen Eindrücken. Es war auch gerade noch das Pessach-Fest, man zündete Lichter an und ähnliches Unheimliche. Und ich hatte noch Byrons Kain in den Gliedern und wünschte im Fieber immer, meine Schwester mit der Hacke totzuschlagen.
Jetzt hat mich Feilchenfeldt zu Leuten in Pension gegeben.
Ich werde verpflegt, kriege Lungenhacheé und falschen Hasen, Klopse aller Arten. Der Mann ist 78, die Frau 65. Aus Pasewalk und aus Lissa in Posen. Richtig tuntig und schlecht. (…) Hier ist fast garnichts. Ich rauche nicht mehr und gehe zunächst nicht mehr ins Café (ins R. C. schon gar nicht). Abends bleibe ich zu Haus, weil ich so unpraktisch wohne und zu wenig Geld habe. Lesen und schreiben darf ich auch nur sehr beschränkt und bedingt, sodaß es (infolge Geldmangels lediglich), sehr an der Grenze des Erträglichen ist. Ich breche jetzt ab, weil meine Augen ermüdet sind. Nicht nur zur Beschreibung des Krankenhauses, auch zu der meines Haus-Pasewalks wäre ein Céline nötig. Er soll übrigens jetzt ein sehr antisemitisches Buch veröffentlicht haben. (…)
Wenige Monate später mußte Ernst Blass erneut ins Jüdische Krankenhaus eingeliefert werden. Dort starb er in der Nacht vom 22. auf 23. Januar um 3 Uhr morgens an akuter Herzschwäche (im Gefolge der lange unerkannt gebliebenen doppelseitigen Lungentuberkulose) und wurde so vor der später so gut wie sicheren Deportation ins KZ (wie sie seiner jüngsten Schwester widerfahren ist) bewahrt… Am Freitag, dem 27. Januar 1939, fand seine Beisetzung statt. „Es war ein frostiger, verhangener Tag über dem Friedhof Weißensee in jenem gefährlichen Winter, ein wenig Regen, ein wenig Schnee, keines von beiden recht, die wahre Stimmung eines Blass’schen Gedichts“, so erinnerte sich Jacob Picard später, „als (…) ein halbes Dutzend jüdischer Freunde mit seiner Schwester vor seiner Bahre stand, Erich Lichtenstein, der Verleger, Literarhistoriker und Kritiker gute Worte der Würdigung, der Kameradschaft und des Abschieds gesagt hatte und der Vorbeter eben das Gebet sprach, als ein Taxi vorfuhr, dem Sigismund von Radecki entstieg, einen Strauß Rosen in Händen haltend, die er schweigend hinlegte, als ein Zeichen vielleicht auch für manch andere, die es nicht mehr wie er gewagt hatten.“
Keine deutsche Zeitung durfte den Tod von Ernst Blass anzeigen; einzig in einer Exilzeitung und einem Jüdischen Mitteilungs-Blatt erschienen kurze Nekrologe. Jahrzehnte lang waren die Spuren dieses tragischen Lebens, das einst so vielversprechend mit dem Debüt-Gedichtband Die Straßen komme ich entlang geweht begonnen hatte und dem die moderne deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts Entscheidendes zu verdanken hat, so verweht, daß sich nicht einmal sein Grabstein auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee im früheren Ost-Berlin – unter lauter wild-wucherndem Gestrüpp – ausmachen ließ…
III
Im lyrischen Schaffen von Ernst Blass lassen sich drei wesentliche Phasen erkennen: die expressionistische, die klassizistische (im Gefolge Stefan Georges und der Neuklassik Paul Ernsts) und die neu sachliche (der Zwanziger Jahre).
Dabei war sein Erstling von 1912 zugleich sein wichtigstes Buch. Es gehört – mit den Werken eines Trakl, Heym, Stadler, Jakob van Hoddis und frühen Gottfried Benn – zu den bedeutendsten und folgenreichsten lyrischen Schöpfungen des Expressionismus. Denn zum ersten Mal in der deutschen Literatur wurde hier die ungeschminkte Realität des Alltags – theoretisch im Vorwort propagiert – in die Gedichte selbst hereingenommen.
In diesem Vorwort, wohl die früheste programmatische Äußerung zur expressionistischen Lyrik, fordert Blass vom Lyriker, die Gestaltung alltäglich-trivialer Erlebnisse und Phänomene im Gedicht nicht auszuschließen, verlangt er vom Lyriker „das Wissen um das Flache des Lebens, das Klebrige, das Alltägliche, das Stimmungslose, das Idiotische“:
Die Klänge des nahenden Lyrikers werden nicht ,rein‘ und ,aus der Tiefe‘ sein. Er wird nicht einfach ein potentseliges Urgeschöpf sein, sondern einer, der erkennt und zugibt, daß man manchmal recht ins Alltägliche hineingeklebt ist; der noch in der Erhebung weiß, daß man nicht immer erhoben ist.
Das waren ungeheuerliche Worte, geschrieben von einem knapp Zweiundzwanzigjährigen im Jahre 1912 – also zur Hoch-Zeit eines George, Rilke, Hofmannsthal und ihrer zahlreichen Adepten. Dieser pointiert-programmatische Text hatte Fanalwirkung und muß aus heutiger Sicht als Credo eines wesentlichen Teils der künstlerischen Bewegung des Expressionismus angesehen werden. Sein Verfasser wurde als Prophet einer neuen „Fortgeschrittenen Lyrik“ (wie es Alfred Kerr nannte) geradezu gefeiert.
Erstmals in der deutschen Literaturgeschichte wird in diesem Lyrikband eine moderne Weltstadt – es handelt sich ausschließlich um Berlin, dies ist Blass’ Kosmos – mit all ihren vielfältigen Erscheinungsformen „besungen“; erstmals tauchen ihre Essentialien und Requisiten – wie etwa flutender Verkehr, nächtliche Vorstadtstraßen und Parks, Cafés und Bars, Spießbürger und Kokotten, Laternen und Busse, Autos und Grammophone – als etwas ganz Selbstverständliches, Natürliches im Gedicht auf. Blass war der Erste, der die radikale Anerkennung der Großstadt als tatsächliche Grundlage moderner Existenz, sozusagen als zweite Natur des modernen Menschen im Gedicht vollzog.
