Franz Mon: fallen stellen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Franz Mon: fallen stellen

Mon-fallen stellen

DIESE ALLE

die toten lassen mich nicht in ruhe.
sie schreien. sie spielen
tischtennis über größere entfernung.
um atem zu holen bücken sie sich
beim aufschlag. wie kinder
zahlen sie die hälfte wenn sie reinkommen.
hamlet ist keiner von ihnen.
doch er hört ihnen zu. hamlet
ist ihr größter fehlschlag.
viel lieber als ihn zeigen sie dir
ihren rücken wenn ein ball auf-
schlägt und sie mit der zunge den mund
aufsperren um ihn zu empfangen.
trotzki steht ihnen nahe weil er
schweigt wie ein roller mit den rädern
nach oben.
er macht ihnen die mutprobe vor
indem er vorm haus
auf und ab geht
und an dem engel aus essig lutscht.
trotzki ist ihr fall ohne
auferstehung ohne brüstung ohne konzept.

 

 

 

Es ist zu verstehn, glaubt es mir

– Franz Mons Arbeiten gegen das allzu Geläufige: fallen stellen. –

Es werden wieder Märchen erzählt. Danach, so habe ich neulich gelesen, versammelten sich in den sechziger Jahren exklusive Leute mit sehr kurz geschnittenen Haaren in marmorierten Schalterhallen von Großbanken, um sich gegenseitig die mathematisch betriebene Zerlegung der Sprache vorzuführen, aufdringlich und autoritär die asketische Öde einer Poesie zu exerzieren, die sich jesuitisch im Labyrinth der Zeichen gefangen hatte. Konkrete Poesie! Das erinnert mich an einen Besuch von Siegfried Lenz 1956 an meinem Arbeitsplatz im Claassenverlag, wo er mir, dem aufs äußerste Widerstrebenden, beweisen wollte, ich sei der Mathematiker des Gedichts. Oder die Rede von Günter Grass, abstrakte Bilder erinnerten ihn immer an Schweizer Käse.
Vorurteile kann man, so ist meine Erfahrung aus ungefähr dreißig Jahren Umgang mit Literaturöffentlichkeit, nicht durch Information auflösen, am allerwenigsten im deutschen Sprachbereich. Also lassen wir’s. Einer jener exklusiven Leute, von denen im zitierten Märchen die Rede ist, fing, nicht in den sechziger, sondern Ende der fünfziger Jahre, an, konsequent eine Literatur zu vertreten und zu produzieren, die bis heute verteufelt wird. Dabei wäre nichts anderes nötig, als nachzulesen oder anzuhören, was da steht oder was gesagt wird. Das scheint am schwierigsten zu sein für die, die an Stelle von Methode Gefühle, nestwarme Übereinkunft, Sentimentalität und handfeste Polemik erwarten.
Franz Mon, geboren 1926 in Frankfurt, von Beruf Verlagsleiter, hat zuerst publiziert in der von Walter Höllerer herausgegebenen Anthologie Transit, 1956, und erregte Aufmerksamkeit mit der eigenen Anthologie movens, 1960, von der Enzensberger und der Suhrkamp-Verlag das Schlagwort von der Movens-Bande ableiteten. Ein erster eigener Band, artikulationen, 1959, blieb weithin unbeachtet, und erst mit dem Lesebuch, 1967, und herzzero, 1968, festigte sich sein Rang als einer der bedeutendsten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur.
Aber wer hat diese Bücher gelesen? Wer ist als Kritiker unbefangen genug, die wahrhaft einmalige Leistung von herzzero anzuerkennen, ja nur wahrzunehmen? Dies ist ein trauriges Kapitel, denn nicht bloß Unwissenheit, Ignoranz haben daran Schuld, sondern aktive, vorurteilende Gegnerschaft. Und das, obwohl auch in theoretischen Texten Mon einige der überzeugendsten Vorschläge zur Einsicht in den gegenwärtigen Stand der literarischen Produktion gemacht hat. Oder weil er es getan hat? Nimmt man es gerade ihm übel, daß er den trüben Konsensus aus Restauration und Gruppe 47 niemals beachtet hat? Eher wird das in der Diskussion der Neuen Musik oder in manchen Bereichen der bildenden Kunst wahrgenommen (obwohl auch da, wie es scheint, immer noch die pathetische Sentimentalität mehr Chancen hat, wenn sie nur als wild deklariert werden kann) als in der Literatur (siehe oben: Märchen).
Eine der Wurzeln in Franz Mons Literatur bezieht sich auf die akustische, die phonemische Seite der Sprache. Es hat ihn von Anfang an interessiert, nicht nur wie Sinn aus Wörtern entsteht, sondern wie Wörter entstehen aus Lauten, aus Artikulationen. Er hat daraus ein methodisches und konstruktives Prinzip gewonnen. In herzzero gliedert sich der Text ebenso nach artikulatorischen Richtlinien wie nach syntaktischen. Das hat dazu geführt, daß Mon sich über lange Jahre hinweg einem Medium zuwandte, das gehört, nicht gelesen werden soll: dem Hörspiel. das gras wies wächst stellte um 1970 das programmatisch vor, wurde aber, außer von Spezialisten oder musikalisch Interessierten, ebenso wenig wahrgenommen wie herzzero. In den siebziger Jahren hat Mon die Hörspielarbeit fortgesetzt, eine Reihe von vorbildlichen und richtungsweisenden Produktionen sind entstanden, möglich vor allem durch die Zusammenarbeit mit Klaus Schöning in der Hörspielabteilung des Westdeutschen Rundfunks.
Mit dem vorerst letzten Hörspiel war auch wieder eine Buchpublikation verbunden: hören und sehen vergehen – ein stück für spieler, stimmen und geräusche, erschienen 1978 bei Klaus Ramm in Spenge, jenem Einmannverlag, der auf mustergültige Weise unter anderem Werke von Hartmut Geerken, Jochen Gerz oder Oskar Pastior verlegt. Dieses Buch ist ein Textbuch zum Hörspiel, das ursprünglich so etwas wie eine Oper werden sollte, man muß also gerade das ergänzen, was entscheidend ist: das Hörbare. Textbuch heißt nun aber nicht Behelf, sondern ohne Akustik werden Struktur, Aufbau, konstruktiver Zusammenhang deutlicher. Das Textbuch ist zugleich so etwas wie Grundriß und Aufriß zu einer Architektur.
Erst über die Schwelle dieses Textbuchs hinweg hat Franz Mon sich entschließen können, literarische Texte seit und nach herzzero zu sammeln und zu einem nun von vornherein als Lesebuch geplanten Band zu vereinen und zu publizieren: „fallen stellen texte aus mehr als elf jahren“. Das erste der insgesamt neun Mottos, in einer besonders kleinen und leseerschwerenden (mit Absicht) Type gesetzt, lautet:

