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für klaus wagenbach
daß er wie stets
fünf jahre ihm voraus sei
und daß für ihn
die fünf bis 55
bislang die peinigendsten
gewesen seien
und noch an kein
ende der peinigung
zu denken sei.
daß er ihm dies
zu seinem fünfzigsten
auftische, ganz ohne
zucker, habe mit ihm
nicht mit ihm zu tun
also mit beiden und
mit beiden nicht.
entspreche so
dem zwischen ihnen
geübten gleichgewicht.
Dieses kleine Buch ist die Erfüllung eines Traums, der (bereits) fast zwei Jahrzehnte alt ist: So lange schon wollte ich eine Anthologie der mir liebsten Gedichte von Ernst Jandl veröffentlichen, aber immer kam irgendetwas dazwischen. Am Anfang gab es von verschiedenen Seiten Bedenken gegenüber einer solchen Blütenlese, dann wurde der lizenzgebende Verlag (wieder einmal) verkauft, aber schließlich, erst längere Zeit nach dem Tod Ernst Jandls, kam die ersehnte Genehmigung, so daß ich mich an die Arbeit machen konnte, die nun unversehens zu einer Auswahl aus dem Gesamtwerk geworden ist – vom ersten Band Andere Augen über Laut und Luise oder sprechblasen bis zu den Letzten Gedichten.
Meine erste Begegnung mit Ernst Jandl (die dann auch zu einer freundschaftlichen Autor-Verleger-Beziehung wurde) habe ich einmal in einer Anthologie zu Ehren seines 65. Geburtstags (1990) beschrieben:
Im November 1967 veranstaltete Horst Bingel ein Schriftstellertreffen in Frankfurt, das sowohl der Literatur als auch der Revolution dienen sollte, aber eigentlich doch mehr der Revolution, jedenfalls der Revolutionierung des Alltags, und so fand dieses Schriftstellertreffen an mehreren Orten zugleich statt, nacheinander zwar, aber doch förmlich gleichzeitig, jedenfalls habe ich in Erinnerung, daß wir am selben Tag morgens im Saal diskutierten, nachmittags im Rohbau der entstehenden Untergrundbahn an der Hauptwache von den Schriftstellern signierte Holzhocker zugunsten von Vietnam versteigert wurden und am Abend eine Autorenlesung in einer Fabrikhalle der Firma Messer Griesheim, vor einigen hundert Arbeitern, stattfand, auf Einladung der Gewerkschaft.
Die Schriftsteller zogen – ich schwöre: es ist die Wahrheit! – unter Absingung der Internationale in die Halle, lautstark aber textschwach, was die Arbeiter nicht besonders lustig fanden, die Gewerkschafter schon gar nicht. Zuerst sprach – jede Klasse hat halt ihren Primus, der vor sie hintritt – ein Mitglied des Betriebsrats, dann lasen die Autoren. Ich erinnere mich nur noch an zwei, und zwar deswegen, weil es im Anschluß an die Lesung eine Diskussion gab, an der sich wiederum nur der Betriebsrat beteiligte, der den parteilichen und verständlichen Romanausschnitt von „Herrn Zwerenz“ lobte, gegenüber den „sogenannten Gedichten von Herrn Jodl“ aber sein Unverständnis erklärte.
Gerhard Zwerenz hatte einen seiner ungeheuer langweiligen, aber krachend gutgemeinten Texte vorgelesen, während Ernst Jandl sichtlich angestrengt, aber mit steinerner Miene seine Poesien in den Saal geschmettert hatte und sich über das regelmäßige Gelächter ebenso wunderte, wie es die Zuhörer hinterher genierte. Über Kunst und andere ernste Angelegenheiten lacht man nicht: atombo, lechts und rinks, schtzngrmmm.
Nach der Lesung fragte ich Ernst Jandl, was er von einer Schallplatte seiner Gedichte halte, und er versprach, seinen Verlag zu fragen, was der davon halte. Zu meinem Glück hielt der Verlag nichts davon; und ich mußte eine Schallplattenabteilung einrichten, für die ich allerdings nicht einmal über Grundkenntnisse verfügte. So erschien Laut und Luise als Quartplatte und wurde ein Erfolg – 1968! –, als alle Zeichen auf Zwerenz standen. Wir haben natürlich nach den Gründen für diesen Erfolg geforscht. das Ergebnis aber zuerst geheimgehalten und dann nur dosiert an den Autor weitergegeben, weil es ihm offensichtlich nicht gefiel: die Platte war ein Hit unter Kindern (an der Spitze: die tassen). Da aber in der Folge die Kinder andere Kinder anstifteten, ihre Eltern zum Kauf der Platte anzustiften, verbreitete sich die Platte auch unter Erwachsenen, so daß wir langsam mit den Dosierungen gegenüber dem Autor aufhören und die Sprachregelung einführen konnten: „Die Platte hat Erfolg bei Kindern und Erwachsenen.“
Der Autor, der bürgerliche Verkehrsformen schätzt, hat mir das offenbar nicht vergessen. Denn Jahre später, in den Zeiten, in denen die deutsche Polizei gegenüber dem Verlag vollends die bürgerlichen Verkehrsformen fahren ließ und seine vier Räume mit einem Dutzend Polizisten dergestalt besetzte, daß der Verkehr innen wie außen zusammenbrach (was wohl auch der Zweck dieser seltsamen Geländeübung war), da also, nach Abzug der Polizei und der Wiederherstellung der telefonischen Kommunikation, rief Ernst Jandl an, aus Wien, räusperte sich und fragte sehr förmlich: „Herr Doktor, ich höre, bei Ihnen war die Polizei“. Ich bejahte, ebenfalls ganz förmlich, und er fuhr fort, nur um eine Winzigkeit weniger förmlich: „Das tut mir aber leid“.
Wer sich erinnert, wie es um die Verkehrsformen in den mittleren siebziger Jahren bestellt war, wird nachfühlen können, wie sehr mich seinerzeit dieser Anruf Jandls getröstet hat.
Dies zur damaligen wie heutigen sentimentalen Verfassung des Anthologisten.