Anders als in den Tagen des Naturalismus, wo die Großstadt wohl als lyrisches Sujet – wenn auch mit dämonisierender und sozialanklägerischer Tendenz – von Autoren wie Karl Henckell, Bruno Wille oder Julius Hart entdeckt worden war, bietet sie bei Ernst Blass Anlässe geradezu naturhaften Erlebens:
Eine Tendenz zum Aufschließen und direkten Aussagen des innerlich Erlebten ist diesen Gedichten zu eigen, die mit neuem Empfinden Bilder der Großstadt als Landschaften ihrer Seele gestalten
schrieb Blass später selbst einmal dazu.
Er nahm die Millionenstadt Berlin einfach so in sein Gedicht herein, wie sie war! Ohne dabei je in milieuverliebte Stimmungslyrik, in berlinerisch pointierte Rührseligkeit oder soziales Hinterhof-Engagement à la Lincke, Kollo oder Zille zu verfallen. Vor solchen Gefühlen weiß ihn sein nüchtern-skeptischer Intellekt zu bewahren.
Denn wenn auch die Großstadt bei Blass als etwas Natürlich-Selbstverständliches figuriert, so identifiziert er sich keineswegs mit all ihren Erscheinungen. Im Gegenteil: Er durchschaut den Mechanismus des modernen Großstadtlebens, sieht klar das Elend in der „Unwirtlichkeit der Städte“ und erkennt hinter dem vordergründig pulsierenden, hektischen Treiben die Einsamkeit und Isolation des modernen Großstadtmenschen: seine Lebensangst und Selbstentfremdung, das nervös-gehetzte Getriebensein und das verwirrende, von einer zum Selbstzweck gewordenen, zerstörerischen Zivilisation bestimmte Leben.
Im Grunde ist Berlin bei Blass nur Chiffre für das Leben in Deutschland schlechthin, zeugen seine Verse in Die Straßen komme ich entlang geweht letztlich vom totalen Sinnverlust des modernen Menschen, ja von der Begrenztheit und Verlorenheit, der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit aller menschlichen Existenz.
Wesentliches Stilmerkmal in diesem Gedichtband ist die häufige Verwendung von Fremd- und Lehnworten, von Slang und Berliner Jargon, von Zynismen und Ironismen sowie von verfremdenden Dissonanzen. Seine Hauptneuerung liegt in der „Dialektik von strenger Versform und Umgangssprache“, in der erregenden „Mixtur von Hoch-Stil und Platitüde“, wie Hans J. Fröhlich feststellte. In streng-konventionellem Form-Rahmen wird ungemein Gewagtes, Neues ausgesagt!
Weitere Charakteristika der Dichtung Ernst Blass’ sind: Fertigkeiten in der Lautmalerei und Wortsymbolik, bewußte Koordination von hellen und dunklen Vokalen und Umlauten, Alliteration, strenges Reimschema, fließende Enjambements, Binnenreime, eigenwillige Gedichtanfänge (z.B. Voranstellung des Pronomens, auftaktende Kopula), neuartige Substantivierungen, parataktische Reihung, Zusammenführung von heterogensten Begriffen. Und vor allem eine ausgeprägte Musikalität und Melodik, ein prägnanter Rhythmus. Denn trotz aller skeptizistisch-intellektuellen Grundeinstellung eines nervös-komplizierten Großstadt-Gemüts wohnt diesen Versen eine Melodie inne, wollte Blass nie auf das musikalische Wesen der Lyrik verzichten.
Ernst Blass ist einer der subtilsten Lyriker des Expressionismus, einer der bedeutendsten Autoren dieser Bewegung. Denn sein Boulevard-Timbre, das Neben- bzw. Ineinander von Ironie und Melancholie, von Zynismus und Weltschmerz, von Bizarr-Groteskem und Schlichtem, von Schnoddrigkeit und tiefer Trauer, diese Melange sucht ihresgleichen.
Im Gegensatz zu diesen so neuartigen „Versen voll Wirklichkeit, voll Intellekt, Erotik, Trauer, Frechheit, Labilität, und lauter Großstadtsachen“ (Kurt Hiller) spricht Ernst Blass in seinem zweiten Buch Die Gedichte von Trennung und Licht (1915) auf weite Strecken hin eine vollkommen andere Sprache, betont er mehr und mehr die idealistische Seite seines Wesens. Goethe, Hölderlin und vor allem Stefan George waren nun Vorbilder seiner Dichtung, in der er sich um Formstrenge und Feierlichkeit, Einfachheit und Zeitlosigkeit bemüht. „Verse von einer vibrierenden und schwermütigen Innigkeit, von einem schlichten und bezwingenden Sprachmelos“, wie ein zeitgenössischer Rezensent (H.J. Rehfisch) feststellte, entstanden so.
Die süddeutsche Landschaft – Bäume und Berge, Flüsse und Gärten werden zum Thema. Ernst Blass ergibt sich ganz der Einsamkeit, Stille, Wanderung sowie der Betrachtung der Natur: gekonnte traditionelle Stimmungslyrik. Diese Tendenz zu Wohlklang und Reinheit, zu gehoben-gleichmäßigem Rhythmus, zu gewählt-schönen Reimen und erhabener Stimmung verstärkt sich noch in den nächsten Lyrikbänden Die Gedichte von Sommer und Tod (1918) und Der offene Strom (1921), die fast klassisch anmutende Gedankenlyrik, melodiöse Gefühlslyrik und – im Band Der offene Strom – geradezu betörend-eingängige Liebeslyrik enthalten.
Diese Hinwendung zur großen lyrischen Tradition, bedingt auch durch Blass’ Flucht von Berlin nach Heidelberg und durch den Einfluß des dortigen George-Kreises, mit dem er persönlich freilich nicht in Berührung kam, wurde ihm in den Berliner Literatur-Zirkeln vielfach als Rückzug aus der Realität in die Innerlichkeit verübelt – jedoch auf der anderen Seite auch von manchen Autoren verstanden: „Blass sucht nicht einen Text und eine Melodie, sondern der Text ist die Melodie“, sagte Oskar Loerke 1918 in einer Rezension über Die Gedichte von Sommer und Tod – oder „Die Welt ist in diesen Versen Musik“, 1921 über Der offene Strom.
