Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Die Farbpalette der Dichtung (Teil 6)

Die Farbpalette der Dichtung
Eine kleine koloristische Poetik

Teil 5 siehe hier

Nicht zu vergessen (und in poetischem Kontext von besonderer Bedeutung): Farbwörter haben nicht nur eine mehr oder minder bestimmte Bedeutung, sie haben auch eine davon unabhängige sprachliche Form, die als solche – als Laut- oder Schriftgestalt – hervorgehoben und instrumentalisiert werden kann. Auch dafür ist Zechs «rote Zote» beispielhaft: Der Gleichklang der beiden nicht zusammengehörigen, nicht zusammenpassenden Begriffe gewinnt hier, der unsinnigen Begrifflichkeit zum Trotz, eine eigene, durchaus singuläre dichterische Qualität.
Dass die Regenbogenfarben in spektralanalytischer Hinsicht überall auf der Welt gleichartig sind, die Farbbezeichnungen jedoch von Sprache zu Sprache sich stark unterscheiden, ist Beleg für die in jeder Sprache andere, besondere, willkürliche Beziehung zwischen Farbe und Farbwort.
So lautet beispielsweise der russische Begriff für die Farbe Rot «krasnyj» (sinngemäss verwandt mit «krassiwyj», was «schön» bedeutet), doch gibt es auch im Russischen das Wort «rot», das klangidentisch mit der deutschen Farbbezeichnung ist, jedoch abweichend davon (als Substantiv) «Mund» bedeutet. Auch kennt das Russische für «blau» zwei eigenständige, völlig unterschiedliche Begriffe, nämlich «sinij» (für dunkelblau) und «goluboj» (für hellblau). Hellblau und Dunkelblau gelten hier als vollwertige Einzelfarben, derweil sie im Deutschen lediglich als Abstufungen wahrgenommen und behelfsmässig mit hell beziehungsweise dunkel charakterisiert werden.
Der vermessbaren und klar definierbaren Welt der Farben steht also eine uneinheitliche Fülle sprachlicher Entsprechungen gegenüber. Dieses Missverhältnis mag ein Problem sein, ein Problem allerdings, das sich im alltäglichen Sprachgebrauch permanent von selbst löst und das in der dichterischen Sprache auf vielfältig Weise produktiv werden kann.
Interkulturelle Farbpräferenzen wie auch die Verwendung entsprechender Farbwörter in verschiedensten Sprachen sind schon vielfach untersucht und statistisch ausgewertet worden. Im Ergebnis stellt sich, wenig überraschend, heraus, dass die selben ungemischten Grundfarben in allen Kulturkreisen Vorrang haben, dies freilich in unterschiedlichem Ausmass und bei unterschiedlicher Wertschätzung anderer, gemischter Farben.
​Statistische Erhebungen in rund einhundert Sprachen haben den Vorrang von Rot, Grün, Gelb, Blau (vor Braun, Pink, Orange, Violett, Grau) bestätigt, aber auch präzisiert, dass die Nichtfarben Weiss und Schwarz in Japan (im Japanischen) – anders als im euroamerikanischen Raum – fast gleichauf sind mit den bunten Farben: Noch ein Beispiel für die ungleiche Einschätzung der Farbpalette.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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