Meine literarische Bewunderung für Jandl war freilich gleich stark, es war die Bewunderung für eine höchst unikale Mischung von linearer Struktur und anarchischem Inhalt, von ungewaschenem Volksmund und Strammstehen, von Kindsköpfig- wie Ernsthaftigkeit, Gossen- wie Bürokratensprache. Wohl war der Zusammenhang von Jandls Texten mit denen der Wiener Schule, mit Achleitner, Artmann, Rühm oder Bayer, unübersehbar, aber es war doch eine etwas entferntere Verwandtschaft, so sah es auch Jandl selbst: Wenn Artmann der Großvater der Wiener Schule gewesen sei, so er ihr Onkel.
Danach hören aber alle Vergleiche oder Gemeinsamkeiten mit der österreichischen oder deutschen Literatur der Zeit auf; Jandl schloß sich weder einer Schule an, noch wurde er schulbildend. Ein (bis auf seine lebenslange Verbindung zu Friederike Mayröcker) einsamer Arbeiter mit unerhörter Aufmerksamkeit (um nicht zu sagen: Respekt) gegenüber der deutschen Sprache, ihrer Grammatik, ihrem Satzbau, ihren Nebenbedeutungen, Mißverständnissen und Verballhornungen, gegenüber jedem einzelnen Wort, ja, jedem einzelnen Ton.
Das ist das große Verdienst Jandls: uns nach politischem Mißbrauch und täglicher Schindluderei diese Aufmerksamkeit gegenüber dem Wort (dem so flottsch gewordenen) zurückgegeben zu haben. Und zudem noch heiter!
Jandl hat es so gesehen (in dingfest):
… er habe immer etwas zu sagen gehabt, und er
habe immer gewußt, daß man es so und so und so
sagen könne; und so habe er sich nie darum
mühen müssen, etwas zu sagen, wohl aber um die art
und weise dieses sagens. denn in dem, was man
zu sagen hat, gibt es keine alternative; aber für die
art und weise, es zu sagen, gibt es eine unbestimmte zahl
von möglichkeiten. es gibt dichter, die alles
mögliche sagen, und dies immer auf die gleiche
weise. solches zu tun habe ihn nie gereizt; denn
zu sagen gebe es schließlich nur eines; dieses aber
immer wieder, und auf immer neue weise.
Klaus Wagenbach, Nachwort
ausgewählt von einem Freund und Kenner: die irren und die schönen, die rinken und die lechten, die findigen und die flottschen.
Ernst Jandl wurde durch seine „Sprechgedichte“ berühmt, die sich ebenso in den Ohren von Erwachsenen wie in denen von Kindern festsetzten: auf dem Land ist viel o sophie, ottos mops will nicht nach Hause, lechts und rinks wird vel-wechsert, die weile eilt mit feile und inge hat es dringend.
Aber Jandl schleicht dem Wort nicht nur nach, er hält es auch fest, als Wortakrobat und zugleich als gewissenhafter Chronist, so beispielsweise in zwei seiner berühmtesten Gedichte: „schtzngrmmmm“ und „wien: heldenplatz“.
„Jandl ist der erste Autor, der durch einen Tonträger berühmt wurde“ – so Klaus Siblewski in seinem großen Jandl-Bildband. Klaus Wagenbach war 1968 der Verleger jenes ersten Tonträgers, der Schallplatte Laut und Luise. Er hat nun aus dem Gesamtwerk die schönsten Gedichte ausgewählt.
Mit Lebensdaten und einem Nachwort.
Verlag Klaus Wagenbach, Ankündigung
I. Avantgarde-Konzepte
Die Avantgarde besteht aus denen, die sichtend den anderen vorangehen. Aus dem strategischen Diskurs stammend, akzentuiert der Ausdruck das Streben moderner Kunstrichtungen, ihrer eigenen Zeit ,voraus‘ zu sein. Bei aller Auslegungsfähigkeit des Terminus besteht doch zumindest bezogen auf bestimmte Grundzüge des ,Avantgardistischen‘ weitgehender Konsens:
(1) Erstens erscheinen die verschiedenen Spielformen avantgardistischer Kunst (bildender Kunst, Dichtung, Musik, performativer Kunst etc.) als Zeugnisse des Bruchs mit tradierten ästhetischen Normen und Konventionen. Die Avantgarden fühlen sich einer Ästhetik der Verfremdung, der Deformation verpflichtet. Die Normverletzung, der Tabubruch, die Provokation des bürgerlichen Kunstgeschmacks zielen in ihren verschiedenen Spielformen auf „Entautomatisierung“: Wird das Publikum mit Irritierendem konfrontiert, so werden eingespielte Mechanismen der Rezeption von Kunst außer Kraft gesetzt – und mittelbar ändert sich so auch der Bezug zur außerästhetischen Realität.
(2) Avantgardistische Programme zielen vielfach explizit auf eine Überschreitung respektive Aufhebung der Grenze zwischen Leben und Kunst – und damit eine Absage an geläufige autonomieästhetische Vorstellungen, denen zufolge Kunst sich gegen das Reich des Alltags und der praktischen Zwecke absetzt. Explizit propagieren etwa die Surrealisten eine Integration der Kunst in die Lebenspraxis und der Lebenspraxis in die Kunst. Außer Kraft gesetzt erscheint insbesondere eine für die bürgerliche Kunstauffassung prägende Trennung zwischen Alltag und Hochkultur, zwischen den Bedürfnissen und Praktiken des Alltags und den produktiven Impulsen, aus denen Kunst entsteht, zwischen Nichtkünstlern und Künstlern.
(3) Avantgardisten experimentieren mit neuen Formen des künstlerischen Ausdrucks – bis hin zu völlig neuen Umgangsweisen mit den eigenen Ausdrucksmedien und -mitteln (wie Sprache und Wort, Ton und Klang, Bild und Bewegung) und zur radikalen Erweiterung des Spektrums künstlerischer Formen und Gattungen. Überschritten werden dabei die Grenzen zwischen den traditionell voneinander geschiedenen Bereichen künstlerischer Praxis, zwischen Sprachkunst, Bildkunst, Klangkunst, performativer Kunst.
(4) Das Streben nach einer „Entautomatisierung“ des Umgangs mit Ausdrucksmitteln und Zeichen führt in avantgardistischen Experimenten zur verstärkten Besinnung auf den materiell-konkreten Aspekt künstlerischer Arbeit, auf verwendete Materialien und Zeichen, auf die sinnliche und somatische Dimension des Gestaltungsprozesses.