Übrigens ist diese Entwicklung – fort von den expressionistischen Anfängen – bei Ernst Blass keine singuläre Erscheinung, vielmehr läßt sie sich auch bei anderen Autoren der Zeit feststellen, wenngleich erst einige Jahre später. Denn um 1920 war der expressionistische Impetus erschöpft. So schrieben die ehemaligen Expressionisten Kasimir Edschmid und Armin T. Wegner in den Zwanziger Jahren Reiseberichte und Sachbücher bzw. Tatsachenromane, Franz Werfel erfolgreiche Unterhaltungsromane, Walter Hasenclever und Georg Kaiser Boulevard-Komödien, Johannes R. Becher und Franz Jung proletarisch-revolutionäre Agitationsliteratur, Hanns Johst und Arnolt Bronnen völkisch-nationalsozialistische Stücke; mancher Expressionist gar verstummte gänzlich (Wilhelm Klemm etwa).
Und Ernst Blass verlegte sich eben auf einen neuklassizistischen Ästhetizismus mit seiner leicht eingängigen, populär-liedhaften Lyrik. Mit dieser Wandlung zu klassisch-konservativen Formen nahm er allerdings gleichsam wiederum eine Entwicklung vorweg, wie sie mancher Expressionist im Alterswerk – etwa Benn oder Becher – vollzog.
Jedoch: Mitte der Zwanziger Jahre fand in Blass’ Lyrik eine nochmalige Wendung statt – hin zur „Neuen Sachlichkeit“, eine Art Rückbesinnung auf die expressionistischen Anfänge. In diesen wenigen (knapp zwanzig), nur in Zeitungen und Zeitschriften verstreut erschienenen Texten tauchen die früheren Motive des Großstadtlebens wieder auf: Straßengetümmel, Nachtlokaltreiben, aber auch Einsamkeit und Depressionen. Alte Freude am ironisch-frivolen Spiel mit dem Vers spricht aus einem Gedicht wie „An Baby!“, das ganz aus dem Gegensatz zwischen der strengen Versform des Hexameters und der Thematik eines Bargesprächs lebt.
IV
Der vorliegende erste Band der dreibändigen Ernst-Blass-Werkausgabe umfaßt das gesamte lyrische Schaffen, d.h. sämtliche von Blass verfaßte Gedichte – insgesamt 178 Texte. Im Einzelnen: die vier Gedichtbände Die Straßen komme ich entlang geweht (1912), Die Gedichte von Trennung und Licht (1915), Die Gedichte von Sommer und Tod (1918) und Der offene Strom (1921) mit insgesamt 140 Gedichten sowie eine kleinere Anzahl von insgesamt 34 verstreut in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien erschienenen Gedichten; darunter 12 Texte, die Blass nicht in die vier Lyrikbände aufnahm, sowie 22 seit dem letzten Gedichtband, also nach 1921 erschienene Texte. Und schließlich bietet vorliegende Edition erstmals vier bis dato unveröffentlichte, nur in Manuskript- bzw. Typoskript-Form vorliegende lyrische Texte von Ernst Blass.
Diese Ausgabe unterscheidet sich von der 1980 bei Hanser erschienenen, längst vergriffenen, die auch schon als Sämtliche Gedichte bezeichnet wurde, geringfügig: sie enthält fünf neu aufgefundene Blass-Gedichte, und zwar „Herbstlandschaft“ von 1910, das allererste von Blass publizierte Gedicht überhaupt, „Ermüdung“ (1924), „Der Flimmerfritze“ (1926), „Döblin“ (1928), sowie vier unveröffentlichte Poeme, vornehmlich mit Widmungscharakter. Und einige wenige – satzbedingte – Flüchtigkeiten bezüglich Zeilenfall, Satzzeichen und Strophen-Kennzeichnungen wurden behoben.
Die Gedichte von Blass werden hier exakt so wiedergegeben wie sie in den vier Bänden sowie in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien erstmals erschienen – es wurden keinerlei redaktionelle Eingriffe, Bearbeitungen vorgenommen, was z.B. Satzzeichen o.ä. betrifft. So wurde also die oft variierende Anzahl der Auslassungspunkte – von zweien über drei, wie’s ja normal ist, bis hin zu vieren – bewußt belassen, was mithin keine Druckfehler darstellt.
Ein Großteil der in den vier Gedichtbänden enthaltenen Texte war zuvor in Zeitschriften oder Anthologien erschienen. Blass hat die Gedichte vor Aufnahme in die Bücher mitunter geringfügig bearbeitet und redigiert, was z.B. Satzzeichen, einzelne Worte, Überschriften betrifft, oder auch in einigen Fällen zuvor einzeln erschienene Strophen zu größeren Blöcken kontaminiert. Da es sich bei vorliegender Edition um eine Leseausgabe und nicht um eine textkritische wissenschaftliche Edition (nicht nur in Ermangelung von Handschriften größtenteils) handelt, wurde auf den Abdruck der jeweiligen Varianten verzichtet – zumal sie ja oft nur marginaler Art sind und daher keinen interpretatorischen Erkenntnisgewinn vermitteln, auch wenn Angela Reinthal in ihrer wenig ergiebigen Blass-Dissertation das Gegenteil behauptet. Dafür bleibt sie allerdings ebenso den Beweis schuldig wie für ihre Hypothese, durch die Verwendung von george-typischen zwei Auslassungspunkten in Gedichten des Bandes Die Straßen komme ich entlang geweht deute sich bereits der George-Ton an – das aber ist in Blass’ expressionistischen Gedichten von 1912 nun absolut noch nicht der Fall!
Schließlich bleibt festzuhalten, daß die Gedichte in den Buch-Versionen doch mehr den Autoren-Willen – im Sinne einer Ausgabe letzter Hand – spiegeln als die vorherigen Einzelveröffentlichungen, da sie ja nun bewußt so von Blass in die Bände aufgenommen wurden.
Die vier Schluß-Verse aus „Chöre“, die aus dem Erstdruck in den Argonauten merkwürdigerweise nicht in den Band Die Gedichte von Sommer und Tod – ob bewußt oder versehentlich, läßt sich leider nicht feststellen – aufgenommen wurden, seien hier aufgeführt:
Und was von irdschen Taten
Sich immer nur erhob:
Zu folgen seinem Raten,
Ist Ehr und höchstes Lob.
