Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kehraus mit Celan (Teil 11)

Kehraus mit Celan
Eine revisionistische Lektüre

Teil 10 siehe hier

Auch wenn Celans Verfremdungstechnik mehrheitlich durchschaubar ist, bleibt die Frage, wieso er sie zum unverwechselbaren Erkennungsmerkmal seiner Kunstsprache macht und damit jede direkte (authentische, faktische) Aussage absichtlich verunklärt. Dass er solche Verunklärung auch in kürzesten Gedichten zielstrebig durchsetzt, belegen exemplarisch die nachfolgenden Texte:

Lindenblättrige Ohnmacht, der
Hinaufgestürzten
klirrender
Halbpsalm.

Ohnmacht – «lindenblättrig»? Sturz – nach oben? Ein Psalm, der als «Halbpsalm» zum Klirren kommt? Jedes Wort hat hier Rätselcharakter, keins ist zu klären, soll wohl auch gar nicht geklärt, sondern in seiner Rätselhaftigkeit, also Vieldeutigkeit belassen werden. Denn auch uneinsichtige Gedichte sind – Gedichte; so wie dieses:

Kew Gardens

Jetzt, wo
du dich häufst, wieder,
in meinen Händen,
abwärts im Jahr,

löst die angestammelte Meise
sich auf in lauter
Blau.

Das lyrische Ich spricht hier ein namenloses Du an – an einem bestimmten Ort («Kew Gardens», botanischer Garten in London), zu einer bestimmten, objektiv allerdings nicht bestimmbaren Zeit («jetzt, wo | du dich häufst»). Noch eine Ortsbestimmung: «in meinen Händen», und noch eine Zeitbestimmung: «abwärts im Jahr», und doch bleibt alles unbestimmt – soll es auch, weil das Gedicht nur so einen imaginären, von der Wirklichkeit zwar hergeleiteten, von ihr aber dennoch abgehobenen Raum (Ort wie Zeit) eröffnen kann, in dem sich dann («in lauter | Blau») eine geheimnisvoll «angestammelte Meise» auflöst.
Was ist da was, und was bedeutet da was? Nein, da ist nichts, das etwas (Bestimmtes) bedeuten könnte – da ist nur dieses lakonische Gedicht, das Bedeutung verweigert und gleichzeitig Sinnbildung einfordert; und noch eins:

Das mückenbeinige Leben,
anagrammatisch zuhause
im Düsenfächer,

die
Gewissheit, hinzu-
geblasen, macht
beim eigenmächtigsten Tropfstein
fauchend Station.

Verstehen wollen, verstehen sollen, was rational nicht zu verstehen ist? Was dem Verstehen entzogen wird von einem Autor, der das Verstandenwerden für eine Schmach, eine Schwäche hält? Was einzig zu gelten hat, ist das, was als Gedicht dasteht, nicht das, was dahinter oder zwischen den Zeilen steht.
Das Gedicht ist bei Celan zu begreifen wie ein Ding, als ein Sprachding, das für sich selbst spricht, sobald und sofern es durch aufmerksame Lektüre zum Sprechen oder auch bloss zum Stammeln gebracht wird.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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