2 „wo die Sprache von Texten aus dem normativen Geleise gekippt ist“: Jandls Poetik und die Ästhetik der Avantgarde
Bezogen auf die genannten Kriterien avantgardistischer Kunstpraxis lässt sich Jandl als Avantgardist beschreiben, auch wenn er selbst diesen Terminus sparsam verwendet (so etwa nennt er Reinhard Döhl „Avantgarde-Literat“).
(1) Einer Ästhetik des Normverstoßes, des Tabubruchs, der Provokation und der Entautomatisierung ist Jandl explizit verpflichtet. Seine dichterische Arbeit und seine ästhetischen Interessen gelten erklärtermaßen jenen Experimenten, bei denen „die Sprache von Texten aus dem normativen Geleise gekippt ist“, und Jandl setzt ebenso wie wichtige Avantgardisten der älteren und der jüngeren Generation auf das subversive und befreiende Potenzial ästhetischer Provokationen. Die Betrachtung von Kunst als Tabuverletzerin, als Bruch mit Regeln, als Provokation beleuchtet die spezifische und unverzichtbare Stelle dieser Kunst „im Raster der Ideologien“, ihre wichtige „Funktion […] für den Einzelnen und die Gesellschaft“; sie lässt verstehen, „wieso moderne Kunst von einzelnen als ein Ärgernis interpretiert wird und aus bestimmten Gesellschaftsformen ganz oder teilweise verbannt bleibt“. Besonders prägnant zeigen sich der Wille zur Normverletzung sowie die damit verbundenen innovativen Impulse etwa in den Gedichten in „heruntergekommener Sprache“, auch „Gastarbeiterdeutsch“ genannt, die in der Poetikvorlesung entsprechend kommentiert wird. Die Vorlesung über „Das Röcheln der Mona Lisa“ ist der Schönheit heruntergekommener Sprache gewidmet. Die Verwendung des Prädikats „Schönheit“ ist dabei selbst schon wieder Provokation, Normverletzung – und ein Aufbrechen von Lese- und Denkgewohnheiten.
(2) Davon, dass zwischen Kunst und Leben keine Grenze verläuft, geht Jandl als Theoretiker wie in der künstlerischen Praxis aus. Das Konzept eines ,autonomen‘, aus Lebenskontexten gelösten Gedichts ist aus seiner Sicht ebenso ein bloßes Konstrukt wie das einer gänzlich „außerpoetischen“ Realität. Zwischen „Realität“ und „Gedichten“ zu scheiden, sei, so heißt es in der dritten Poetikvorlesung, eine „mutwillige und künstliche Trennung, einzig zum Zweck der gegenwärtigen Betrachtung vollzogen, besser noch: fingiert […]“. Poetische und außerpoetische Wirklichkeit sind immer schon miteinander verflochten, weil beide sprachlich konstituiert sind. Ein jedes Gedicht ist „wie wir selbst, und alles, im Ganzen enthalten […], in der Gesamtheit des Wahrnehmbaren“, und im Gedicht enthalten ist umgekehrt ein Stück Leben dessen, der es schreibt und spricht. Jandl entwickelt eine ganze Reihe von Strategien, diese Entgrenzung zu unterstreichen. Gelegentlich betont er, den Stoff zu seinen Gedichten liefere ihm das Leben selbst (wie im Fall des Berichts über die Entstehung von „16 jahr“, einem Gedicht, das ihm angeblich das Alltagsleben selbst geliefert hat). Der Vortragskünstler Jandl macht sich selbst zum lebendigen Zeugen für die Verflechtung von Kunst und Leben. Dass das Thema „Atem“ in den Poetikvorlesungen eine leitmotivische Funktion übernimmt – der Atem als Voraussetzung allen Lebens, der Atem als poetisches Thema, der Atem als etwas, das Sprecher und Hörer verbindet –, signalisiert ebenfalls die unauflösliche Verknüpfung von Dichtung und Lebensvollzug.
(3) Jandls künstlerisches Schaffen als Ganzes – zu dem neben Texten in Alltagssprache, Laut- und Sprechgedichten, visuellen Texten und anderen Spielformen des Poetischen auch seine Auftritte, seine zeichnerischen Arbeiten und seine Hörspiele zu rechnen sind – dokumentiert vielfältige Überschreitungen konventioneller Gattungsgrenzen und variantenreiche Erkundungen intermedialer Darstellungsformen.
(4) Durch Konzentration auf die ,materielle‘, sinnlich-somatische Dimension von Sprache soll auch und gerade bei Jandl auf ,entautomatisierende‘ Weise Unerhörtes vernehmbar gemacht werden: Diesem Programm sind seine Gedichte in Alltagssprache ebenso verpflichtet wie die Laut- und Sprechgedichte, Hörspiele und Performances.
3 „Wer Gedichte schreibt, tut damit auf jeden Fall etwas, das andere vor ihm getan haben.“
3.1 Jandl, die Avantgardisten und die Neoavantgardisten
Mit dem Stichwort „Avantgarden“ verbindet sich zunächst die Erinnerung an diverse künstlerische Gruppierungen des 20. Jahrhunderts (zunächst vor allem an die verschiedenen dadaistischen Bewegungen, an die italienischen und russischen Futuristen und an die Surrealisten), wenngleich sich einzelne Avantgardisten wie Kurt Schwitters keiner solchen Bewegung zuordnen lassen. Eingebürgert hat sich die Differenzierung zwischen (frühen) Avantgarden und ,Neoavantgarden‘; zu ersteren gehören insbesondere die Dadaisten, Futuristen und Surrealisten. Als ,neoavantgardistisch‘ gelten die verschiedenen Spielformen konkreter Dichtung, Musik, bildender und performativer Kunst sowie insbesondere das mittels technischer Geräte realisierte neue Hörspiel. Eine Art Brückenfunktion zwischen frühen und späten Avantgarden haben einzelne KünstlerInnen übernommen, deren Lebenszeit ihnen die Teilnahme an den Bewegungen der 1910er und 1920er Jahre wie auch der 1950er und 1960er Jahre ermöglichte: Raoul Hausmann ist ein solcher Vermittler. Zumindest für Deutschland und Österreich markiert die Zeit des NS-Regimes eine tiefe Zäsur. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bedurfte es im Bereich avantgardistischer Kunstpraktiken eines Neuanfangs, der sich transnational vollzog. Die konkrete Poesie ist unbeschadet mehrerer regionalspezifischer Ausdifferenzierungen insgesamt eine internationale Bewegung.
