Was soll man, was kann ich mit einem Buch anfangen, das sich mir, wie Anja Utlers brinnen aus dem Jahr 2006, schon vom Titel her verschliesst, das keine Gattungsbezeichnung trägt und auch keine bestimmte Textsorte ausweist, das sich, noch bevor es aufgeschlagen wird, als «dunkel», «schwierig», womöglich gar als «unverständlich» zu erkennen gibt und aus dem man in der Folge tatsächlich nicht ohne Weiteres (nicht ohne Anstrengung) klug wird?
Ich kann mir, um etwas anzufangen damit, ein Minimalprogramm vornehmen: erst mal lesen, was dasteht, ohne zu fragen, was mit dem Text «gemeint» ist, was er mir, dir, uns «sagen» will. Nicht was die Autorin meint, nicht was sie zu sagen hat, ist mein Interesse, nicht also die Bedeutung, die sie möglicherweise in ihr Schreiben, ihr Geschriebnes investiert, sondern der Sinn, den ich daraus gewinne. Der Sinn ist nicht gegeben, er ist der Mehrwert, den jeder Leser, unabhängig vom Meinen des Autors und nicht selten gegen dessen Intention, auf seine Weise hervorbringt.
Das Verschlossne ist das zu Erschliessende, es weist nicht ab, es lädt ein.
Schwerverständliches, Unverständliches kann naturgemäss nicht einfach gelesen, es muss erlesen werden. Dazu gehört vorab die Einsicht, dass das Verstehn solcher Texte nicht so sehr eine Sache des Könnens, vielmehr des Wollens ist. Verstehn kann hier nicht heissen, mit einem Text fertigzuwerden, ihn hier-heute als Mitteilung verstanden zu haben, also – ihn zu haben.
Zu haben ist kein Gedicht, das Gedicht ist.
Das Einzige, zugleich das Beste, was ich als Leser daraus machen kann, ist: ich fange etwas an damit. Wie aber fange ich nun mit dem Anfangen an? Ich suche am Buch und im Text nach Ansatzpunkten zu einer kritischen, das heisst (wie das Griechische «krínein» – und die davon abgeleitete «Krise» – es will:) zu einer unterscheidenden, einer musternden Lektüre.
Erster Ansatzpunkt ist naturgemäss der Werktitel, in diesem Fall nun (klein geschrieben:) brinnen. Der Duden kennt das Wort nicht. Der Form nach könnte es ein Verb sein, auch ein Substantiv, am ehesten in der Mehrzahl. Man weiss es nicht, man mutmasst.
Da keine fassbare Wortbedeutung vorliegt, ist man auf das Wort als solches, auf das Wort in seiner Laut- und Schriftgestalt verwiesen. «Brinnen» bietet sich für mancherlei assoziative Lektüre an – klanglich erinnert es an «bringen», «beringen», «beginnen», anagrammatisch birgt es unter anderm die Elemente «binnen», «innen», «ihnen», «innern», «rinnen», «rieb», «rein», «nie», «bin». Das ist, das wäre fast schon ein Programm.
Die Lektüre bestätigt denn auch, dass das Titelwort als Leitwort eingesetzt und vielfach entfaltet wird, wobei die Silbe «-in-» nach immer wieder neuen Wortverkörperungen ruft: «IHNen nur hIN: zu sINken, wINternd, die / lippen sINd: wässrig nach / INnen betupft seien […] und: das eigene bINnen gelassen» und so fort. – Noch ein Textextrakt zum Mit- und Weiterlesen:
und scheitelst mich, lippen, das lid vom lid –
sagst: schön – dieses klare, dies glasige schwarz
sacht umschwappt sagst: als
glimmer so wirst du nach innen dich schicken mir
hellend durchwellst: mich mit körnern von licht –
langst
Erst auf Seite 15 rückt die Autorin als Zitat ein mittelalterliches – mittelhochdeutsches – Frauenlob ein, das den Lektürecode nicht nur für den Buchtitel, sondern für das Buch insgesamt abgibt; es lautet: «ach wê, ich nâch dir brinne / sam in der gluot ein sinder». Damit wird «brinnen» auf die Bedeutung von brennen festgelegt, die anfängliche Mehrdeutigkeit, gewonnen aus freier Klangassoziation, erweist sich als subjektive Sinnbildung durch den Leser, der in diesem Fall ich bin. Das heisst jedoch nicht, dass diese vorgängige Sinnbildung verfehlt oder unzulässig ist – sie hat spontan stattgefunden, und sie wird auch bei der weitern Lektüre in schwebender Präsenz Bestand haben.
In heutigem Deutsch liest sich das Zitat wie folgt: «o weh, ich brenne nach dir / wie in der Glut die Schlacke». Dieses Frauenlob – lobt die Frau? wird sie gelobt? – erweist sich als das Continuo, an dessen Leitfaden der gesamte Text sich entfaltet.