worttaktik I wörter gebügelt, umgeboxt, aus vielerlei windungen gerade gebogen, ins licht gerückt, wenn einer sie bückt. in der backentasche vergessen. kein stromstoß, kein malstrom unter der zunge. zurechtgeschnitten mit der blechschere, unregelmäßige krümmungen aus kleinsten geraden mit scharfschartigem rand.

Das klingt eher wie eine Anweisung zur Herstellung von plastischen Körpern, Collagen als wie ein Hinweis auf Literatur. Ist es Literatur, was Franz Mon in mehr als elf Jahren gesammelt hat: Nein, wenn unter Literatur immer noch die Beweihräucherung von Gefühlen, das Ausspinnen von Döntjes, die sowieso jedermann kennt, die flüchtige Verkleidung von ideologischen Aufschwüngen, von sogenannter revolutionärer Rhetorik, der letzte Aufguß erbaulicher Sprücheklopferei (Handke) usw. verstanden wird. Es ist Literatur, wenn darunter ein geduldiges und unnachgiebiges Eingehen verstanden wird auf die Basis, aus der sich unser alltägliches Gequatsche aufbaut, die Basis, die unter der verknöcherten Formalität der fixen Redewendungen, die wir als Beitrag zur Kommunikation mißverstehen, schon fast nicht mehr zu erkennen ist. Es ist Literatur, wenn es literarisch wichtiger ist, durch eine leichte Verstellung, eine kleine Verschiebung Nebensinne, Hintersinne, Unverhofftes zum Vorschein zu bringen als weiterhin darauf herumzutrampeln, was wer wem tut, was wem passiert, was wer an Überzeugung und Glauben hochzuhalten habe. Schreibenlernen dadurch, daß man versucht, seine Wehwehchen in Worte zu fassen, nun gut. Aber doch nicht für immer! Und wenn man dahinein zurückfällt, es dennoch für wichtig nimmt, doch das andere, das Prinzipielle nicht vergessen! Denn es geht um eine neue Fundierung.
Mons „texte aus mehr als elf jahren“ stellen noch einmal so etwas wie einen Musterkatalog des Schreibens in dieser Zeit vor und dar. Das sind nicht Wortspiele. Sondern die Irritation am allzu Geläufigen schlägt dieses Allzugeläufige aus dem Sinn heraus, den es zu haben scheint. Der Schein des Zusammenhangs, der neuerdings wieder fröhliche Urständ feiert, wird als das Scheinhafte aufgedeckt, aus dem in Wahrheit etwas ganz anderes spricht. Dies ist auch nicht der Rückzug der Sprache aus den Bedeutungszusammenhängen, die als verderbt anerkannt werden würden, wenn man nur richtig normal reden würde. Hier, in diesem Band, entwickelt Mon die Ansätze, die Anschwemmungen der Phantasie aus dem Wort, aus dem Reden. Zum Beispiel „Augen“:

1 stell dir zum beispiel vor. 2 stell dir zum beispiel vor augen. 3 stell dir beispielsweise vor, wie ein auge aussieht. 4 stelle dir einfach vor, ein auge käme dir unter die augen.

Bis zum Schluß:

33 stelle dir beispielsweise vor, wie ein auge aussieht, das in blinder wut ausgerissen wurde, weil es einen augenblick lang sich selbst nicht traute, sondern sich mitreißen ließ vom anblick eines auges, das blinde wut ausgerissen hatte in dem augenblick, da es das schwarze im auge des herrn zu erkennen vermochte.