Jandl als Altersgenosse der jüngeren Avantgardisten-Generation unterhielt zu deren Vertretern unterschiedliche Beziehungen: auf der Ebene persönlicher Bekanntschaften wie auf der Beteiligung an gemeinsamen Projekten und der Realisierung gemeinsamer Konzepte. Dass er sich mit Vertretern der Avantgarden und der Neoavantgarden auf theoretisch-konzeptueller Ebene nachhaltig auseinandergesetzt hat, belegen vor allem seine Reflexionen über Dichtung und Kunst, seine Werkkommentare und Erinnerungsberichte. Widmungsgedichte an diverse Dichterkollegen bezeugen zahlreiche persönliche Verbindungen. Jandls Arbeiten zeigen die Spuren dieser Auseinandersetzungen auf vielfältige Weise – und er hebt als Selbstkommentator gern die Bedeutung hervor, die avantgardistische Dichter und Künstler für seine eigene künstlerische Praxis hatten. Die Bereitschaft, entsprechende Impulse aufzunehmen, entspricht dem (von Jandl wiederholt thematisierten) Bedürfnis, immer wieder neue Wege für sein Schreiben zu finden, immer wieder das bereits Erreichte hinter sich zu lassen. Man könnte sagen, dass eben das, was Jandl mit avantgardistischen Experimenten anderer Dichter und Künstler verbindet – die exploratorische Grundhaltung, das Bedürfnis, neue Gestaltungsmöglichkeiten zu erproben –, zugleich das ist, was ihn von jedem bestimmten Ismus auch wieder trennt. Kein dichterischer Stil kann der endgültige sein. Und:
Wer Gedichte schreibt, tut damit auf jeden Fall etwas, das andere vor ihm getan haben.
In „Voraussetzungen, Beispiele und Ziele einer poetischen Arbeitsweise“ hebt Jandl die Bedeutung der frühen Avantgarden für jüngere Autoren hervor. Expressionismus und Dadaismus, August Stramm, Kurt Schwitters, Hans Arp, Gertrude Stein, Ezra Pound, James Joyce und E.E. Cummings bilden „für die heutige Arbeit am Gedicht und an Prosa […] eine Orientierung im Sinne der Tradition“. Dass die eigenen Schreibverfahren den von Vorläufern bezogenen Anregungen vieles verdanken, betont er immer wieder, und er nennt dabei immer wieder dieselben Namen.
Ich begann mit Experimenten in Opposition gegen den Traditionalismus in der Gegenwartspoesie. Ausgangspunkte waren August Stramm, der frühe Johannes R. Becher, Hans Arp und Gertrude Stein. Das Zusammentreffen mit H.C. Artmann und Gerhard Rühm gab weitere Impulse. Meine Experimente nahmen oft Züge der traditionellen Lyrik auf, was durch die gleichzeitige Konfrontation von bekannten mit unbekannten Elementen stärkere Reaktionen hervorrief, als es bei Texten ohne diese Spannung der Fall war. (Unbekanntes wird am deutlichsten, wenn es neben Bekanntes tritt.) Eine aggressive Tendenz zu Beginn verlor für mich in dem Maß an Bedeutung, als meine Freude an der Manipulation mit dem Sprachmaterial und den daraus resultierenden Entdeckungen wuchs. Meine Neigung zur Groteske findet in einer Sprachbehandlung, die keiner Konvention zu gehorchen braucht, neue Möglichkeiten. So kann der experimentelle Text vollziehen, was das Gedicht in konventionell verwendeter Sprache nur berichten kann („lechts und rinks kann man nicht velwechsern“).
3.2 Jandl und die älteren Avantgardisten
Dadaismus/Hugo Ball
Jandls „Anmerkungen zur Dichtkunst“ enthalten eine dezidierte Sympathieerklärung an den Dadaismus, mit welchem ihn – so Jandl- zweierlei verbinde:
sein ausgeprägter Sinn für Humor, mit dem man der Tragik der menschlichen Situation, nämlich der Sterblichkeit des Menschen, seiner Aussicht auf Nichts, geistvoll begegnete, und sein Verzicht auf Theorie und System. Jedes Gedicht – und das Gedicht war die Form des Dadaismus schlechthin – hatte sein System, aber darüber hinaus gab es keines.
Die Poetikvorlesungen erinnern daran, dass das Hitlerregime die weitere Entfaltung der als „Dadaismus“ bezeichneten „künstlerischen Revolution“ unterbrochen hatte und dass nach dem Krieg zwar Musik, Malerei und Bildhauerei den Anschluss an die Moderne schnell wieder fanden, die Dichtung jedoch nicht. Man habe (wieder) seine Klassiker gehabt, auch neue, aber diejenigen, die radikal mit der „Idee des Klassischen“ gebrochen hätten – wie August Stramm, Hugo Ball, Raoul Hausmann und Kurt Schwitters –, seien lange vergessen geblieben. Und dies, obwohl sie „in das Gefüge der Sprache mit Witz und Gewalt eingegriffen hatten, mit Ergebnissen, die bis dahin unvorstellbar gewesen waren“. Es ist insbesondere Hugo Ball, den Jandl wiederholt als Vorläufer würdigt, vor allem, wenn es um das Lautgedicht geht. Ball sei zwar nicht der erste Lautdichter gewesen, habe sich aber selbst so verstanden – und verdiene es, dass man ihn darum auch so sehe. Tatsächlich ist Ball wohl zumindest der wichtigste Impulsgeber für die jüngere Geschichte der Lautpoesie gewesen, neben Schwitters. Was ihn für Jandl besonders interessant machte, ist sein Auftreten als Rezitator, der sich gleichsam physisch mit dem eigenen Poem identifiziert. In der Poetikvorlesung erinnert Jandl an den Lautdichter Ball als Performance-Künstler, an den berühmten Vortrag der Lautgedichte Balls bei einer dadaistischen Soiree 1916 in Zürich; er zitiert und kommentiert Balls berühmtestes Gedicht „karawane“. Ein Einfall, den er selbst von Ball übernimmt, ist die Verwendung normalsprachlicher Titel für Lautgedichte, durch welche die Leserassoziationen gelenkt, aber nicht determiniert werden.
