I
Meine erste Begegnung mit Elias Canetti kann ich auf den Tag, nicht aber auf das Jahr genau datieren; es war mein Geburtstag, der 25. Juli, der auch sein Geburtstag war. Ich lebte damals – es muss um 1975, 1976 gewesen sein – auf der Forch im Zürcher Oberland, hatte für den Abend ein kleines Gartenfest geplant, war zum Einkaufen in die Stadt gefahren.
II
Es war ein schwüler Hochsommertag, Ferienzeit, die Strassen und Geschäfte wie leergefegt. Die Einkäufe hatte ich rasch erledigt und zuletzt noch bei der Rohr’schen Filmbuchhandlung an der Oberdorfstrasse einen dort bestellten Materialienband über Andrej Tarkowskij abgeholt. In dem Augenblick, als ich den Laden verliess und noch die heisse Türklinke in der Hand hielt, setzte wie auf einen Schlag wolkenbruchartiger Regen ein – es kam mir vor, als stünde ich plötzlich in einem von Tarkowskij eigens inszenierten Gewitter.
III
Rasch entschloss ich mich, im gegenüberliegenden Wirtshaus Zum Weissen Wind bei einem Drink das Ende des Schauers abzuwarten und mir gleichzeitig den eben erworbnen Band etwas genauer anzusehn. Ich lief schräg über die Gasse zum Eingang des Lokals, zog rasch die Tür auf, blieb aber gleich auf der Schwelle stehn, da der Raum zu meinem Erstaunen voll besetzt, von Gesprächslärm durchdröhnt, von Rauchschwaden verhängt war.
IV
Schon war ich dabei, mich umzudrehn und wegzugehn, als ich an einem runden Tisch in der Mitte des Raums einen freien Platz bemerkte, den ich nun sogleich, ohne es mir wirklich vorgenommen zu haben, aber mit irgendwie schlafwandlerischer Zielstrebigkeit ansteuerte, und noch während ich durch den überfüllten Saal ging, erkannte ich an jenem Tisch Elias Canetti, der sich, lebhaft gestikulierend, mit zwei mir unbekannten Gesprächspartnern unterhielt.
V
Nachdem man mir mit einem beiläufigen Nicken bestätigt hatte, dass der leere Stuhl tatsächlich frei war, setzte ich mich und war fast ein wenig erstaunt, dass sich die Runde durch meine Anwesenheit in keiner Weise stören liess. Ich bestellte einen sauer gespritzten Weisswein, begann in meinem Tarkowskij-Band zu blättern.
VI
Die Situation hatte für mich etwas Theatralisches. Mir gegenüber sass und agierte ein Autor, von dem ich wohl alles, ausser den Stücken, gelesen hatte und der mir auch physiognomisch durchaus vertraut war aufgrund der eindrücklichen Presse- und Werbefotos, die es von ihm gab. Mich hingegen konnte Canetti nicht kennen, ich war für ihn ein zufällig hergelaufener Tischnachbar, auf den er nicht zu achten, dem er nichts vorzumachen und auch nichts vorzuenthalten brauchte. Ich wiederum befand mich in der privilegierten Position eines Voyeurs, der sich weder verstellen noch verstecken musste, um beim Beobachten unbeobachtet zu bleiben.
VII
Canettis Runde unterhielt sich höchst angeregt über Solshenizyn, der damals, nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion, in Zürich lebte. Ich weiss noch, dass es um Solshenizyns grossen Lagerroman Der erste Kreis ging und dass Canetti das umstrittene Buch in Schutz nahm mit dem Hinweis, er kenne kein anderes sowjetisches Erzählwerk, das mit vergleichbarer «Tiefenschärfe» (das Wort wurde mehrfach wiederholt) die Problematik des geistigen und physischen Überlebens unter den Extrembedingungen totalitärer staatlicher Repression ausgeleuchtet hätte.
VIII
Die Diskussion darüber verflachte aber bald, und in der Folge ging es nur noch um den Namen einer prominenten Romanfigur, von der Canetti wusste, dass Solshenizyn sie dem dissidenten Publizisten Lew Kopelew nachgebildet hatte. Da keine Gewissheit über diesen Namen gefunden wurde, schloss man darüber eine Wette ab, worauf einer von Canettis Tischgenossen die Telephonzelle aufsuchte, um einen Bekannten anzurufen, der es, wie er meinte, wissen musste. Für mich war dies der Moment, nun ebenfalls aufzustehen. Ich bezahlte rasch und verliess das noch immer überfüllte Lokal, bevor der Dritte aus Canettis Gesprächsrunde vom Telephon zurückkam.