Bernd Jentzsch, mit dem zusammen ich eine Weile ein Periodikum namens Hermannstraße 14 herausgegeben habe, murmelte bei Vorlage solcher Texte das Wort: „Gegenstandslos.“ Er meinte, sie hätten für ihn keinen erkennbaren außerliterarischen Realbezug.
Und das ist es, was die überkommene, verallgemeinerte und zum wievielten Male restaurierte Auffassung von Literatur am Ende des 20. Jahrhunderts so hoffnungslos out of date macht. Es gibt nur das Nachgerede. Nun gut. Auch ich füge mich vielfach darein, weil ich eine Schwierigkeit zu erkennen meine, dem nicht zu entgehn. Aber dann soll man doch wenigstens die Literatur und die Autoren gelten lassen, die es versuchen, wirklich in den Abgrund zu reichen, von dem Heidegger etwas pathetisch und mißverständlich bei Rilke sprach. Hier, in diesen „fallen“, die der Autor Franz Mon „stellt“, ist eine solche Literatur zu finden. Und es wäre schon viel gewonnen, wenn diejenigen, die das Buch in die Hand bekommen, nicht sofort blindlings zu assoziieren begännen, als ob sie auf der Couch eines Psychoanalytikers lägen, der in diesem Fall ausnahmsweise vielleicht Marcel Reich-Ranicki heißen könnte, sondern lesen und nachdenken, was sie lesen. Es ist zu verstehn. Glaubt es mir.

Helmut Heißenbüttel, Süddeutsche Zeitung, 8./9.5.1982

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Heinrich Vormweg: Gegen den Strich
Merkur, Heft 7, 1982

 

Über die Unverständlichkeit

– Zur Krise der Repräsentanz. –

Franz Mon wird ein Hauptvertreter der Konkreten genannt – da sind wir schon mitten drin in der Krise der Repräsentanz. In dieser poesiefeindlichen Welt darf nichts  f ü r  s i c h  sprechen, auch nicht die Sprache, alles spricht für ein anderes, alles repräsentiert etwas außer sich, nichts darf es selbst sein, eines (einer) vertritt etwas, ist sogar Hauptvertreter, wird aber doch meist an der Tür der Sprachzensoren abgewiesen – wenn er den Mut hat, den Sprachfuß in die Tür zu stellen auf der Schwelle zu dem, was man als ,Verständlichkeit‘ bezeichnet. Wer denn und wo denn und wofür? Verständlich ist, was sehr sichtbar repräsentiert für etwas, das sich einordnen läßt. Ordnung muß sein. Wenn sich die Störer der Sprachordnung, die Unterbrecher des Redeschwalls ,einordnen‘ lassen als ,die Konkreten‘, dann ist die gefährdete Ordnung wiederhergestellt, dann sind sie zwar nicht anerkannt, noch weniger erkannt, aber doch eingemeindet, etikettiert, und seis als ein Häuflein von Narren, die unverständliches Zeug reden, weil sie sich in einer Sprachkrise befinden oder weil sich die Sprache dem Schweigen nähert. Diese Vorgänge sind nicht neu in der Geschichte, sie haben sich nur verschärft, auch in der Sprache treten Tauschwert und Gebrauchswert so weit auseinander, daß wir fast nur noch uns in der Sphäre des ersten bewegen, der Tauschwert des Worts, das Sprachklischee, wird sprachwörtlich als bare Münze genommen, angeblich zum Verständnis, gegen welches Unverständlichkeit eine Sünde ist, die Sünde gegen den reibungslosen Sprachablauf. Es geht aber gar nicht so sehr um Verstehen, sondern um sprachliche Tauschverträge, um Sprachvereinbarungen über das, was gilt an der Sprachbörse, die man mit dem Leben verwechselt. Die zunehmende Entsinnlichung – Jean Paul nennt die Sprache „ein Wörterbuch abgeblaßter Metaphern“ – äußert sich darin, daß alles einen Sinn außerhalb seiner selbst haben muß, alles muß bedeuten, alles muß an das schon immer Bekannte erinnern, nichts darf unbekannt bleiben, nichts unverständlich.