Gertrude Stein
Andere Vorbilder sind für Jandls Prosa-Experimente wegweisend geworden. In der dritten Poetikvorlesung erinnert er an Gertrude Stein, die für ihn „immerzu eine Quelle der Inspiration gewesen [sei], nie versiegend, nie versagend“. Steins an kubistische Kunst erinnernde Prosatexte inspirierten insbesondere die Arbeit an der „prosa aus der flüstergalerie“ von 1956. Die Aneignung der „Techniken von Gertrude Stein“ sei ein „Wendepunkt“ für ihn gewesen, so Jandl rückblickend. – Auch in den dramentheoretischen Erörterungen, die Jandl anlässlich eines Berichts über seine „bisherige Arbeit an Stücken“ anstellt, charakterisiert er Gertrude Stein als sein großes Vorbild: Habe diese doch „das Stück am radikalsten vom Theater und damit von den Zwängen der Aufführbarkeit befreit und daraus eine autonome Literaturgattung gemacht“ – so dass man nun auch solche Texte ein „Stück“ nennen könne, die formal mit Stücken im konventionellen Sinn fast nichts mehr verbindet. Das Innovatorische wird wiederum mit dem Befreienden gleichgesetzt:
von der Vorstellung des gängigen Bühnenstückes befreit, konnte man schließlich versuchen, auch für die Bühne zu schreiben, ohne fürchten zu müssen, sogleich in Klischees zu ersticken.
Kurt Schwitters
Dass das facettenreiche, Humor und künstlerischen Ernst auf einzigartige Weise verbindende Œuvre von Kurt Schwitters Jandl nachhaltig beeindruckte, überrascht nicht. Schwitters sei im deutschen Sprachraum der Einzige gewesen, der an Gertrude Stein „herangereicht hat, wenn überhaupt“. Bei der Erkundung neuer Formen haben diese beiden nahezu alles bereitgestellt, „was für uns heute zu haben ist. Um daraus zu lernen für unsere Poesie“. Raoul Hausmann und Schwitters sei es, an Ball anschließend, in den 1920er Jahren gelungen, die Stimme von der Bindung an die Wortsprache zu befreien und so den „Bereich der Poesie noch weiter zu öffnen“; den Höhepunkt dieser Entwicklung markiert die „Ursonate“. Von Schwitters und seiner Lautdichtung inspiriert erscheinen diverse Jandl-Texte, so beispielsweise „restaurant“, „im reich der toten“ und „amt mit schwalben“. Schwitters’ Spiel mit ,gestörter‘ Artikulation, wie es im „Kleinen Gedicht für große Stotterer“ stattfindet, das Jandl in der Poetikvorlesung zitiert, findet bei Jandl ebenfalls seine Fortsetzung. Jandl attestiert Schwitters anlässlich dieses Textes einen „atemberaubende(n) Realismus“, bewirkt „durch die Einbeziehung beider Arten dieser dem Willen nicht unterworfenen Unterbrechung des Redeflusses, deren eine durch die Wiederholung von Lauten, Silben und Wörtern, deren andere durch die Verlängerung des Anlautes von Wörtern zustande kommt“.
Raoul Hausmann
Raoul Hausmann hat durch seine eigene Person dazu beigetragen, dass die jüngere avantgardistisch-experimentelle Poesie an die Errungenschaften der älteren Avantgarden anschloss. Mit Texten Raoul Hausmanns war Jandl nach eigener Erinnerung seit Beginn der 1960er Jahre vertraut, vermittelt zunächst durch Andreas Okopenko. 1964 hat er dann in Stuttgart von Hausmann weiteres gehört, nun vermittelt durch Reinhard Döhl, der in Kontakt mit Hausmann stand. Ein Briefwechsel Jandls mit Raoul Hausmann begann mit einem Brief Hausmanns an Jandl 1965 – und auf eine von Missverständnissen zunächst überschattete Weise. Die verwirrende Lage ist Anlass für den alten Dichter, eine Erklärung abzugeben, die Jandl in seinem Text über Hausmann zitiert:
Ich bin aus Prinzip gegen nichts, außer gegen Nachahmungen wie Neo-Dadaismus und Pop-art. Wenn man einmal Dadaist war, kann man nicht gegen Erneuerung sein […].
Als Lautdichter sei Hausmann Schwitters zumindest chronologisch vorgeordnet – als „der eigentliche Begründer […] jenes Lautgedichts […], das die Ähnlichkeit mit einer zur Verständigung dienenden Sprache abgelegt hat, indem es der Stimme, mit all ihren Möglichkeiten, totale Freiheit gewährt. Erst nach Hausmann und von ihm her, kommt als Lautdichter der große Kurt Schwitters, und diese beiden schufen die Voraussetzung für die Erarbeitung neuer Arten von Lautdichtung durch eine neue Generation von Autoren, die nach 1945 zu schreiben begannen.“ In seiner Hommage an den alten Avantgardisten würdigt Jandl diesen als konsequenten Repräsentanten einer auf Autonomie dringenden, eigenständigen und innovativen Kunst.
er kämpfte für das Recht des Dichters und jedes Künstlers, einzig selbst zu bestimmen, was er tat und wie er es tat, also für eine vollkommene künstlerische Autonomie, die als einzige Verpflichtung für den Künstler diese enthält, seinen eigenen Weg zu gehen.
3.3 Jandl und die jüngeren Avantgardisten
Die Situation der Dichtung in Österreich zehn Jahre nach dem Kriegsende beschreibt Jandl rückblickend als Suche nach möglichen Anknüpfungspunkten – im Bewusstsein der zunächst wenig überzeugenden Neuanfänge der ersten Nachkriegsjahre:
Wer weitermachen wollte, oder wer jetzt noch anfangen wollte, mußte suchen, ehe er einen Ausgangspunkt fand. Mit dem, was zufiel, da und dort, unterwegs, im Vorbeigehn, war nichts getan.