IX
Mehr als zehn, zwölf Minuten hatte mein Aufenthalt im Weissen Wind nicht gedauert, und als ich wieder auf der Gasse war, dampfte der Asphalt, brannte schon wieder die Sonne.
X
Rund ein Jahrzehnt dauerte es in der Folge, bis ich – 1985? 1986? – Canetti erneut ganz zufällig begegnete. Und wieder war es, falls mich die Erinnerung nicht täuscht, ein Hochsommertag. Ich war inzwischen in die Stadt gezogen, wohnte an der obren Klosbachstrasse am Zürichberg, war gegen Mittag unterwegs zum Römerhof, um Zeitungen und Zigaretten zu holen.
XI
Der Platz, wo Asyl- und Klosbachstrasse sich kreuzen, war fast menschenleer, die Urlauber hatten die Stadt verlassen, die gewohnte Hektik war deutlich abgeflaut. Die Strassenbahnen, hier die Nummern 15, 3 und 8, verkehrten nach reduziertem Fahrplan, man hatte längere Wartezeiten in Kauf zu nehmen.
XII
An der Haltestelle stand, ganz allein auf der weitläufigen Betoninsel und völlig regungslos, Canetti. Er hatte sich kaum verändert, ich erkannte ihn sofort, ja, er kam mir noch bekannter vor als bei der ersten Begegnung, was sich vielleicht daraus erklärt, dass ich seither mit grosser Aufmerksamkeit alles gelesen hatte, was neu von ihm erschienen war, darunter die drei Bände seiner Lebensgeschichte, durch die er mir näher kam als durch den schlichten Umstand, dass seine Wohnung (wie ich freilich erst später erfuhr) nur ein paar Häuser von der meinen entfernt lag.
XIII
Erstaunt war ich, dass Canetti trotz der schwülen Morgenluft einen bis unters Kinn zugeknöpften Mantel trug, es war ein olivgrüner Regen- oder Lodenmantel. Canetti hielt die beiden Arme mit geballten Fäusten senkrecht in die Taschen gestemmt, den Kopf hatte er steil nach oben gereckt, so steil und so unverwandt, als beobachtete er eine seltene Himmelserscheinung.
XIV
Vom Klusplatz herunter kam nun aber doch schon die Strassenbahn, die Nummer 3 in Richtung Hauptbahnhof. Canetti, noch auf dem Trittbrett den Blick zum Himmel gerichtet, stieg ohne Eile ein, die blaue Klapptür schloss sich hinter ihm mit einem leisen Pfeifen. Die Szene hatte nur ein paar wenige Augenblicke gedauert, bleibt mir aber bis heute ganz deutlich in Erinnerung – wie ein Filmstill herausgeschnitten aus Tausenden von laufenden und wimmelnden Bildern.
XV
Ich sah Canetti, der ja nun zu meiner Nachbarschaft gehörte, immer mal wieder, sei’s wenn ich am Römerhof einkaufen ging, sei’s wenn ich selbst auf die Strassenbahn wartete. Dennoch kam es nie zu einem Gruss, kaum zu einem Blickkontakt. Canetti brauchte mich, den ihm Unbekannten, nicht zu beachten, wogegen ich, der sehr viel Jüngere, mich noch immer scheute, ihn anzureden, aus Furcht, er könnte meiner Verehrung – und ich seinen Ansprüchen – nicht gerecht werden.
XVI
Einmal, bei stürmischem Wind, kam mir Canetti auf dem Trottoir entgegen, den grossen grauen Kopf hielt er gesenkt, den offenen Mantel drückte er, Hände in den Seitentaschen, an seine Hüften, die Schösse flatterten wie zerschlissene Flügel fast waagrecht hinter seinem Rücken, und für eine Sekunde stellte ich mir vor, dass er nun gleich abheben und ziemlich rasch, ohne seine steife Haltung aufzugeben, in den tief hängenden Wolken verschwinden würde.
XVII
Das erste und einzige Gespräch, das ich schliesslich dann doch mit Canetti hatte, entstand aus einer Zufallsbegegnung beim Kiosk an der Talstation der Dolderbahn.