Franz Mon stört diesen Sprachablauf, und indem er wort-getreu verfährt und sich querstellt, zeigt er, daß der angeblich so lebendige Sprachfluß versteinert ist und nur an der Oberfläche die höchste Beweglichkeit vortäuscht. Da die Bedürfnisse unbefriedigt bleiben und es darum geht, den Sprachwarenhunger, auch ihn, immer weiter zu verlängern, muß auch sprachlich etwas inszeniert werden, das diesen Hunger verspricht zu stillen, das allen Glück und Gesundheit und Schönheit und Erfolg bringt. Der Zustand der ewigen Vorlust, er wird in Politik und Werbung nicht nur, er wird auf allen Gebieten aufrecht erhalten, und Sprache und Bild sind seine vorzüglichen Transport-Mittel.
Was bedeutet es, in dieser Situation auf dem Eigenleben der Sprache zu insistieren? Kann man denn dieser verhunzten, deformierten, prostituierten, versteinerten, zum bloßen Transportmittel reduzierten Sprache überhaupt wieder Leben einhauchen, ihr etwa die Unschuld zurückgeben, sie verjungfern, sie jung und fern von aller Korrumpierung neu entwickeln, ent-falten? Sie  f ü r  s i c h  bestehen lassen, sie, die fast nur noch im Bezug zu einem anderen verstanden wird? Denn sprächen wir, so sagte Marx, eine wahrhaft menschliche Sprache, sie würde uns als Wahnwitz oder Unverschämtheit ausgelegt.
Als Wahnwitz oder Unverschämtheit, so wird die Sprache ,der Konkreten‘ ausgelegt oder auch als ,sinnlose‘ Spielerei, denn alles muß ja seinen Sinn haben, deshalb ist die Sprache, die für sich spricht, ,sinnentleert‘, ,sprachlicher Leerlauf‘ – diese Metaphorik findet sich nicht nur im geschwätzigen Redefluß der Rezensenten von Franz Mon, soweit er überhaupt ,die Ehre‘ hatte, von den Feuilletons der großen Zeitungen beachtet zu werden. Zweckfrei und sinnentleert, pfui Teufel, in dieser Welt des Zwecks, des Sinns, des Nutzens oder auch des politischen Engagements. Die Lage ist wirklich zu ernst, um zu spielen, noch dazu mit der Sprache. Wer ahnt den Ernst des Spiels? Es geht um nichts weniger, als das große Sprachspektakel zu unterbrechen und den Leerlauf der großen Worte (die platzen vor lauter Sinn) aufzuzeigen, Unlust zu erwecken am ewigen Zustand der Vorlust, in welchem das Altbekannte nur erlaubt ist, welches Aha-Erlebnisse auslöst und um Teufels willen keine neuen Sprachlernerlebnisse, die zu Identitätskrisen führen könnten.
Das Festhalten an der Sprachnorm ist Ausdruck des Festhaltens an der gesellschaftlichen Norm. Jede Sprachabweichung wird mit dem klinifizierenden Blick der Sprachzensoren ins Abnorme verwiesen, und die Kunst (das sprachliche Kunstwerk) wird zugelassen, wenn es ,zwar originell‘, doch immer wieder verweist auf ein Bekanntes, Bestehendes, Anerkanntes. „Die neue Wahrnehmungsweise des Gegenstandes“, die Sklovskij als Unterbrechung der „automatisierten Wahrnehmungsweise“ verstand, könnte, ernst genommen, den automatisierten Ablauf des Lebens irritieren. Das ist der Grund, weshalb von allen sprachlichen Einebnern und Ordnungshütern von links und rechts diese neue Wahrnehmung (vorgeführt als künstlerische Methode) liquidiert wird als entartet, dekadent, verantwortungslos, verspielt, sinnentleert. Peter Weibel spricht in einem Aufsatz über den Maler Loys Egg von der „diktatur der repräsentation“ und der „verpflichtung zur darstellung“: die ,gegenstandslose‘ Materialkunst wird als sinnlos gebrandmarkt, denn „nur formen, welche vertraute gegenstände darstellen, haben für die meisten einen sinn“. Das Unterbrechen des automatisierten Sprachablaufs, die unterirdische Krise, die eine Kunst auslöst, welche nicht der Wiedererkennung des schon Bekannten sich unterwirft, die  v e r w e i g e r u n g  d e r  r e p r ä s e n t a t i v e n  f u n k t i o n  (Weibel) – hier sind Momente eines Engagements gegen das Bestehende, die nicht zufällig in den linksdogmatischen Debatten über die „gesellschaftliche Funktion der Kunst“ (statt die Kunst gegen die Funktion des Gesellschaftlichen) nicht einmal erwähnt werden, heute noch nicht.
Und schon 1962, als die Texte Franz Mons nur einem kleinen Zirkel von ,Eingeweihten‘ bekannt waren, schrieb Adorno:

