I
Zu den grössten Herausforderungen übersetzerischer Arbeit gehören jene Sätze oder Absätze, Verse oder Strophen, die in der Originalfassung offenkundig misslungen, womöglich fehlerhaft sind. Es gibt derartige Schwächen auch bei Meisterwerken. Der Übersetzer hat sich dann die Frage zu stellen, ob er formal misslungene oder inhaltlich falsche, etwa der Logik, der Physik, der Geschichte widersprechende Passagen unverändert beibehalten oder berichtigen solle.
Am schwierigsten ist diese Frage in Bezug auf poetische Texte zu beantworten. Zwar lassen sich Formfehler in Gedichten leicht erkennen, zu beheben sind sie – zumal in der Zielsprache – kaum; umgekehrt sind Denkfehler in vielen Fällen (man vergegenwärtige sich diverse Beispiele symbolistischer, futuristischer, surrealistischer Dichtung) nicht eindeutig auszumachen, nämlich von gewolltem Alogismus zu unterscheiden. Da mein eigenes Konzept, grob gesagt, darin besteht, Texte ganzheitlich zu übersetzen, also nicht primär wortgetreu, nicht bloss philologisch korrekt, sondern so, dass ein Gedicht als solches – in seiner integralen Gestalt, seiner rhythmischen Anlage, seiner vorherrschenden Intonation – in die Zielsprache geholt wird, tendiere ich naturgemäss dazu, Schwächen oder Fehler des Originaltexts (wenn sie denn nicht gewollt sind!) auszugleichen, gelegentlich auch zu bereinigen. Dass dieses Verfahren problematisch, riskant, zumindest diskutabel ist, steht ausser Frage. Ich möchte es anhand eines Fallbeispiels erklären und plausibel machen.
II
Die Vorlage, ein dreizeiliges Gedicht in tschechischer Sprache, stammt von der Prager Autorin Kateřina Rudčenková und ist betitelt mit der französischen Wendung C’est moi (Das bin ich); es weist keine Interpunktion, keinen Reim, keine klangliche Instrumentierung auf, seine Sprachform ist so unprätentiös, so völlig kunstlos, dass die Übersetzung sich mit der Wiedergabe dessen begnügen kann, was der Text aussagt – die Bildhaftigkeit der schlicht hingesprochenen Aussage ist das eigentlich und einzig Poetische an diesem Gedicht. Die deutsche Interlinearfassung liest sich wie folgt:
C’est moi
Der Nagel am Finger wächst aus
während die Sphinx schliesst
die abgebröckelten Augen.
Eine deutsche Literaturzeitschrift hat dieses Gedicht unterm Originaltitel in folgender Übersetzung abgedruckt:
Der Daumennagel wächst sich aus
während die Sphinx
die abgebröckelten leeren Augen schliesst.
Warum hier aus dem «Nagel am Finger» ein sich auswachsender Daumennagel wird, ist ebenso uneinsichtig wie die Tatsache, dass der aus dem Original übernommene Fehler – wie sollten Augen «abbröckeln» können? – noch akzentuiert, indem sie eigenmächtig das Adjektiv leer dazu setzt – ist schon die Vorstellung «abgebröckelter» Augen, die geschlossen werden sollen, einigermassen verfehlt, so wird dieses Versehen durch einen weitren sprachlogischen Fehler zusätzlich (gewollt? ungewollt?) bestätigt; denn noch weniger als «abgebröckelte» können «leere» Augen geschlossen werden, abgesehen davon, dass Augen ohnehin nicht – im Unterschied zu Augenhöhlen – «leer» sein können.
Das einzige Problem, das sich vom Original her stellt, ist die adjektivisch verwendete Partizipialform abgebröckelt (tschechisch «vydrolený», eigentlich herausgebröckelt). Klar ist, was für ein Bild die Autorin vor sich hat und sprachlich vergegenwärtigen will: die Augäpfel der steinernen Sphinx sind im Lauf der Zeit verwittert, der Stein ist unter Regen und Hitze allmählich löcherig und narbig geworden. Zu vermuten ist, dass die Autorin die Szene zwar so imaginiert, dazu aber ein nicht exakt passendes Epitheton gewählt hat. Denn was «abgebröckelt», «herausgebröckelt» ist, hat sich aufgelöst, ist nicht mehr vorhanden und kann infolgedessen – da es sich um Augen handelt – weder geschlossen noch geöffnet werden.
In meiner Übersetzung liest sich das Gedicht wie folgt:
C’est moi
Der Fingernagel wächst und wächst
derweil die Sphinx
die ausgelaugten Augen schliesst.
Mein Vorschlag, die zerbröckelten Augen der Sphinx ausgelaugt zu nennen, widerspricht zwar der lexikalischen Bedeutung der Verbform «vydrolený», stimmt aber doch mit dem gemeinten Vorgang überein und bildet auch keinen Gegensatz zum Schliessen der Augen, die wohl verwittert, an der Oberfläche angegriffen, nicht aber gänzlich «herausgebröckelt» und zerbröselt sind. Dazu kommt ein merklicher übersetzerischer Gewinn an Klangqualität, bewirkt durch die dreifache Abfolge des au-Doppellauts und den ebenfalls dreimal involvierten Konsonanten –g- ; in der tschechischen Vorlage gibt es dazu allerdings keine Entsprechung.
Verbesserung – also – oder Verfälschung des Originals? Glückliche Lösung oder unstatthafter Übergriff?
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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