Die Entstehung einer jungen Avantgarde erscheint vor diesem Hintergrund als eine „neue literarische Revolution“, Anfang der 1950er Jahre „an verschiedenen Punkten der Welt gleichzeitig“ beobachtbar, dabei aber „viel stiller […] als etwa Dada, der 1916 mit voller Lautstärke einsetzte“: gemeint ist die konkrete Poesie. Jandl nennt als maßgebliche Protagonisten, gruppiert nach Herkunftsländern (Schweiz, Brasilien, Deutschland, Österreich), Eugen Gomringer, Augusto und Haroldo de Campos, Décio Pignatari, Pedro Xisto, Max Bense, Carlfriedrich Claus, Reinhard Döhl, Hans G. Helms, Helmut Heißenbüttel, Ferdinand Kriwet, Franz Mon sowie die Wiener Gruppe: Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Oswald Wiener. Die Namensreihe sei aber erheblich verlängerbar.
Als „österreichischen Beitrag zu einer ,konkreten‘ und ,experimentellen‘ modernen Weltdichtung“ würdigt er das, „was 1952 bis 1959, isoliert und weitgehend unabhängig von ähnlich isolierten Anfängen anderswo, in Wien geschah“, als „Beginn einer neuen Dichtung“, maßgeblich geprägt durch Hausmann, den Innsbrucker Heinz Gappmayr und den Grazer Gunter Falk. Aus dem Abstand einer Dekade zieht Jandl eine Bilanz des seitdem Erreichten: „Gappmayr gehöre zu den führenden Vertretern der konkreten Poesie; überregional bedeutend sei auch die Linzer Gruppe konkreter Dichter um Heimrad Bäcker, und die Wiener Gruppe sei als ,Berliner Dichter-Workshop‘ in eine neue, außerordentlich vitale Phase gelangt“, getragen von den ursprünglichen Mitgliedern Rühm, Wiener und Achleitner, ergänzt durch Günter Brus und Diter Rot. Nur Hausmann, mittlerweile tot, werde immer noch unterschätzt.
Wiener Gruppe
Die Wiener Gruppe, getragen durch „Artmanns poetische Erfahrung und Rühms avantgardistisches Streben“, erscheint im Spiegel der Jandl’schen Darstellung als ein Team, das sich unermüdlicher experimenteller Tätigkeit verschrieb und intern über den Wert des Erreichten diskutierte, ohne sich an äußeren Vorgaben zu orientieren:
es gab keine Norm außer der selbst gesetzten, keine Kritik außer der eigenen und der der anderen vier […].
Die eigene Beziehung zur Wiener Gruppe beschreibt Jandl als freundschaftlich, aber „tangential“; seit 1956 standen Friederike Mayröcker und er der Gruppe nahe, ohne ihr anzugehören, wussten sich grundsätzlich analogen ästhetischen Zielen verpflichtet, deren Umsetzung aber teilweise auf divergenten Wegen erfolgte. Wichtig war die Gruppe als Diskussionsforum, vor allem Gerhard Rühms „Progressivität und Radikalität“ beeindruckten Jandl. Mit seinen eigenen Arbeiten stieß Jandl nicht immer auf positive Resonanz: so lehnten Artmann und Rühm das „deutsche gedicht“ heftig ab.
Ich vermute, es erschien Artmann und Rühm damals nicht statthaft, im Gedicht politisch zu sein; das verstieß offenbar gegen Vorstellungen von Reinheit der Kunst.
Die Beziehung zu Konrad Bayer, der Jandls Arbeiten nicht als konkrete Gedichte gelten lassen mochte und sich abfällig über sie äußerte, gestaltete sich weniger freundschaftlich als die zu Artmann und Rühm. In seinem Aufsatz über Bayer verbindet Jandl die Würdigung des Œuvres mit der Erinnerung an eine nicht spannungsfreie persönliche Bekanntschaft. Eine gewisse Enttäuschung über die bei allen grundsätzlichen Übereinstimmungen doch anhaltende Distanz zur Wiener Gruppe spricht aus Jandls Rückblick auf die späten 1950er Jahre:
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir vier, Mayröcker, Artmann, Rühm und ich, den inneren Kern jeder progressiven Literaturgruppierung in Wien bilden müssen. Spätestens das erste literarische Kabarett der Wiener Gruppe, am 6. Dezember 1958, machte es mir klar, daß ich draußen war, nie drin gewesen, keine Figur in einem gemeinsamen Spiel.
H.C. Artmann
Artmann ist für Jandl Inbegriff des experimentierfreudigen, innovatorischen und dabei unerschöpflich einfallsreichen Dichters. Dies belegt (unter anderem) die „Laudatio auf H.C. Artmann“, anlässlich der Verleihung des Preises der Stadt Wien für Literatur. Artmanns Œuvre sprenge „die Dimensionen, in denen wir ordnend zu denken gewohnt sind“, und sei auf keine Formel zu bringen. An sich selbst und an seine Kunst glaubend, habe Artmann alle Widerstände überwunden. Ein Limerick für Artmann setzt dem Anreger und Ermutiger ein Denkmal. „limerick für h.c.“:
es war ein poet aus st. achatz
der sprach zu den andern stets: machats
ihrs oft so wie ich
wärts auch ihr eigentlich
fast so fämas wie ich aus st. achatz
Gerhard Rühm
Rühms Lautgedichte waren die ersten neuen Lautdichtungen, die Jandl in den mittleren 1950er Jahren zu Ohren kamen: „kurze, abstrakte Lautfolgen“, weniger nahe an Balls Lautgedichten als an denen von Schwitters. Rühm sei dabei kein Nachahmer gewesen, sondern habe neu angesetzt, nach rund drei Jahrzehnten, „an einer Stelle, die offengeblieben war und nach Weiterführung schrie“, was zur damaligen Zeit Mut erfordert habe. Die Wirkung Rühms auf die eigenen Arbeiten beschreibt Jandl als anregend, allerdings nicht im Sinne völliger Übereinstimmung, sondern in dem der Erkundung von Alternativen: „Durch Gedichte wie diese aufs höchste erregt, konterte ich mit Sprechgedichten“, denn „[m]an mußte, auch wenn man derart radikal vorging, auf Bedeutung nicht völlig verzichten“. Jandl relativiert die bei Rühm beobachtete Lösung des Lautgedichts von der Semantik der geläufigen Sprache – unter anderem durch die von Ball bereits praktizierte Verwendung normalsprachiger Titel. Das Gerhard Rühm gewidmete Gedicht „bestiarium“ ist ein Beispiel dafür. Einig ist er sich mit Rühm aber immerhin in einem Punkt – in der Überzeugung, „daß es schwieriger ist, ein Lautgedicht zu schreiben, als ein Gedicht, das aus Wörtern besteht. Verglichen mit dem Wort ist der Laut, als Material für ein Gedicht, eher amorph, und Sie erhalten sehr leicht ein amorphes Gebilde, das als Gedicht nicht taugt.“
Konkrete Poesie, konkrete Kunst
Theo van Doesburgs „Manifest der Konkreten Kunst“ erschien 1930. Max Bill knüpfte hieran an – und mit ihm Eugen Gomringer, durch den ab 1955 der Begriff „konkrete Poesie“ populär wurde. Gomringer stand in Verbindung zu Décio Pignatari, einem Mitglied der brasilianischen Noigandres-Gruppe, welche bereits „konkrete“ Texte verfasste.