XVIII
Ich war – Spätherbst 1988 – nach einem langen nachmittäglichen Rundgang durch die Buchantiquariate des Zürcher Oberdorfs unterwegs nach Hause und wollte mir noch, als Lektüre für den Abend, Le Monde mit der wöchentlichen Literaturbeilage kaufen. Ich stand vor dem halb leeren Zeitungsständer, versetzte ihn leicht in Drehung und traf plötzlich durch eine der Lücken im Gestell auf einen blitzenden Blick, der mich genau in diesem Augenblick – zufällig? oder auch nicht! – fixierte.
XIX
Während ich mich dafür entschuldigte, dass ich den Ständer ohne erst zu fragen gedreht hatte, erkannte ich in dem Mann, der wohl gleichzeitig auf der andern Seite nach seiner Zeitung suchte, Elias Canetti. «Sind Sie’s oder sind Sie’s nicht?» fragte ich halb im Scherz und ohne jede Vorüberlegung. Ich grüsste ihn, stellte mich vor. Wir hätten uns doch, fügte ich hinzu, schon mehrfach hier in der Gegend gesehen. Ohne den Schluss meiner Verlegenheitsphrase abzuwarten und ohne im Geringsten darauf zu reagieren, bemerkte Canetti wie nebenbei: «Aber Sie haben doch keinen Begriff davon, wie schrecklich es ist, berühmt zu sein.»
XX
Gleichzeitig wurde ich mir, merkwürdig genug, eines weitern Zufalls bewusst. Im Antiquariat Britschgi an der Rämistrasse hatte ich nämlich knapp eine Stunde zuvor unter Dutzenden von verstaubten, teils wüst vergilbten Taschenbüchern eine signierte, noch auffallend frische Ausgabe von Canettis Fackel im Ohr entdeckt und für zweidrei Franken erworben. Ich zog die Broschur, das Fischer Taschenbuch 5404, das ich noch heute besitze, aus meiner Jackentasche, zeigte sie ihm; ein für mich wertvolles Fundstück.
XXI
«Auch das noch!» brummte Canetti vor sich hin; der ärgerliche Unterton war nicht zu überhören: «Und nun werden Sie mich wohl gleich um ein Autogramm bitten.» Die Situation war bereits so peinlich geworden, dass ich froh war, ihm in dem Büchlein seine eigene Unterschrift zeigen zu können. Da stand sie, mit blauem Kugelschreiber fein hingestrichelt – die Bitte erübrigte sich. «Ach!» sagte er und fügte, nun etwas versöhnlicher und ohne jede Ironie, hinzu: «Fehlt nur noch die Widmung.» Das klang wie eine Einladung.
XXII
Wir gingen, nachdem wir unsre Zeitungen gekauft hatten, gemeinsam über den Römerhofplatz Richtung Klosbachstrasse. Es regnete leicht. Am untern Ende des Platzes blieb Canetti plötzlich stehn, wies mit dem Kopf auf das dortige Café «Brazil» (oder «Brasiliano»?) und sagte: «Gut. Also lassen Sie uns etwas trinken hier.»
XXIII
Ich erinnere mich: Auf der Schiefertafel über der Theke wurden vierzehn verschiedene Kaffeemischungen als Espresso angeboten. Das Café war schwach besetzt, Canetti wählte einen Fensterplatz mit Blick auf die gedeckte Strassenbahnhaltestelle, die wie ein grosser Bühnenraum, erhellt von der grünlichen Strassenbeleuchtung, in der Dämmerung lag. Rasch kamen wir – als hätten wir ein früheres Gespräch wieder aufgenommen – ins Reden. Widerstände, Vorbehalte gab es keine mehr.
XXIV
Canetti erkundigte sich zuerst nach meinen aktuellen Lektüren, dann nach meiner beruflichen Ausrichtung, und als ich ihm von meiner publizistischen und übersetzerischen Arbeit berichtete, war er sofort an einen Beitrag über das «russische» Berlin der zwanziger Jahre erinnert, den wenige Tage zuvor die Neue Zürcher Zeitung von mir abgedruckt hatte. Nun war ich plötzlich das Objekt seines Erkenntnisfurors, er hatte jemanden gefunden, der in einem seiner Interessengebiete – der russischen Literatur – herumgekommen war und von dem er darüber vielleicht das eine oder andre würde erfragen, erfahren können.