Es ist keine von den geringsten Schwächen der Debatte übers Engagement, daß sie nicht auch, über die Wirkung reflektiert, welche von solchen Werken ausgeübt wird, deren eigenes Formgesetz auf Wirkungszusammenhänge keine Rücksicht nimmt. Solange man nicht versteht, was im Schock des Unverständlichen sich mitteilt, ähnelt der ganze Streit einem Schattenkampf.

Aber diese Abwehr, diese Poesiefeindlichkeit, diese Aggression letztlich gegen die Sphäre der Kunst (soweit sie nicht als ,prodesse – et – delectare – Girlande‘ das Leben erheiternd verziert) ist nicht zufällig: sie ist Ausdruck der Angst vor der Freiheit, die man gleichzeitig doch ersehnt, Angst vor und Sehnsucht nach einer Welt, in welcher der automatisierte Lebensablauf unterbrochen wird (in der verplanten Freizeit wird er nur reproduziert), in welcher wir nicht mehr funktionieren müssen so wenig wie die Sprache; diese ambivalente Gleichzeitigkeit ist das Sprachunbewußte, das auch noch zwischen den Zeilen der allergisch reagierenden Sprachrezensenten zum Thema ,Konkrete Poesie‘ zu spüren ist. Wenn Franz Mon dann noch die Unverschämtheit besitzt, seinen unverständlichen, sinnentleerten Texten den Titel Lesebuch zu geben (und es ist ein Lesebuch, nämlich zum Blättern, wie alle Monschen Bücher), dann ist die Empörung groß. Aber nicht nur Franz Mon stört, schon mit seinen frühen Permutationen (welche u.a. den ,Sinn‘ haben zu zeigen, wie verschieden ein Wort wird, wenn man seinen Kontext auch nur formal verschiebt, wie also die Syntax selbst schon semantische Momente enthält, wie falsch deshalb jeder Form-Inhalt-Dualismus ist), die Wahrnehmungsgewohnheiten, das verinnerlichte Denk- und Sprachklischee. Etwas davon ahnte schon Friedrich Schlegel, als er 1800 in seinem ironischen Aufsatz „Über die Unverständlichkeit“ in der damals aufsehenerregenden Zeitschrift Athenäum (die er mit seinem Bruder herausgab) diese Zeitschrift gegen den Vorwurf der Unverständlichkeit verteidigte, und zwar in der Weise, daß er die romantische (unverständliche) Ironie als eine Reflexionsmethode definierte, die wir heute als ,produktive Rezeption‘ bezeichnen würden. Mit dieser Methode der Reflexion auf den Vorgang des Machens (poesis) wollte Schlegel „den Leser zu einer gleichen Offenheit und Redlichkeit gegen sich selbst allmählich hinleiten“. Er wollte zeigen, „daß die Worte sich selbst oft besser verstehen, als diejenigen, von denen sie gebraucht werden“. Schlegel wollte durchaus ,populär‘ sein und das Problem einer als Übergang notwendigen Esoterik (wenn nicht das, worum es ging, im Kompromiß der ,Verständlidikeit‘ verraten werden sollte, d.h. keine  n e u e n  Erkenntnisse erzielt, nur der Aha-Effekt des je schon Bekannten erreicht würde) wurde an der Wende zum 19. Jahrhundert nicht weniger heiß diskutiert als auf manchem Symposion zur avantgardistischen Kunst: es ist bis heute noch nicht gelöst. Und das urbane Pathos Friedrich Schlegels, der eine Ethik der Liberalität auch auf ästhetischem Gebiet vertritt, wird noch heute von vielen sich als ,links‘ verstehenden Interpreten (von Mehring über Lukács bis Arnold Hauser) als „Flucht aus der Realität in die Utopie, ins Chaos, in die Anarchie“ (so Hauser über die Frühromantik) kommentiert. Es wäre lohnend, diese Interpretation über die frühromantische Bewegung einmal zu vergleichen mit den Rezensionen über die Texte der ,Konkreten‘ – die Übereinstimmungen bis hinein in die Metaphorik sind verblüffend! Hier wie dort melden sich die literarischen Ordnungshüter zu Wort, die Sprachzensoren, die im Herzen überzeugt sind von der Richtigkeit von Disziplin und Ordnung und der Unterdrückung der Natur in sich und außer sich und die deshalb jene Sphäre der Kunst hassen, die diese Ordnung stört. So schimpft Arnold Hauser als literarische Polizei gegen die romantischen „Fluchtversuche in jenes Chaos und jene Anarchie, gegen die der Klassizismus des 17. und 18. Jahrhunderts… stets mit der gleichen Entschiedenheit kämpfte. Der Klassiker fühlte sich als Herr der Wirklichkeit; er war einverstanden damit, beherrscht zu werden, weil er sich selbst beherrschte und an die Beherrschbarkeit des Seins glaubte“. Wie sagt doch Henri Lefèbvre über die zunehmende Technokratie? „Jeder wird sein eigner und des anderen Polizist.“ Wenn jeder sich ordentlich selbst beherrscht, wird äußere Herrschaft überflüssig – brave new world! Die Anregung zur Selbsttätigkeit ist ja auch eine gefährliche Sache, solange Kirche oder Partei das letzte Wort haben sollen. Die Autoritätshörigkeit ist dermaßen verinnerlicht, daß solche Anregung, daß jedes Aufschrecken aus der gewohnten Ordnung (auch jener der Denk- und Sprachklischees) oft zu einer aggressiven Abwehr führt. Nicht erst bei der ,Konkreten Poesie‘. Die Aggressionen des Kinopublikums gegen Susan Sontags Film promised lands entspringen keiner anderen Quelle. In einem Interview 1976 sagte Susan Sontag dazu:

was ich entdeckte, ist, daß die leute um keinen preis aus der fassung gebracht werden wollen. ich habe niemals realisiert, in welchem ausmaß sie nicht gestört werden wollen… es war eine große enttäuschung für mich, ja geradezu ein schock zu sehen, wie verhaftet die leute ihrer eigenen moralischen bequemlichkeit sind. sie wollen nicht gestört sein und sie wollen nicht auf eine verschiedene art wahrnehmen, und sie haben diese kategorien, in die die dinge zu passen haben.