Auf der Darstellungsebene, die nur skizzenhaft wahrnehmbar wird, geht es dementsprechend um zwei Personen, von denen die eine nach der andern «brennt» wie ein glühendes Stück «Schlacke» (Sinter). Die Personen tragen keine Namen und sind auch nicht nach Geschlecht unterschieden; sie werden lediglich pronominal benannt als «ich», «du», «wir» (beide), wobei am häufigsten von uns («wir») die Rede ist, seltener von dir («du»), so gut wie nie vom mir («ich»).
Die Körperlichkeit der beiden lyrischen Protagonisten bleibt durchweg fragmentarisch, nimmt keine fassbare Gestalt an, beschränkt sich im Wesentlichen auf den Bereich des Kopfs («gesicht», «haar», «auge», «lid», «mund», «zunge» sowie, dominant, «lippen»), der Rumpf kommt nicht ins Bild, nur die Extremitäten («fuss», «knie», häufiger: «finger(kuppen)» werden angedeutet; auffallend ist die mehrfache Wiederkehr von «schweiss» (rinnen, glitzern) und «salz» als Farb- und Geschmacksempfindung.
Auf metaphorischem Plan wird in vielfacher Abwandlung das Bild von der Glut beziehungsweise von der im Feuer sich verzehrenden Schlacke vorgeführt, ein Bild, das von Hell-Dunkel-Kontrasten geprägt ist: «schwarz», «finster», «dunkel» einerseits, «glimmen», «glitzern», «schimmern» anderseits. Farben, genauer: Farbbezeichnungen gibt es in diesem Chiaroscuro nicht – keine Buntheit, nirgends, keine Augenweide; stattdessen schmerzhafte Blendung, Eklat.
Beherrschend in dieser Sphäre ist das (Wort) «licht», es ist die stärkste substantivische Entsprechung zum Thema- und Leitwort «brinnen»/«brennen». Dem Licht sind naturgemäss die Elemente Luft und Feuer zugeordnet, dem Dunkel das Wasser; die Erde – und damit die Schwerkraft – hingegen bleibt ausser Betracht, was den Eindruck der Schwebe – des Schwebens von Dingen wie Wörtern – verstärkt.
Die sinnliche Wahrnehmung geht primär über das Auge, der Ausdruck über den Mund, und immer wieder, bisweilen sexuell konnotiert, über die Lippen: «dieses viele dies: salz! Von den immerfort / tastendden nägeln, der zunge es zehrt / zerrt: alles feuchte hervor aus mir / krustet, in furchen, mich aus / sagst – / lass mich ich / ich –»
Visuell wird auch (so jedenfalls sehe ich es beim Lesen) ein Händeringen dargeboten: ein wiederum nicht näher bestimmtes lyrisches Ich – ohne Fürwort bloss durch die Verbform «seh» (d.h. ich sehe) angedeutet – schaut sich selbst auf die verschlungnen, von Hitze und Anstrengung geröteten Hände; spricht:
seh: meine hände die
schlingen sich hin aneinander, berühren so rötend gerändert
als ob: von innen her
brinnen so liegen sie, still-
ja sie: splittern, ich splittre, massiv: und von allem das licht.
Syntaktisch gefügte Sätze gibt es in dem weitläufigen, als ein Gedicht über rund sechzig Seiten sich auslebenden Text nicht. Nur ansatzweise wird da und dort eine Aussage eingespurt, zumeist aber gleich wieder abgebrochen oder (bei Anja Utler ein oft angewandtes Verfahren) durch einen Stottereffekt abgeschmettert:
und doch wir: lipp, lid bezucken
die wie: bestücken – stimmen sich in
diesem schlags, hin, sie sichtlich
Oder:
haben wir das: nur versehen uns –
blicklings, so: ineinander geschwirrt,
sind wirs, irrt, dass ein jedes: schrickt.
Die beiden Textfragmente zeigen im Übrigen, wie hier am Wort gearbeitet wird. In der Wortfolge «schlags, hin, sie sichtlich» sind anagrammatisch die «Schlacke» sowie deren Synonym «Sinter» gleichsam abgepackt, und beim Neologismus «blicklings» handelt es sich, leicht erkennbar, um eine Ableitung (mit gleichzeitiger Bedeutungsumkehr) zu blindlings.
Der Hang zu eigenmächtiger Umbildung oder Neubildung von Wortmaterial ist bei Anja Utler stark ausgeprägt, erbringt immer wieder bemerkenswerte Ergebnisse, hin und wieder aber auch bloss schrille Kreationen mit quasiexpressionistischem Pathos. Besonders haben es ihr Partizipialformen wie «umlippt», «durchnadelt», «beplatzt», «besternt» (für gestirnt), «durchsträhnt» u.ä.m. angetan, welche die sonst weitgehend fehlenden Adjektive zu ersetzen haben.