XXV
Fragen stellte Canetti unentwegt; er fragte nach historischen Fakten und Zusammenhängen, bat um Präzisierungen, um Ergänzungen. Ich fühlte mich wie in einem Verhör, antwortete aber gern, da mir klar war, dass es ihm einzig um Wissensdaten ging und nicht um persönliche Meinungen oder Ansichten. Unter anderm war, soweit ich mich erinnere, von Iwan dem Schrecklichen und Stalin die Rede. Beide hielt Canetti für ebenso skrupellose wie geniale Machtpolitiker, bei beiden faszinierte ihn die Verbindung von Despotismus und Intellektualität, in beiden sah er auch das gleichsam göttliche, in Wirklichkeit satanische Begehren am Werk, Schöpfer einer neuen Welt, Autor der Geschichte zu sein – ein Begehren, das er in sublimierter Form beim Künstler und auch beim Dichter wiederzuerkennen glaubte.
XXVI
Von daher kam Canetti auf den Skandal des Sterbens zu sprechen. Der Tod, meinte er, sei der einzige ernst zu nehmende Feind des absoluten Herrschers wie des grossen Künstlers. Der Tod, sagte er noch, hindere uns am Leben, indem er uns zum Überleben zwinge. Dieses Paradox liess mich an Wassilij Rosanow denken, der einst, um den Tod hinauszuzögern, eine neue Berechnungsart für das Menschenalter vorgeschlagen hatte. Diese Berechnungsart bestand darin, die Lebensjahre nicht individuell, sondern paarweise zu zählen: das Alter des Mannes plus das Alter der Frau geteilt durch 2. Um über längere Zeit 25 Jahre alt zu sein und zu bleiben, müsste sich der Mann als 28jähriger mit einer 22jährigen oder als 34jähriger mit einer 16jährigen zusammentun, denn als das wahre Alter habe jeweils das Durchschnittsalter beider Partner zu gelten.
Canetti kicherte; er kannte und schätzte Rosanow, hatte dessen Solitaria in der deutschen Erstübersetzung gelesen und fand es keineswegs überraschend, dass der eigensinnige Russe sein Lebensalter durch wechselnde Beziehungen mit immer noch jüngeren Frauen wenigstens vorübergehend stabil zu halten suchte.
«Ich allerdings», hielt Canetti dagegen, «würde es vorziehen, gleichzeitig mehrere Alter zu haben. Warum … wozu sollte ich meine Jahre mit denen einer Frau verrechnen?»
XXVII
Gut eine Stunde, vermute ich, waren wir schon im Gespräch, und eigentlich war es, dachte ich, an der Zeit, zu einem Schluss zu kommen. Ich wollte die Kellnerin rufen, griff zum Portemonnaie in meiner Jackentasche, hielt aber plötzlich Canettis Erinnerungsbuch in der Hand und überlegte einen Augenblick lang, ob ich nicht doch noch eine Widmung erbitten sollte.
Canetti kam mir zuvor mit dem merkwürdigen Satz: «Aber Babel war das Messer, das in mir wühlte.»
XXVIII
Ich verstand sofort, worauf er anspielte, und ich begriff, dass er mit mir über jenes Kapitel reden wollte, in dem er seine Berliner Begegnungen mit Isaak Babel festgehalten hatte. Ich kannte den Text recht gut, hatte ihn eben erst, im Zusammenhang mit dem erwähnten Zeitungsbeitrag, als Nachdruck wieder gelesen in Fritz Mieraus Sammelwerk Russen in Berlin. – Statt zu bezahlen, bestellten wir einen weiteren Drink. Das Gespräch wurde ohne Unterbrechung fortgeführt, nahm nun aber eine Wendung ins Persönliche.
XXIX
Sehr engagiert begann Canetti von Babel zu reden, manches von dem, was er in Die Fackel im Ohr über ihn geschrieben hatte, wiederholte er, sprach dabei aber so lebhaft, als berichtete er zum ersten Mal von jenem Kometen, der damals, im Herbst 1928, in seinen literarischen Himmel eingefallen war.
XXX
Von Literatur, von Isaak Babel als Autor der Reiterarmee und der Geschichten aus Odessa war bloss nebenbei die Rede. Vielmehr erkundigte sich Canetti nach Details aus dessen Leben, nach seinen verwickelten Liebesbeziehungen, nach seinem Verhältnis zum Judentum und zur Sowjetmacht, nach den Umständen seiner Verhaftung und Hinrichtung.