Das lyrische Gesamtwerk von Ernst Blass beinhaltet auch einige weniger geglückte, eher klischeehafte Verse oder Gelegenheitsgedichte. Dennoch haben wir sie – der Vollständigkeit halber – nicht ausgelassen, um das Œuvre eines der wichtigsten Lyriker des Expressionismus in all seinen Facetten zu dokumentieren.
V
Zum Abschluß dieses Nachworts sei noch eine persönliche Bemerkung des Herausgebers und Verlegers dieser Werkausgabe gestattet: In den Siebziger und Achtziger Jahren habe ich mich intensiv mit Ernst Blass befaßt und ausführliche Recherchen zu seinem Leben und Werk – in Europa und Israel – unternommen. So konnte ich noch viele Personen, mit denen Blass verwandt, befreundet oder bekannt war, kontaktieren und persönlich oder brieflich zu ihm befragen – beispielsweise Ernst Bloch, Ludwig Kunz und Hilde Fels, seine zweitjüngste Schwester Edith Glaser, seinen Schwager Lutz Wolff, Witwen bzw. Angehörige seiner besten Freunde Walter Feilchenfeldt, Hans Schönlank, F.H. Staerk, Mitglieder des Neuen Clubs, vor allem Kurt Hiller, Kollegen von der Dresdner Bank sowie aus Presse und Literatur, die Besitzerin des Davoser Augensanatoriums, um nur diese anzuführen. Von ihnen allen erhielt ich hochinteressante Informationen über Ernst Blass sowie eine Fülle von Dokumenten, wie Fotos, Briefe oder Manuskripte. Diesen Fundus konnte ich durch vielfältiges Material aus Archiven und Bibliotheken (z.B. zu seiner Schulzeit in Berlin oder dem Studium in Freiburg/Br. und Heidelberg) ergänzen und auch alles Gedruckte, d.h. alle Texte von und über Blass, erfassen.
So gelang es mir, seine – vielfach verwehten – Spuren zu sichern und sein Leben und Schaffen zu rekonstruieren. Die von mir zusammengetragenen Unterlagen bildeten die Grundlage für mancherlei Artikel und Aufsätze in Lexika, Sammelbänden, Zeitungen oder Zeitschriften (z.B. Killy Literatur-Lexikon, Asphaltliteratur, NZZ), in denen ich auf Blass hinwies, sowie für die zwei von mir besorgten Editionen 1975 bei Patio (Handpressendruck des ersten Gedichtbandes) und 1980 bei Hanser (Lyrik-Gesamtausgabe). Die avisierte umfassende Ernst-Blass-Monographie habe ich aus persönlich-familiären Gründen noch nicht gänzlich abgeschlossen. Dafür aber liegt jetzt endlich die seit Längerem vorgesehene Ernst-Blass-Werkausgabe in drei Bänden vor, der noch eine Fortsetzung mit einem Brief-Band, einem Dokumenten- und Biographie-Band sowie einem Auswahl-Band der Tanz- und Film-Kritiken von Blass folgen wird.
Damit dürften die Voraussetzungen für eine solide Rezeption von Ernst Blass in Kultur und Wissenschaft nunmehr gegeben sein. Solchen Ansprüchen genügt die bislang einzige größere Arbeit zu Blass, die Heidelberger Dissertation von Angela Reinthal (Oldenburg 2000), keineswegs. Denn sie ist eine reine Fleißarbeit, die vielfach auf meinen Vorarbeiten basiert und zu mehr als einem Drittel lediglich aus enggedruckten Blass-Zitaten besteht. Manche Seiten enthalten gerade mal fünf Zeilen der Verfasserin und sonst nur Zitate, was weit über das erlaubte Maß wissenschaftlichen Zitierens hinaus geht. Insgesamt bietet Reinthals Blass-Arbeit keine neuen Aspekte zu seinem Leben und Werk, sie ist kaum inspirierend und nützlich, vielmehr unübersichtlich, fehler- und lückenhaft – besonders im umfangreichen bibliographischen Part. Nur wenige Beispiele: Diverse Texte von und über Blass hat Reinthal nicht eruiert, so z.B. die aufschlußreiche Rezension zu Blass, Brod und Kafka von Kurt Tucholsky im Prager Tageblatt 1913, so den Nachdruck von „Der paradiesische Augenblick“ 1979 oder etliche Blass-Texte in Anthologien, besonders nach 1945. Sogar Blass’ allererste Veröffentlichungen – die Rezension zu Jakob Wassermanns Die Masken Erwin Reiners und das Gedicht „Herbstlandschaft“ schon 1910 in der Zeitschrift Das Blaubuch – sind ihr entgangen. Auch die Kategorisierungen der Bibliographie in Abschnitte wie „Buchbesprechungen“ und „Andere Prosa“ verwirren, da in letzterer Rubrik Erzählungen, Theaterkritiken, literarische Glossen und Aufsätze, Künstler- und Schauspieler-Portraits und gar Sammel-Rezensionen bunt gemischt verzeichnet sind.
Da vorliegende Werkausgabe eine Leseausgabe und keine textkritische Edition ist, wurde bewußt auf Quellennachweise der Zitate in den Nachworten verzichtet, um diese nicht mit Anmerkungen und Fußnoten zu überfrachten. Alles unveröffentlichte Material – sowohl die Dokumente und Briefe, aus denen in den Nachworten zitiert wird, als auch die unpublizierten Texte wie „Pissarro“ oder die vier Gedichte – befindet sich im Archiv Memoria des Herausgebers und Verlegers, nebst diversen anderen Nachlässen oder Nachlass-Teilen von während des Nationalsozialismus verfolgten Autoren und Autorinnen.