Diese Haltung, dieses Festhalten nicht an der ,Wirklichkeit‘, sondern am Vor-Urteil über sie ist gerade dann besonders stark, wenn die Vereinbarungen über das, was Wirklichkeit sei, nicht mehr eindeutig sind.
Die Toleranzgrenze gegen jede Art von Abweichung war noch nie so niedrig wie heute. Die ,Wirklichkeit‘ der aus ihr Ausgeklammerten, die Wirklichkeit der Psychiatrien und des technokratischen Zugriffs in alle ,abweichenden‘ Seelenregungen bestätigen es. Gerade deshalb ist das Unterbrechen, die Irritation so wichtig. Aber teilt sich denn im „Schock des Unverständlichen“ (der ,Konkreten Kunst‘) heute noch etwas mit? Die Frage, wo überhaupt noch die verkrustete Oberfläche, der versteinerte Redefluß, die Geräusch- oder Bild,Berieselung‘ unterbrochen werden kann, muß neu gestellt werden, das kann die Positionen der ,Konkreten Poesie‘ verändern, es hat sie schon verändert. Die Frage der Verbindung von Kunst und Leben (als Forderung gegen das automatisierte Über-Leben), die sich schon die radikalen Dichter der Frühromantik stellten, muß erneut gestellt werden, wenn die Sprachverhärtungen immer mehr ins Innere wachsen, wenn die innere Sprachzensur die äußere harmonisch ergänzt, wenn das Monströse, das einst Unausdenkbare als Alltag akzeptiert wird (mit der Bombe leben).
Gerade weil die Wahrnehmung auf allen Ebenen immer automatisierter wird, muß diese Automatisierung auf allen Ebenen zerbrochen werden, oben auch und vor allem auf der sprachlichen, und wer wollte denen, die gegen die Welt der Sprachvorschriften aufbegehren, damit wir neu wahrnehmen, wo wir eigentlich sind, Vorschriften machen, wie sie dies tun sollen? Die Arten der Irritation, die Möglichkeiten eines Sprachspiels, die sprachspielerische Vorführung dessen, daß es auch anders sein könnte, sind vielfältiger als früher, auch die ,Konkrete Poesie‘ hat sich erweitert in dem Maße, wie sich die Sprachnorm verengt hat. Einig ist man sich darin, daß man den Rahmen vereinbarter Verständlichkeit – Ausdruck der Zulassung nur des Altbekannten, des Bestehenden auch in der ästhetischen Wahrnehmung – überschreiten und sprengen will. „sklave des alltäglichen blicks“, ruft Peter Weibel beschwörend, „welche angst spricht aus dir, wenn du ein solches vergnügen an der wiedererkennung von figuren und formen findest“.
Dieser künstlerische Kampf gegen die Automatisierung, dieses spielerische Übertreten der Sprach- und Bildgrenzen läßt sich lange zurückverfolgen; die theologische Einhüllung dieses Problems sollte den Blick für den Zusammenhang nicht trüben, der vor-urteilsfreie Blick der Frühromantiker sah auf die Kabbala – das ,Selbstsprechen-lassen‘ der Sprache war dort realisiert, freilich im Sinne des ,heiliqen Namens‘. Das, was frei blieb von allen Verwertungszusammenhängen, das Unbenennbare, das Undarstellbare, das Namenlose am Nirgendort (U-Topie), erhielt den Namen Gottes. Die, welche von einer anderen als der ,eingefahrenen‘ Welt reden wollten, mußten sich, so bemerkt Nietzsche, zu allen Zeiten verkleiden, als Priester, als Schamanen, und in die Wüste gehen. Später wurden sie allerdings Funktionäre der Macht, dienten dem, wogegen sie einst auftraten – und verbannten die, welche gegen diese Welt auftraten (allerdings, um sie zu verändern). Die Kabbala wurde von der Dogmatik abgelehnt, aber von den Dichtern, die als dekadent beschimpft wurden, geschätzt. Das Verfahren, so kommentiert der große Forscher der jüdischen Religion, Gershom Scholem, „der ganzen Schriftdeutung des Sohar besteht in einer auf die Spitze getriebenen Wörtlichkeit, in einem radikalen Ernstnehmen nicht etwa des gemeinten ,Sinnes‘, sondern eben des gleichsam auf sich selbst gestellten Wortes“. Weltschöpfung und Sprachschöpfung werden in der Kabbala aufeinander bezogen – „Konsonanten und Vokale strahlen und leuchten in ihrer Bewegung allzumal, nach der geheimen Ordnung ihrer Bewegung auf verborgenen Bahnen. Aus diesem Ort“ (der geheimen Ursprünge der Sprache) hat „Alles sich entfaltet“.
Der die Romantik beeinflussende Glaube an eine Ursprache, in welcher sich alles miteinander ,verstand‘, ist gerade jenseits dessen angesiedelt, was als ,Verständlichkeit‘ gilt, und die Poesie, ,Hieroglyphik‘, stellt diese Einheit künstlich wieder her, nicht etwa als Rückgang ins ,Natürliche‘ (das es nicht mehr gibt), sondern als synthetischen Akt in der Sprachwelt des Bezugs. Dieser Synthese geht allerdings die Destruktion der falschen Verständlichkeits-Harmonie voraus, das Unterbrechen des ,ununterbrochenen‘ Diskurses, schon in der frühromantischen Poetik (die weiter war als die ,poetische Praxis‘, soweit sie sich davon abtrennen läßt). Die Poesie wird dabei ganz dynamisch und aktiv verstanden, als Methode, nicht als Produkt, unabgeschlossen, aufnahmefähig für neue Assoziationsketten beim Leser, der freilich letztlich Künstler werden soll. Poesie ist nach Novalis „thätiger Sinn des Gefühls“, aktives Empfinden, und zwar ohne bestimmten Ausdruck, deshalb ist die Poesie „Gemütherertegungskunst“ und gegen das klassische Ideal der Naturnachahmung einerseits und der „einfühlenden“, kontemplativen Haltung des Rezipienten andererseits, geht es Novalis nicht weniger als der Moderne (und hier nochmals zugespitzt der Konkreten Poesie) um die Aktivierung des Lesers (Hörers) zum Mitspieler. Novalis möchte die „bildende Thätigkeit“ durchaus demokratisieren, noch ist zwar der gleichsam „umgekehrte Gebrauch der Sinne den Meisten ein Geheimniß“ – dies ergibt die ,Esoterik‘, die man den Konkreten nicht weniger vorwirft als an der Wende zum 19. Jahrhundert den Frühromantikern. Sie kann auch nicht durch falsche Kompromisse an die Verständlichkeit überwunden werden, denn damit würde gleichzeitig das aktive Moment vernichtet und nichts weiter als das „unproduktive vergnügen an der wiedererkennung von figuren und formen“ (Weibel) erreicht. Vielmehr muß dieser umgekehrte Gebrauch der Sinne, „das Heraussehen“, ein aktives Wahr-Nehmen also, statt, wie Sklovskij sagt,