Im Bereich der Tätigkeitswörter sind es vor allem ungewöhnliche Reflexivbildungen, die auffallen, aber auch Verben, die durch veränderte Präfixe verfremdet werden: «sich ablauben», «sich (etwas) zähnen», «sich umgischten», «sich scheiten», «sich langsamen», «sich (selbst) stauen», «umblatten», «bestolpern», «besintern», «begrieseln», «verhaaren» (analog zu verharren) usf.
Zusätzliche expressive Verdichtung wird erreicht durch den Einsatz vieler verbaler, oft einsilbiger Intensivformen vom Typ «glitscht», «flickert», «glitzert», «schrickt», «fleihn», «stössts», «klatscht», «stiemt». Das Tätigkeitswort in all seinen Formbildungen ist bei Anja Utler die dominante Wortart, dies in deutlichem Unterschied etwa zum Substantiv, das nur in beschränkter Auswahl, dafür aber in häufiger Wiederholung zum Einsatz kommt.
Eigennamen werden (abgesehen von den im Text zitierten Autoren Ajgi, Björk, Lavant, O’Leary, Stifter u.a.) ebenso wenig verwendet wie geographische Bezeichnungen; einzig der gehäutete Marsyas findet (im dritten Textteil) Erwähnung.
Wesentlichen Anteil an der Textkonstitution von brinnen hat die typographische Gestaltung. Das Gedicht besteht aus drei grossen Sequenzen, diese wiederum aus zahlreichen Textpartikeln mit zum Teil strophischem Charakter. Die Textstücke schweben entweder frei – wie Buchstabenwolken – in der weitläufigen Weisse des Papiers oder sind in zwei-, manchmal drei Spalten angeordnet, immer jedenfalls auf ungewohnte Weise gegeneinander verschoben. Der Text, mehrfach unterbrochen, nein: ergänzt durch leere Seiten, kann so fast ungehemmt (eingegrenzt nur durch das Buchformat) expandieren, die Buchstabenwolken wirken (wenn ich den Vergleich durch einen Zusatzvergleich präzisieren darf ) wie Sprechblasen, die herren-, autor-, ich- und vormundlos durch den Raum driften. Man kann sich (und ich darf mir) dazu eine grosse Stimme vorstellen, die in wechselnder Modulation – mal als männliche Kopfstimme, mal als weiblicher Tenor – einen verzweigten Monolog spricht, der mich, dich, uns zu Wort kommen lässt, in dem also nicht nur ein Ich sich ausspricht, sondern gleichermassen jenes Es, das die Sprache ist.
Textgenese, Schreibverfahren, Sprachstruktur lassen sich aus den vorliegenden Gedichten verhältnismässig leicht rekonstruieren, das Sagen bleibt hier dem Gesagten durchweg vor- und übergeordnet, das Verfahren ist bei weitem interessanter als das Gemeinte. Bleibt die Frage, wie das alles einzuschätzen, dann zu beurteilen ist.
Ich rede, versteht sich, nicht vom Geschmacksurteil, denn was gefällt oder nicht gefällt, lässt sich durch objektive Kriterien weder bestimmen noch gar begründen. Mir können die Utlerschen Gedichte insgesamt nur mässig gefallen, punktuell finde ich sie «ansprechend», über weite Strecken kommen sie mir jedoch entschieden überanstrengt, auch «kitschig» vor; was ich finde und empfinde, ist allerdings unerheblich, kann kein Qualitätskriterium sein und braucht auch niemanden zu interessieren, schon gar nicht die Autorin.
Zur Bewertung, besser: zur Wertgebung der vorliegenden Texte bilden deren Struktur- und Stilanalyse eine – zwar notwendige – Voraussetzung, doch diese wäre zu ergänzen durch den jeweils individuellen Lektüreertrag, der – wiederum notwendigerweise – über das hinausreichen müsste, was in den Texten an Bedeutung angelegt ist.
Oder nochmals anders gesagt: Der Wert (die poetische Qualität) dieser wie aller Dichtung bemisst sich einerseits daran, was der Autor, die Autorin – wie – gemacht hat, anderseits daran, was der Leser damit anfangen kann beziehungsweise welchen Sinn er für sich daraus gewinnt, unabhängig davon, welche Bedeutung in den jeweiligen Text investiert wurde. Produktion und Rezeption sind also bei literarischen Werturteilen gleichermassen zu berücksichtigen. Letzteres lasse ich in diesem Fall dahingestellt, bin mir keineswegs sicher, ob brinnen ein gutes, starkes, einträgliches Buch ist. Trotz gewollter Dunkelheit erweist sich der Text in seiner Machart als völlig transparent, und hat man diese Transparenz erst mal durchschaut, bleibt an Substanz nicht eben viel übrig. Liebeslust und Liebesleid, Künstlertum und Lebensschmerz – Anja Utlers hauptsächliche Schreibanlässe – gehören zu den grossen Themen der Weltliteratur und bedürfen keineswegs der Verdunkelung, vielmehr der immer wieder neuen, das heisst der erneuernden Verfremdung, um überhaupt noch adäquat sagbar zu sein.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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