Thomas B. Schumann, Nachwort, November 2008
war einer der bedeutendsten Autoren des Expressionismus, „eine Art deutscher Verlaine“ (Kurt Hiller). Mit seinem ersten Gedichtband Die Strassen komme ich entlang geweht von 1912 hat er eine kritisch-intellektuelle, weltstädtische Poesie, eine „Fortgeschrittene Lyrik“ (Alfred Kerr), kreiert. Sie gestaltet ein neues Motiv: die moderne Großstadt – zumeist Berlin – mit all ihren Alltagsrealitäten wie hektischem Verkehr, nächtlichen Strassen und Parks, Bars und Cafés, Angst und Einsamkeit. Und ein neuer Ton kommt auf: eine Melange aus Ironie und Melancholie, Zynismus und Weltschmerz, Groteske und Heiterkeit. Der u.a. durch die Dialektik von strenger Versform und Umgangssprache meist Berliner Prägung so neuartige Gedichtband wurde von den expressionistischen Weggefährten wie auch arrivierten älteren Autoren, so Heinrich Mann, Alfred Kerr, Ernst Stadler oder Kurt Tucholsky, begeistert aufgenommen. Blass’ weitere Bände Die Gedichte von Trennung und Licht (1915), Die Gedichte von Sommer und Tod (1918) und Der offene Strom (1921) huldigen dann mehr einem neuklassizistischen Ästhetizismus meist Georgescher Prägung. In den Zwanziger Jahren vollzog Blass in diversen nur verstreut erschienenen Gedichten nochmals eine Stilwendung – hin zur „Neuen Sachlichkeit“.
Obwohl Blass mit seinem frühen Boulevard-Timbre für eine nachfolgende Lyrikergeneration vom jungen Brecht und Mehring bis zu Erich Kästner und Mascha Kaléko wegweisend wurde, geriet er mehr und mehr in Vergessenheit – schon zu Lebzeiten infolge seiner tragischen Bohème-Existenz mit Geldnöten, Erblindung, Ehescheidung, erst recht nach 1933 und über die zwölfjährige Herrschaft des Nationalsozialismus hinaus. Zwar haben nach 1945 immer mal wieder renommierte Autoren wie Peter Härtling, Peter Rühmkorf, Günter Kunert auf Blass hingewiesen, aber selbst die 1980 bei Hanser erschienene Lyrik-Edition bewirkte keine umfassende Wiederentdeckung. Jetzt aber liegt hiermit endlich die seit Langem erwartete Ernst-Blass-Werkausgabe vor. Sie versammelt in drei Bänden sämtliche Gedichte und erstmals sämtliche Erzählungen sowie ausgewählte Feuilletons und literarische Essays von Blass, darunter auch Unveröffentlichtes. Sie ermöglicht einen faszinierenden Einblick in das vielseitige Gesamtschaffen von Ernst Blass, der ja auch ein anregender Erzähler und kenntnisreicher Essayist mit Gespür für zeitüberdauernde, heute noch gültige Autoren war. Die Werkausgabe wurde von dem Verleger und Publizisten Thomas B. Schumann, der in jahrelangen Recherchen alles erreichbare Material von und über Blass zusammengetragen hat, kompetent und sorgfältig ediert.
Klappentext, Edition Memoria, 2008
– Dichter mit Hut: Ernst Blass zählte zu den wichtigen Figuren des deutschen Expressionismus – doch geriet in der Nachkriegszeit in Vergessenheit. Jetzt ruft eine Werkausgabe den Dichter endlich in Erinnerung. –
Damals, vor dem Ersten Weltkrieg, als der Expressionismus dem Bürger den Hut vom spitzen Kopf blies, trugen auch die Dichter noch Hüte, und sie mischten sich unter die Flaneure, die aus den mondänen Cafés in die Großstadtnacht hinaustraten. Für diese Stimmung fand ein Zweiundzwanzigjähriger den lyrischen Ton:
So seltsam bin ich, der die Nacht durchgeht,
Den schwarzen Hut auf meinem Dichterhaupt.
Die Straßen komme ich entlang geweht.
Mit weichem Glücke bin ich ganz belaubt.
Das war anno 1912, aber der Charme dieses Flaneurs berührt uns noch heute. Zumal wenn er sein Sonett mit der Verlockung schließt:
Ich bin so sanft, mit meinen blauen Augen.
Ernst Blass – so hieß der Poet – hatte hier ein Selbstbild gegeben. Der sanfte Dichter soll ein schönes Kind gewesen sein, „mit großen blauen Augen und langen blonden Locken“, wie ihn eine seiner Schwestern schilderte, „aber auch recht nervös, blaß und anfällig“. Blass entstammte einer jüdischen Kaufmannsfamilie Berlins, studierte die Rechte und promovierte sogar. Aber sein Herz hing an der Poesie, an Heine und Verlaine. Einen deutschen Verlaine nannte ihn daher sein Entdecker und Förderer Kurt Hiller. Ernst Blass – so Hiller – hat „das Hirn, den Mut und die Magie“.
Herausgeber der Argonauten
Gleich mit seinem Erstling Die Straßen komme ich entlang geweht wurde Blass zu einer Zentralfigur der expressionistischen Bewegung. Mit fast allen damaligen Größen war er bekannt, und in seiner Zeitschrift Die Argonauten publizierte er Autoren wie Benjamin, Borchardt, Musil und Sternheim. Das schien wie der Auftakt zu einer großen Karriere. Doch des Dichters Gesundheit war seit seinen Bohèmetagen angegriffen, und seine finanziellen Probleme nötigten ihn 1915, bei einer Berliner Bank unterzuschlüpfen. Ausgerechnet Hjalmar Schacht, der nachmalige NS-Wirtschaftsminister, war sein Vorgesetzter. Nach fünf Jahren gab Blass den ihm verhassten Posten auf und begann wieder als Journalist zu arbeiten, als Tanz- und Filmkritiker und als Lektor bei Paul Cassirer. Doch waren die frühen zwanziger Jahre seine beste Zeit, auch wenn er als Lyriker den Erfolg seines Erstlings nicht wiederholen konnte.
Dann aber verließen ihn Glück und Gesundheit. Ein Augenleiden führte zu fortschreitender Erblindung. Für seine literarische Arbeit, ja für die bloße Bewältigung des Alltags war Blass zunehmend auf andere Menschen angewiesen. Seine Ehe scheiterte, die finanziellen Sorgen wuchsen, und nach der Machtergreifung blieb ihm einzig die Jüdische Rundschau als Publikationsorgan. Als letztes Buch erschien 1938 eine Übersetzung von Lord Byrons Kain. Krank und pflegebedürftig verbrachte Blass die letzten Lebensmonate und starb am 23. Januar 1939 im Jüdischen Krankenhaus. Das bewahrte ihn vor dem Schicksal seiner jüngeren Schwester, die ins KZ deportiert wurde. Keine deutsche Zeitung durfte seinen Tod melden. Sein Grabstein auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee ist nicht mehr aufzufinden.