des bloßen Wiedererkennens, als poetische Handlung transparent werden. Fast jeder Mensch, sagt Novalis, ist in geringem Grad schon Künstler – Er sieht in der That heraus und nicht herein – Er fühlt heraus und nicht herein. Der Hauptunterschied ist der; der Künstler hat den Keim des selbstbildenden Lebens in seinen Organen belebt – die Reitzbarkeit derselben für den Geist erhöht und ist mithin im Stande Ideen nach Belieben – ohne äußere Sollicitation – durch sie heraus zu strömen – Sie, als Werckzeuge, zu beliebigen Modificationen der wircklichen Welt zu gebrauchen – dahingegen sie beym Nichtkünstler nur durch Hinzutritt einer äußren Solliciation ansprechen…

Die ,Dichtkunst‘ ist damit nicht primär an das dichterische Produkt gebunden, sondern an die ,dichterische Handlung‘ als exemplarische jenseits der Instrumentalisierung für bestimmte Zwecke wie in der übrigen Welt (soviel ist wahr an Kants „interesselosem Wohlgefallen“):

Dichtkunst ist wohl nur – willkührlicher, thätiger, produktiver Gebrauch unserer Organe.

In genau diesem Sinne finden wir neben dem fast nur mißverstandenen „republikanischen Monarchismus“ von Novalis (alle Menschen sollen thronfähig werden) die Tendenz zur Demokratisierung des Genies, die Mon praktisch vorführt, wenn er seine Methode des genialen Wörtlichnehmens der Sprache zur Nachahmung vorführt (die Luzidität der poetischen Methode ist in sich ein demokratischer Akt und ein höchst lyrischer). „Genie“, schreibt Novalis, „ist nichts, als Geist in diesem thätigen Gebrauch der Organe – Bisher haben wir nur einzelnes  G e n i e  gehabt – der Geist soll aber total  G e n i e  werden“. Zur romantischen Anthropologie als utopischem Entwurf gehört diese allseitige Ausbildung aller Organe für alle Menschen. Noch der russische Dichter Tretjakov verweist auf diesen Zusammenhang:

Jeder Mensch zeichnet in seiner Kindheit, tanzt, denkt sich treffende Wörter aus und singt. Warum dann aber genießt er, wenn er erwachsen ist, selbst extrem ausdrucksarm geworden, nur manchmal die ,Schöpfung‘ eines Künstlers? Hat diese Erscheinung nicht ihre Wurzel in den Bedingungen der kapitalistischen Arbeit, wo der Arbeitsprozeß ein Fluch ist und der Mensch nur auf die Minuten der Muße versessen ist? Ist denn der Verlust des aktiven künstlerischen Instinkts des Menschen, der ihn aus einem aktiven Produzenten in einen Zuschauer und Konsumenten verwandelt, als normal anzusehen?

Mir fällt zum Verlust dieser latent künstlerischen Fähigkeiten im Zuge der Dressur und Kastration, die man ,Erwachsen werden‘ nennt, der Schluß eines Gedichts von Franz Mon ein: „aus den augen / aus dem sinn / aus der traum“.
Mon verweist hier nicht nur auf das meist schon vergessene, und das heißt zum Klischee gewordene (zum sprachlichen Tauschwert innerhalb der ,Kommunikation‘ des Schon-Bekannten, sprachvertraglich Festgelegten, dem A priori des ununterbrochenen Diskurses) Sprach-wörtliche des Sprichworts, er unterbricht den eingefahrenen Rhythmus („aus den augen / aus dem sinn / aus der traum“) und mit ihm die eingefahrene Semantik, die mit dem Sprichwort sich verbindet, er führt die abgeblaßte Metapher auf ihr vergessenes Bild zurück und radikalisiert es in der letzten Zeile zu einem gleichsam tragischen Endgültigen, das sich im Wechsel des Rhythmus realisiert, und zwar, dies ist das Be-eindruckende, indem das bis dahin fast unbeachtete Wort aus, das mit einer Hebung in der Schlußzeile zu sprechen ist, einen wortlogisch ,end‘-gültiqen Sinn erhält. Und während wir die Zeilen lesen, werden wir uns klar, daß wir den Sprachrhythmus verinnerlicht haben, ohne uns dessen bewußt zu sein. Wenn wir in dieser Weise zur Reflexion über das Sprachunbewußte in uns angeregt werden, kann dies nur geschehen aus einem Moment des Unverständlichen, des uns Irritierenden, das uns (wenn wir uns darauf einlassen) zum Nachdenken zwingt, zum Beispiel darüber, wie wenig sich das ,Selbstverständliche‘ selbst versteht.

