Kehraus mit Celan
Eine revisionistische Lektüre
Teil 9 siehe hier …
Der Einsatz von Wortneuschöpfungen ist ein dominantes Charakteristikum von Celans dichterischem Personalstil und liesse sich denn auch durch unzählige einschlägige Beispiele dokumentieren. Mehrheitlich handelt es sich dabei um schwache Neologismen, d.h. um abgeleitete, umgebildete, verfremdete Begriffe von leicht erkennbarer Herkunft. Dazu gehören Eigenschaftswörter wie «heidekrautdunkel», «herzdunkel», «julifarben», «namenwüchsig», «unverschwiegen», «schwergemünzt», «befernt», «augenwandlerisch»; Hauptwörter und Namen wie «Siebenträne», «Nesselschrift», «Hauchschrift», «Seelentang», (die) «Seelenäugige», (der) «Kurzmütige», «Tausendstiege», «Eisfeuerschein», «Hirnwindungselle», «Strandhafergruss», «Lebensfinger», «Leuchtzahn», «Kunkeltaube» oder «Mautenjenseits» (für Mauthausen); Tätigkeitswörter wie «neinen», «entwalten», «vorbeiwienern», «erfürchten» (von Furcht oder Ehrfurcht), «gegenbildern», (sich) «hinweglügen», (sich) «herüberwerfen», (sich) «zuschlafen», (sich) «denkleben», (sich) «lebdenken».
Insgesamt haben diese und sehr viele andere Neubildungen bei Celan eine romantische oder märchenhafte Anmutung – sie erinnern an magische Zauberworte, lassen aber doch auch ihre Künstlichkeit und, zumindest teilweise, eine verquälte Geziertheit erkennen, die sich eher manieristisch denn magisch ausnimmt. So oder anders geht von ihnen keinerlei Verlockung aus, im Gegenteil, sie wirken – wie vom Autor gewollt – befremdlich, sogar abweisend. Dadurch bewähren sie sich nicht zuletzt als Komponenten der Sinnverdunkelung. Als dichterische Produkte sind sie ohne Belang.
Rekurrent sind bei Celan auch Quasi-Neologismen, Wörter also, die man für Neubildungen halten könnte, die sich aber bei näherem Hinsehen als spezifische Fachausdrücke erweisen. Ist «Kammwarze», ist «Wissererfortsatz» eine originäre Neubildung, oder hat der Dichter diese (wie manch andere) Begriffe aus wissenschaftlichen Texten übernommen, Begriffe wie «Augengneise», «Gekriech», «Schuttkriechen», «aussenbürtig», die weder in poetischen Texten, noch in der Gebrauchssprache vorkommen? Dass Celan immer wieder Fach- und Handbücher eingesehen hat, um derartige Ausdrücke zu eruieren und sie in seine Dichtung einzubringen, ist bekannt.
Am schwersten sind vermeintliche Neologismen aufzuklären, die Celan ohne Quellenangabe von andern Autoren übernimmt. Das Wort «zebragewandet» hat er nicht erfunden, sondern stillschweigend bei Jean Améry entliehen, der damit auf die gestreifte Häftlingskleidung im KZ verweist; die «Dampfhämmer» hat er von Walter Benjamin, die «gepulverten Organellen» von Isaac Asimov bezogen. Solch eigenmächtige, nicht ausgewiesene «Bezüge» gehören zur Normalität literarischen Schreibens, doch bei Celan werden sie in grossem Umfang stilbildend eingesetzt, stets im hermetischen Bestreben, die eigene Dichtung dem Verstehen (der Verständlichkeit) zu entziehen. Dies signalisiert er vorab schon durch eigens als Buchtitel kreierte befremdliche Neologismen wie «Sprachgitter», «Niemandsrose», «Lichtzwang», «Schneepart» u.a.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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