Als Vorläufer „konkreter“ Kunst und Dichtung erscheinen die Werke und ästhetischen Programmschriften russischer Maler und Dichter der 1920er Jahre (Malewitsch, Chlebnikov, Majakowski, Kruconych) sowie die Positionsbestimmungen der holländischen De Stijl-Gruppe um Theo van Doesburg und Piet Mondrian. Wegbereiter der konkreten Poesie waren auch die Amerikaner E.E. Cummings, William Carlos Williams, Ezra Pound und Gertrude Stein sowie die französischen Lettristen um Isidore Isou und die italienischen Spätfuturisten um Carl Belloli. Dem Selbstverständnis konkreter Kunst und Dichtung arbeitete vor allem das Konzept einer ,abstrakten‘ (im Sinne von: nicht-mimetischen) Kunst zu. Wassily Kandinsky hat die Leitideen abstrakter Kunst programmatisch ausformuliert. Der in der abstrakten Malerei sinnfällige Verzicht auf die Darstellung identifizierbarer Gegenstände findet eine Reprise in einer konkreten Dichtung, deren Sprechweisen sich nicht an den Konventionen eines gegenstandsbezogenen Sprechens orientierten. Positionsbestimmungen zur konkreten Poesie schließen daher vielfach an Konzepte künstlerischer Abstraktion an. Gomringer betont den anti-mimetischen Grundzug konkreter Dichtung und Kunst.
mit der konstellation wird etwas in die welt gesetzt. Sie ist eine realität an sich und kein gedicht über […].
Jandl schreibt entsprechend über die Dichtung und ihr Programm:
Sie ist ,konkret‘, indem sie Möglichkeiten innerhalb von Sprache verwirklicht und Gegenstände aus Sprache erzeugt (statt, didaktisch-abstrakt, Aussagen zu machen über Gegenstände die außerhalb von Sprache angenommen werden, und, illusionistisch-abstrakt, mit sprachlichen Mitteln die Verwirklichung von Möglichkeiten die außerhalb von Sprache angenommen werden vorzuspiegeln).
Der Schwede Öyvind Fahlström verfasste 1953 sein (erst 1966 gedrucktes) „Manifest für konkrete Poesie“, das Jandl eigentlich gekannt haben müsste, obwohl für ihn der Beginn der konkreten Poesie in erster Linie mit Gomringers Namen verbunden ist. Für die weitere Geschichte der konkreten Poesie und ihrer Programmatik prägend wirkten im Folgenden vor allem der Stuttgarter Kreis (zu ihm gehörten Max Bense, Reinhard Döhl und Hansjörg Mayer) sowie der Darmstädter Kreis (Daniel Spoerri, Dieter Roth/Diter Rot) sowie Helmut Heißenbüttel, Franz Mon und Carlfriedrich Claus. Wo Jandl die konkrete Dichtung kommentiert, betont er deren methodischen, planvollen, fast systematischen Charakter, die Transparenz gesetzter Spielregeln und die Konsequenz, mit der diese umgesetzt wurden. Gerade konkrete Dichtung macht sinnfällig, wie die „Hervorbringung von Kunst“ auf der „Erfindung neuer Spielregeln“ beruht, was im Bereich der visuellen ,konstellation‘ so weit geht, dass für jedes Gedicht „ein neues Verfahren“ entwickelt werden muss.
Bei aller Würdigung der innovatorischen, befreienden und anregenden Leistungen der konkreten Poesie ist Jandl dieser ebenso wenig eindeutig zuzuordnen wie anderen Schulen oder der Programmatik einer bestimmten Gruppe. Sein Bedürfnis, bei aller Experimentierfreude auch die Semantik der Alltagssprache für die Dichtung fruchtbar zu machen, steht einer Identifikation mit dem Programm radikaler Konkretion entgegen. Gleichwohl sind eine Reihe Jandl’scher Texte als konkrete Gedichte beschreibbar. Spielregeln konkreter Textgestaltung liegen unter anderem den Gedichten zugrunde, die er für befreundete Kollegen aus dem Umfeld der Konkreten schrieb, so dem Text „land in sich / für max bense“:
die da
dich dach
dicht dacht
ichs doch (…)
oder der „BIOGRAPHY / for Ian Hamilton Finlay“: Der Visualtext zeigt eine achsensymmetrische Anordnung von Wörtern, aus denen in der Mitte ein Buchstabenkomplex typographisch herausgelöst wird, darunter die Sequenz „d / eat / h“.
Ein Gedicht mit Widmung an Helmut Heißenbüttel ist dagegen weitgehend normalsprachig:
ich kenne deinen namen seit
ich habe keinen sinn für zeit […]
Und ein Moment der (selbst-)ironischen Distanzierung liegt in dem wortspielerischen Text:
i love concrete
i love pottery
but i’m not
a concrete pot
der allerdings ganz verschiedene Lesarten zulässt.