XXXI
Ich gab Auskunft, so gut ich konnte, kaschierte auch nicht meine Bedenken in Bezug auf Babels politischen Opportunismus, seine Faszination für die Macht des Bösen und die Macht schlechthin. Canetti hörte aufmerksam zu, fragte nach, ging aber seinerseits auf meine Gegenfragen nicht ein, auch dann nicht, als ich ihn anhand seines Texts – das Buch lag zwischen uns auf dem Tisch – um die Erklärung einiger Ungereimtheiten bat, die mich (was natürlich ungesagt blieb) an der Authentizität seiner Erinnerungen zweifeln liessen.
XXXII
Am meisten wunderte mich, dass Canetti nicht mehr wissen wollte, in welcher Sprache er sich damals mit Babel unterhalten hatte. In seinem Erinnerungsstück ist von häufigen Begegnungen die Rede, von echter Freundschaft und tiefer emotionaler Übereinstimmung, aber auch von professionellen Gesprächen über Literatur, über gemeinsame Leseerfahrungen. Mir war bekannt, dass sich Babel – auf der Durchreise aus Frankreich nach Sowjetrussland – lediglich für zweieinhalb Tage in Berlin aufgehalten hat, um beim Malik Verlag seine Honorare abzuholen, eine Tatsache, die ich wohlweislich für mich behielt, da Canetti darauf bestand, er habe Babel «in Wirklichkeit» über zwei Wochen hin fast täglich getroffen, habe ihn auf seinen Stadtrundgängen begleitet, habe mit ihm viele Stunden im Wirtshaus verbracht …
XXIII
Die Art und Weise, wie Canetti über Babel sprach (oder sich ausschwieg über ihn), machte mir deutlich, dass es hier nicht allein um ein literarisches Vorbild ging, sondern um die Wahlverwandtschaft mit einem Menschen, mit dem Menschen, der ihm wie keiner sonst den früh verstorbnen Vater ersetzen und damit auch einen wesentlichen Teil seiner defizitären Kindheit kompensieren konnte. Alles, was auf Babel den geringsten Schatten hätte werfen können, blendete Canetti konsequent aus, und ich gewann den Eindruck, dass er ihn ganz für sich haben, ihn unbeschadet als väterliche Autorität erhalten wollte. Es war, als hielte ihn die sanfte Gewalt der Figur besetzt.
XXXIV
Halb amüsiert, halb irritiert nahm Canetti zur Kenntnis, dass Babel zur Zeit seines Kriegsdiensts in der kosakischen Reiterarmee nicht als Jude wahrgenommen wurde, sondern als «vieräugiger» Intellektueller, mithin als Brillenträger, als Otschkast. Dieser russische Ausdruck löste bei Canetti sofort eine naheliegende lautliche Assoziation aus:
«Der Otschkast als Outcast!»
Und er setzte hinzu:
«Wie wär’s mit Canetti als Cannot?»
XXXV
Was Canetti über Isaak Babel geschrieben hatte und was er mir über ihn berichten konnte, brauchte nicht wirklich geschehen zu sein, es hätte auch hergeleitet werden können aus dessen stark autobiographisch eingefärbten Erzähltexten und ergänzt durch Wunschdenken und Phantasie. Canetti betonte im Übrigen selbst, dass Erinnerung nur als Erfindung Authentizität beanspruchen könne, und er sprach auch von der Enttäuschung über ein Leben, das zwar dokumentierbar, als dokumentiertes aber umso unwirklicher war. «Was sollte denn», fragte er herausfordernd, «an einem Lebensdokument authentischer sein als an einer Erzählung?» Damit endete das Gespräch. Wir verabschiedeten uns ohne besondere Herzlichkeit. Die erhoffte Widmung zur Fackel im Ohr blieb ungeschrieben.
XXXVI
Wenig später zog ich in einen andern Stadtteil um. Ich bin Canetti nie wieder begegnet, erhielt auch nie eine Antwort auf einen Brief, in dem ich ihn aufmerksam machte auf ein paar neuere Archivpublikationen über Babel. Jahre danach unterstrich ich in seinen letzten Aufzeichnungen den Satz: «Viel ist mir entgangen, den Wenigsten von denen, die meine Lebenszeit ausgemacht haben, bin ich begegnet.»
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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