ÜBERM BUCH
(nach Rilke)
Ich las und las, sass da, vergass –
Ein grosser Regen schlug ans Fensterglas.
Doch hörte ich den Regen nicht,
Im Buch vergrub ich mein Gesicht.
Wie Runzeln krümmten sich die Zeilen,
Und während Stunden stand die Zeit,
Stand still, ging rückwärts in die Ewigkeit.
Ein Wort sah ich durch alle Zeiten eilen,
Das rote Wort für Abend, Abschiedsleid …
Jetzt reisst der Faden, und wie Perlen kollern
Die Lettern in die Leere, rollen fort.
Ich weiss, die Sonne hätte an den Ort,
Den sie verliess, noch einmal wiederkehren sollen
Aus all den Gärten übervoll von Abendrot.
Doch nun ist Nacht, so weit ich sehe.
Die Bäume stehen starr am Strassenrand,
Die Menschen reichen schweigend sich die Hand,
Und wenn sie reden – jedes Wort ein Pfand,
Mit Gold nur aufzuwiegen. Welche Nähe!
Und wenn ich dann vom Buch die Augen hebe
Und mich ins Freie wage mit dem Blick –
Wie rasch da fern und nah zusammenrückt
Und wie genau ich mit der Zeit zusammenlebe!
Das Dunkle ist’s, wonach ich strebe,
Mein Auge taucht ins nächtliche Massiv,
Der Erde war der Zaun zu eng, der Garten schlief,
Als sie gewaltig über sich hinaus
Und in den Himmel wuchs – der erste Stern
Steht überm letzten Haus,
Er ist so nah und ist zugleich so fern.
(1958)
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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