Da unten rollen meine Autobusse!
Lange verschollen blieb auch das Werk von Ernst Blass. Zwar hielten sich einige seiner Gedichte in den Anthologien, aber erst 1980 erschien eine Gesamtausgabe seiner Lyrik. Ihre Resonanz blieb bescheiden. Doch ihr Herausgeber Thomas B. Schumann gab nicht auf. In seiner Edition Memoria legt er jetzt in drei Bänden das gesamte Œuvre des Autors vor. Zu den sämtlichen Gedichten treten die Erzählungen und Feuilletons sowie die literarischen Aufsätze; darunter viel Verschollenes oder Nachgelassenes. Vielleicht kann diese Gesamtausgabe die fast vergessene Figur des Dichters in unserem Bewusstsein befestigen.
Ohne Zweifel ist es die frühe Lyrik, deren Charme noch immer zu bezaubern vermag. In ihr hat Blass den Lynkeusblick auf die große Stadt: „Da unten rollen meine Autobusse!“ Auch in den 1915 erschienenen Gedichten von Trennung und Licht finden sich schöne, stimmungsvolle Verse, so die wunderbare „Süddeutsche Nacht“:
Vorgärtennacht! Mit Sträuchern an den Straßen,
Wo Bäume neben Gaslaternen stehn.
Später versuchte Blass, seine Stimmungskunst in die Formstrenge des Klassizismus zu überführen. Er orientierte sich an Rilke und George. 1918, zu Georges fünfzigstem Geburtstag, feierte er ihn als einen „Leitstern auf der namenlosen Reise“. Doch solche Nachfolge bekam seiner Lyrik nicht. In den Gedichten von Sommer und Tod (1918) und in Der offene Strom (1921) blieb vieles unsinnlich und epigonal. Danach gab es keinen weiteren Lyrikband mehr. Das ist schade, denn in einigen Gedichten der zwanziger Jahre traf Blass den lockeren Ton der Neuen Sachlichkeit. Manches hat den Pfiff Erich Kästners. So „Bahnhof“ von 1929:
Der Wartesaal! Beim Klang der Kaffeetassen
Verließen wir und wurden wir verlassen.
Doch schon in „Trübsinn 1931“ kommt zur Tristesse der Zeit die persönliche Not hinzu:
Die Dame Tod – die Dame Leben.
Ich sitze noch allein am Tisch.
Der Kaffee, den ich trank soeben,
Ist problematisches Gemisch.
Das Jetzt und Heute der Menschheit
Trotz allem hatte Blass noch Pläne. Er hoffte auf Romane, in denen er „das Jetzt und Heute des Menschen“ aussprechen wollte:
Das Ziel heißt wieder Dostojewski.
Aus den hochfliegenden Plänen wurde nichts; es blieb bei Anläufen und Fragmenten. Anrührend ist der autobiographische Text „Ein Höllensturz“, der die Hilflosigkeit und Entwürdigung eines Erblindeten schildert. Er blieb zu Lebzeiten von Blass unveröffentlicht. Seine Krankheit und die Zeitumstände standen dem Dichter immer hinderlicher entgegen.
Im Nachlass fand sich ein Manuskript über den Impressionisten Pissarro. Daran hatte Blass in seinen letzten Monaten und sogar noch im Krankenhaus gearbeitet. „Pissarro hat in seinen kleinen und harten Themen die bleibende Realität aufgezeigt“, heißt es da. Diesem Ideal ist Ernst Blass in seinen besten Gedichten nahe gekommen.
wollten sie alle, die jungen Lyriker und Propagandisten des Expressionismus. Doch der zuversichtlich fortschreitenden Zivilisation setzten sie Gedichte voller Skepsis, Angst und Verzweiflung entgegen.
Dieses Buch sei eines der wenigen, das nach George und Rilke „einen Fortschritt ermöglicht“, meinte einer der begeisterten Kritiker, die das im Jahr 1912 erschienene Lyrik Bändchen Die Straßen komme ich entlang geweht von Ernst Blass mit einigem Erfolg bekannt zu machen versuchten. Zukunftsweisend für das Jahrzehnt waren die heute fast völlig vergessenen Texte des damals Zwanzigjährigen in der Tat. Nicht nur das Gedicht „Der Nervenschwache“ bot ein gelungenes Beispiel für jene „Fortgeschrittene Lyrik der großen Städte“, von der Alfred Kerr seinerzeit sprach und die er förderte.
Ernst Blass berief sich ausdrücklich auf den von der Berliner Avantgarde hochgeachteten Kritiker und erläuterte in den „Vor-Worten“ zu seinem Gedichtband, was für die Lyrik „Fortschritt“ heißen könnte:
das Wissen um das Flache des Lebens, das Klebrige, das Alltägliche, das Stimmungsvolle, das Idiotische, die Schmach, die Miesheit.
Der moderne Lyriker schäme sich nicht seiner träumerischen Stimmungen.
Doch seine Träume werden anders aussehen als die weniger Kultivierter, nämlich: gehetzter, weltstädtischer, mit dem lebhaften Willen zur Kritik.
Was kritsiert der „fortgeschrittene“ intellektuelle Großstadtlyriker, dieser „Darsteller des Alltags“ mit dem „ehrlichen Willen zur Klärung diesseitiger Dinge“? Nicht zuletzt den Fortschritt. Über die psychischen Lasten einer rapide modernisierten Lebenswelt spricht die Großstadtlyrik des Expressionismus immer wieder. „Ich bin in eine fremde Stadt verschlagen“, beginnt eines der Gedichte von Ernst Blass, in denen sich über spezifisch jüdische Erfahrungen hinaus die Verlorenheit und Angst des lyrischen Ichs in einer veränderten Welt mitteilen. Der wie vom Teufel besessene und mit angstzerfressener Stirn durch die Großstadtstraßen laufende Mensch in den hier wiedergegebenen Versen hat nicht nur schwache Nerven, es fehlt ihm auch sonst an Kraft und Vitalität, er sieht sich fremdbestimmt, verfolgt, beziehungslos. Er ist, ins Groteske verrückt, der feinnervige, kränkliche, „moderne“ Typus, dessen Pathologie uns die Literatur seit der Jahrhundertwende in vielfältigen Varianten vor Augen geführt hat.