Eugen Gomringer
Für Jandls Wahrnehmung konkreter Poesie wichtig war vor allem Eugen Gomringer, der schon 1953 seine „konstellationen“ publizierte und den Jandl als den eigentlichen Initiator konkreten Dichtens charakterisiert hat. In seinem Aufsatz über „Das Gedicht als Gegenstand“ nennt Jandl die 1955 erfolgte Begegnung mit einem Gedicht Gomringers als ersten Hinweis auf „eine neue Art von Dichtung“: die „konkrete Poesie“. Er beschreibt die visuellen Texte Gomringers als Arrangements aus flächig platzierten Vokabeln, die einander als Einzelwörter begegnen. August Stramm als Vertreter des radikalen Expressionismus habe früher Ähnliches versucht, mit anderem Gestus, aber aus analoger Einstellung zum Wort:
Die These […], wie die konkrete Theorie sie vortrug, daß ein Gedicht ein Gegenstand sei, keine Aussage über einen Gegenstand, hätte auch auf Gedichte von Stramm gepaßt.
Wie Rühm neue Wege für das Lautgedicht erschlossen hat, so Gomringer für das visuelle Gedicht. Jandls frühestes eigenes visuelles Gedicht, „klare gerührt“ (1957), erschien einige Jahre später in Gomringers Reihe konkrete poesie/poesia concreta.
Reinhard Döhl
Reinhard Döhl, leitende Figur der Stuttgarter Gruppe, ist für Jandl vor allem deshalb wichtig geworden, weil er ihm zu neuen Kontakten verhalf und maßgeblich dazu beitrug, dass Jandl als Vertreter experimenteller und konkreter Dichtung wahrgenommen wurde.
Er akzeptierte meine experimentellen Gedichte und half mir, die Isolation zu durchbrechen, in die ich geraten war.
Döhl vermittelte Jandl Publikationsmöglichkeiten und stellte Kontakte her – als „ein glänzender Taktiker“. Jandls „vier variationen über ein gedicht von reinhard döhl“ sind eine Hommage an den Kollegen.
3.4 Bezüge zur avantgardistischen Musik
Jandls Œuvre steht über seine komplexen Beziehungen zu Spielformen avantgardistischer Dichtung hinaus auch avantgardistischer Musik nahe. Wichtige Impulse übernimmt er von John Cage, der in seinen Kompositionen insbesondere die Spannung zwischen Lauten und Schweigen erkundet. 1969 übersetzt Jandl John Cages Vortragsreihe „Silence“ in einer Auswahl ins Deutsche („Vortrag über nichts“, „Vortrag über etwas“, „45’ für einen Sprecher“): Cages Texte beziehen sich u.a. auf die Zwölftonmusik von Morton Feldman. In poetologischen Reflexionen zitiert Jandl aus seiner Cage-Übersetzung und bekräftigt damit die Verbundenheit, die er zwischen seiner eigenen Kunst und der des Komponisten wahrnimmt. Cages Verfahren, das Publikum an der musikalischen Performance zu beteiligen, hat in Jandls Poetikvorlesungen mit ihren Adressierungen des Auditoriums seine Spuren hinterlassen.
Monika Schmitz-Emans, aus Bernhard Fetz und Hannes Schweiger (Hrsg.): Die Ernst Jandl Show, Wien Museum/Residenz Verlag, 2010
JANDLS LACHS
jandls lachs schwamm lang
am kanal
schwamm laang
am k a k anaal
jandls lachs
als anglsachs
am a salman
am nat an aal
lachts halt amal
Gisbert Amm
Alexander Cammann: Wenn ein linkes Herz irgendwann südlich schlägt
Die Zeit, 8.7.2020
Helmut Böttiger: Bunter Tintenfisch
Süddeutsche Zeitung, 9.7.2020
Michael Krüger: Kafkas Witwe
Börsenblatt, 10.7.2020
Cornelia Geißler: Was Leute lesen sollen
Frankfurter Rundschau, 10.7.2020
Peter von Becker: Klaus Wagenbach lässt Poesie und Politik zusammenklingen
Der Tagesspiegel, 11.7.2020
Hans Magnus Enzensberger: Ein Mann, der nie zu Boden geht
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.7.2020
Christoph Buchwald: Klaus Wagenbach (90)
Buchmarkt.de, 11.7.2020
Thomas Blum: Salto vorwärts
neues deutschland, 10.7.2020
Knut Cordsen: Ein Verleger-Urgestein
BR24, 11.7.2020
Klaus Wagenbach – Das Herz sitzt links (Portrait).
Wie man den Jandl trifft. Eine Begegnung mit Ernst Jandl, eine Erinnerung von Wolf Wondratschek.
Ernst Jandl im Gespräch mit Lisa Fritsch: Ein Weniges ein wenig anders machen.
Eine üble Vorstellung. Ernst Jandl über das harte Los des Lyrikers.
André Bucher: „ich will nicht sein, so wie ihr mich wollt“
Neue Zürcher Zeitung, 13.6.2000
Martin Halter: Der Lyriker als Popstar
Badische Zeitung, 13.6.2000
Norbert Hummelt: Ein aufregend neuer Ton
Kölner Stadt-Anzeiger, 13.6.2000
Karl Riha: „ich werde hinter keinem her sein“
Frankfurter Rundschau, 13.6.2000
Thomas Steinfeld: Aus dem Vers in den Abgrund gepoltert
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.6.2000
Christian Seiler: Avantgarde, direkt in den Volksmund gelegt
Die Weltwoche, 15.6.2000
Klaus Nüchtern: Im Anfang war der Mund
Falter, Wien, 16.6.2000
Bettina Steiner: Him hanfang war das Wort
Die Presse, Wien, 24.6.2000
Jan Kuhlbrodt: Von der Anwesenheit
signaturen-magazin.de
Karl Riha: „als ich anderschdehn mange lanquidsch“
neue deutsche literatur, Heft 502, Juli/August 1995
Gedanken für den Tag: Cornelius Hell über Ernst Jandl
ORF, 3.6.2020
Markus Fischer: „werch ein illtum!“
Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 28.6.2020
Peter Wawerzinek parodiert Ernst Jandl.
Ernst Jandl − Das Öffnen und Schließen des Mundes – Frankfurter Poetikvorlesungen 1984/1985.
Ernst Jandl … entschuldigen sie wenn ich jandle.
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