„Modern“ ist das Gedicht auch darin, daß Mond und Sterne in ihm keine romantischen Gefühlsalternativen mehr bieten können. Der Mond wie „Schleim“ und die Sterne wie zuckende „Embryos“ – das ist wie Blasphemie gegenüber der Erbaulichkeit naturlyrischer Traditionen. Sie kommen für den „fortgeschrittenen Lyriker“ nicht mehr in Frage. Seinen literarischen Phantasien verbietet er die rückschrittliche Flucht in die Natur, aufs Land oder in eine unbeschädigte Vergangenheit.
Die literarische Moderne weicht den realgeschichtlichen Prozessen der Modernisierung und Zivilisierung nicht mehr aus, sondern nimmt sie konsequent in sich auf. Sie steht jedoch von Beginn an in unauflösbarer Spannung zu ihnen. Was Literatur- und was Sozialhistoriker gewöhnlich unter „Moderne“ verstehen, ist nicht das gleiche. Die eine „Moderne“ zieht vielmehr die andere gründlich in Zweifel.
Wer heute in dem berechtigten Unbehagen gegenüber allem, was sich als modern und fortschrittlich anpreist, seine ästhetischen Einstellungen an prä- oder postmodernen Positionen orientieren möchte, mag zuvor das zivilisations- und fortschrittskritische Potential bedenken, das für die literarische und künstlerische Moderne schon immer charakteristisch war. Das Beispiel Ernst Blass kann dabei lehrreich sein. Bald nach seinem ersten Gedichtband, der heute noch so lesenswert ist wie vor siebzig Jahren, rückte er von der Moderne ab und zu neuklassischen Vorbildern hin. Dieser Schritt führte Blass schon gut zwei Jahrzehnte vor seinem Tod im Sommer 1939 in die literaturgeschichtliche Bedeutungslosigkeit.
Wer die expressionistische Gedichtesammlung Menschheitsdämmerung von Kurt Pinthus kennt, der wird dort den Namen Ernst Blass leider vergebens suchen.
Auch wenn dort viele großartige Expressionisten berücksichtigt wurden, fehlt dieser leider zu Unrecht in Vergessenheit geratene Dichter dort gänzlich.
Nunmehr hat Thomas B. Schumann sämtliche Gedichte des 1890 geborenen und schon 1939 verstorbenen Ernst Blass in einem würdevollen Band versammelt und sehr ansprechend editiert. Aufgegliedert in die vier erschienenen Gedichtbände, die verstreut und die nicht veröffentlichten Gedichte umrahmt der Herausgeber als ausgesprochener Kenner Blass’ Lyrik mit einem ansprechenden Autorenbild und einem fulminant ausführlichen erklärenden Nachwort.
Die Texte auf den Klappeinbänden informieren sowohl über Ernst Blass’ Leben als auch dessen Wirkung.
Die Werkausgabe selbst besticht durch einen übersichtlichen und starken Druck, angemessen festes Druckpapier sowie einen praktischen Klappeinband.
Das alphabetisch geordnete Verzeichnis der Gedichtetitel oder -anfänge hilft dabei, die entsprechenden Verse rasch zu finden.
Was bezaubert nun an Ernst Blass’ Schreiben? Es ist seine hohe Authentizität, seine Sprachakrobatik, sein Jonglieren mit den Reimen und sein scharfsinniger Humor gepaart mit einer gestochen klaren Beobachtungsgabe. Er führt hinein in die offensichtlichen und verborgenen Winkel und Plätze der Großstadt – zumeist Berlin – und versteht es, die Worte präzis zu wählen und treffend zu setzen.
Dabei entsteht immer wieder ein besonderer Klang der Versmelodien.
So heißt es in seinem frühen Gedicht „Vormittag“:
Im Schatten setzt du dich auf eine Bank;
Die ist schon morsch; – auch du bist etwas krank –
Du tastest heiter, daß ihr nicht ein Bein birst.
Und fühlst auf deinem Herzen deine Uhr,
Und träumst von einer schimmernden Figur
Und dieses auch: daß du einst nicht mehr sein wirst.
In dieser Mischung und Durchdringung von Lebensintensität und Todesgewißheit, von Einsamkeit und Nähesuchen, von Krankheit und Genuss, von Landschaftserfahrung und städtebaulicher Faszination bewegen sich diese allesamt gereimten Gedichte.
Sie alle fordern einen heraus, machen sprachlos und nachdenklich. Ernst Blass mutet einem etwas zu, so wie ihm das Schicksal mit Epilepsie, Erblindung, Krankheit und Verarmung auch einiges zugemutet hat.
Wer zudem noch einen grandios poetisch weiten Sprach- und Wortschatz geniessen möchte, der kommt um Ernst Blass nicht herum.
Eine ungemein anerkennenswerte Arbeit hat hier der Herausgeber Thomas B. Schumann vollbracht. Und so ist diesem Band eine Menge an Lesern/-innen zu wünschen, wenn die Gedichte „entlang geweht“ kommen!
Diese Rezension bezieht sich auf eine spätere Ausgabe
– Vergessene deutsche Dichter. –
Von Gerrit Engelke gab es noch ein genaues Lebensbild und Gedichte in Anthologien, von August Stramm ein paar Erinnerungen an sein Leben, von Jakob Haringer zumindest Bruchstücke seines irdischen Lebenslaufes, von Ernst Blaß aber, dem Dichter, dem wir uns heute nach diesen drei genannten in unserer Porträtreihe zuwenden, von Ernst Blaß konnten wir noch nicht einmal mehr ein Photo auftreiben, damit unser Zeichner ihn für unsere Leser porträtierte. Der Mann, der noch keine 20 Jahre tot ist, ist völlig vergessen. Seine Spuren – denen Karl Ludwig Schneider, der Autor dieses Porträts nachgegangen ist – sind nicht mehr so ausgeprägt, daß wir das ganze Leben des Dichters daraus rekonstruieren können. So muß dies Porträt notwendigerweise ein Fragment bleiben.
Wer heute mit der Dichtung von Ernst Blaß näher bekannt werden möchte, dem bleibt wohl nur der Weg, geduldig und wachsam alle Antiquariatsangebote zu studieren. Nach langem – möglicherweise jahrelangem Suchen mag ihm dann der Zufall den einen oder anderen der vier schmalen Gedichtbände zuspielen, die Blaß zwischen 1912 und 1921 veröffentlicht hat. Nicht sehr viel besser steht es mit den Möglichkeiten, Näheres über die Persönlichkeit des Dichters in Erfahrung zu bringen. Obwohl Blaß in seinen Anfängen der expressionistischen Bewegung zugehörte und später in Heidelberg die Zeitschrift Die Argonauten herausgab, entfallen auf ihn selbst in den gründlicheren Gesamtdarstellungen des Expressionismus nicht mehr als ein paar nichtssagende Worte. Man muß zu alten Literaturkalendern und allgemeinen Nachschlagewerken greifen, um auch nur die wichtigsten Lebensdaten dieses gründlich Vergessenen zu ermitteln. So findet man denn endlich im Wer ist’s der zwanziger Jahre folgende Angaben:
Ernst Blaß. Dr. jur. Geboren 17.10.1890 in Berlin. Vater Fabrikant. Verheiratet mit Irma Hirschberg. Wilhelm-Gymnasium Berlin. Universitäten Berlin, Freiburg Br., Heidelberg. 1915 promoviert. 1915–1920 Dresdner Bank in Berlin. 1921–1923 Tanzkritiker beim Berliner Börsen Courier. 1924 Mitarbeiter Berliner Tageblatt (Filmkritik und Feuilleton). Ab 1924 Lektor des Verlags Paul Cassirer.
Und dies waren seine Veröffentlichungen:
Die Straßen komme ich entlang geweht. Gedichte. Heidelberg 1912; Die Gedichte von Trennung und Licht. Leipzig 1915; Gedichte von Sommer und Tod. Leipzig 1918; Der offene Strom. Gedichte. Heidelberg 1921; Über den Stil Stefan Georges. Heidelberg 1920; Das Wesen der neuen Tanzkunst. Weimar 1921; Essay über Paul Ernst in: Weltliteratur der Gegenwart. Herausgegeben von Ludwig Marcuse. Leipzig, Wien, Bern 1924.
Diese karge Datenaufreihung ist heute nur um wenige verbürgte und tragische Angaben zu ergänzen: Ernst Blaß erblindete vollständig und starb 1938 an Tuberkulose. Die einzige selbständige Publikation, die er noch veröffentlichen konnte, erschien 1938 in Berlin beim jüdischen Buchverlag (Bücherei des Schocken Verlages). Es handelte sich um eine Übersetzung von Byrons Kain.
Von den Lyriksammlungen des Ernst Blaß hat sein Erstling, Die Straßen komme ich entlang geweht, die stärkste Beachtung gefunden. Dieses 1912 erschienene Bändchen hatte ohne Zweifel neben den ersten Veröffentlichungen Heyms und Benns bedeutsamen Anteil an der Entfaltung der expressionistischen Lyrik. Hier ist unter unverkennbarer geistiger Einwirkung des Freundes Kurt Hiller der Großstädter und seine nervöse Erlebnisart rigoros in den Mittelpunkt gestellt worden:
Mit einer Stirn, die Traum und Angst zerfraßen,
Mit einem Körper, der verzweifelt hängt
An einem Seile, das ein Teufel schwenkt, –
So läuft er durch die langen Großstadtstraßen.
In dem etwas krausen Vorwort seines Bändchens verkündete der 21jährige Dichter programmatisch:
Die Klänge des nahenden Lyrikers werden nicht ‚rein‘ und ‚aus der Tiefe‘ sein. Er wird nicht einfach ein potentseliges Urgeschöpf sein, sondern einer, der erkennt und zugibt, daß man manchmal recht ins Alltägliche hineingeklebt ist; der noch in der Erhebung weiß, daß man nicht immer erhoben ist. So ist es. Und es wird eine Erhebung für ihn sein, dies zuzugeben.
Über die Anerkennung des Alltäglichen aber ging Blaß gleich hinaus zu bewußt gesuchter Trivialität des Ausdrucks und zu ironischem Spiel mit den Requisiten der traditionellen Lyrik:
… Der Mond liegt wie ein Schleim
Auf ungeheuer nachtendem Velours.
Die Sterne zucken zart wie Embryos
An einer unsichtbaren Nabelschnur.
Es mag sein, daß dem mit „geflügelten Grüßen an diesen Menschen der nächsten Zeit“ herausgegebenen Bändchen kein allzu großer dichterischer Wert beizumessen ist. Um so größer aber ist seine bisher noch nicht gebührend gewürdigte dichtungsgeschichtliche Bedeutung. Umgekehrt steht es mit den späteren Lyrikbänden von Blaß. Sie sind künstlerisch den frühen, hingewagten Versen wohl überlegen – aber sie stehen abseits der wesentlichen literarischen Entwicklungen. Überraschend nämlich wandte sich Blaß nach seinem avantgardistischen Anfang wieder formstrenger und sogar feierliche Dichtungen zu. In Gedichte von Sommer und Tod (1918) sind folgende Verse zu finden:
Im Himmel und auf Erden
Ist eine Allgewalt,
Der Hirte aller Herden,
Er bleibt ein starker Halt,
Die Sonne, die auf allen
Viel Seiten uns bescheint,
Und die in ihrem Wallen
So scheidet wie vereint.
Die Fliehe auf dem Grunde
Sind ihm anheimgestellt,
Der Wolken große Runde
Steht an dem Himmelszelt,
Die Flüsse in den Ländern,
Sie nehmen ihren Lauf,
Und nichts mag sich verändern,
Er sähe denn darauf.
Solche in ihrer Schlichtheit einprägsamen Verse sind keine Seltenheit in den späteren Gedichtbänden von Blaß. Sollte aber seine Wiederentdeckung je kommen, so wird sie gewiß von dem überlegen-ironischen Dichter des Großstadtlebens ausgehen müssen.
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