Gisela Dischner, aus Text + Kritik: Franz Mon – Heft 60, edition text+kritik, Oktober 1978

Gespräch mit Franz Mon

Jos Hoogeveen: In unserem Vorgespräch haben Sir mir gesagt, daß Sie eine Veranstaltung wie diese besonders schätzen. Sie treffen Ihre Kollegen, können Ideen austauschen usw. Wenn ich aber sehe, daß – trotz allen günstigen Voraussetzungen, wie z.B. freiem Eintritt und Nationalfeiertag – nur so wenig Publikumsinteresse besteht, so frage ich mich, welche die Wirkungsmöglichkeiten der konkreten Poesie sind.

Franz Mon: Die Breitenwirkung können Sie nicht so frontal sehen. Experimentelle Poesie und Kunst können nicht, wie z.B. im Falle Wolf Biermanns, unmittelbar mit zehntausend Zuschauern oder Käufern von Büchern und Schallplatten rechnen. Erfahrungsgemäß geht die Wirkung im Grunde über Multiplikatoren. Es sind Lehrer, Journalisten, Designer, Wissenschaftler und Linguisten, so weisen die Erfahrungen aus, die, unter Umständen, ohne zu wissen, wo sie die Strukturen herhaben, diese Strukturen vermitteln. Volksschullehrer und Kunstlehrer haben in den Schulen unsere Schallplatte Phonetische Poesie gebraucht, um die Kinder selber produzieren zu lassen. Es gibt solche Multiplikatoren, und dann ist plötzlich auch ein Publikum da.

Hoogeveen: Wie verhalten Sie sich aber gegenüber parasitären Formen der Wirkung, wie man sie in der Werbung wiederfinden kann?

Mon: Ich bewerte diese Wirkungen nicht so negativ. Werbung kann – egal auf welchen Produkten sie daherreitet – zur öffentlichen Erheiterung, zur Verstärkung des Spielcharakters des gesellschaftlichen Lebens beitragen. Zwar wurden die grundlegenden Sprach- und Bilderfindungen in der autonomen, experimentellen Kunst gemacht, doch schon die Dadaisten und Kurt Schwitters voran betätigten sich mit Lust auf dem öffentlichen Feld der Werbung. Die Plakate haben ihre eigene Poesie.

Hoogeveen: Sie sind nicht der Meinung, daß das, was Sie programmatisch vertreten, vom Publikum anders rezipiert und weiterverarbeitet wird?

Mon: Nein, eigentlich nicht. Ich kann nur sagen: Wenn sich Intelligenz und Witz als innovative Impulse in der Zivilisation möglichst breit darstellen, kann das nur gut sein.

Hoogeveen: Aber wenn Sie es unter dem Aspekt der Sprachkritik betrachten?

Mon: Der Kern bei uns ist immer ambivalent. Wir mögen die Sprache, wir sind mit der Sprache verschmolzen und leben in ihr. Sie ist ein Medium, ein Element, in dem man dauernd da ist. Man spielt mit einer Formulierung oder trifft irgendwo auf ein merkwürdiges Wort, sammelt es auf und hat es. Aber gleichzeitig wächst die Skepsis gegenüber der Sprache. Das Entsetzen darüber, was die Sprache anrichtet. Ich komme langsam, aber sicher zu der Einsicht, daß man mit der Sprache alles und das Schlimmste machen kann. Die Sprache ist das raffinierteste Instrument des Menschen geworden.

Hoogeveen: Betrachten Sie es in dieser Hinsicht als Ihre Aufgabe, Wittgensteins Fliege den Weg aus dem Fliegenglas zu zeigen?

Mon: Die Sprache ist das subtilste Instrument in unmittelbaren persönlichen Beziehungen, das gemeinste, das mieseste, das gefährlichste in der Öffentlichkeit, in Herrschaftssituationen, in der Politik. Das können auch wir nicht ändern. Man kann es aber einsichtig machen. Man kann das Aufmerksamkeitspotential im Menschen verstärken, so daß man im Umgang mit der Sprache vorsichtiger wird, ähnlich wie man mit radioaktivem Material umzugehen lernen muß. Natürlich kann man, wie die Trappisten, auf die Sprache verzichten. Die totale Verweigerung gegenüber dem Instrument des Teufels, der Lüge. Mir ist es genug, mir die Radioaktivität der Sprache bewußt zu machen.

Hoogeveen: Ist das keine schizophrene Situation, in der Sie sich befinden? Zweifeln an der Sprache und immer wieder neue sprachliche Gebilde zur Überwindung dieses Zweifels schaffen?

Mon: Ja, das ist unsere Situation. Als die konkrete Poesie entwickelt wurde, überwog der Sprachoptimismus. Bei Eugen Gomringer finden Sie das noch. Keine Kritik, sondern Begeisterung an dem zivilisatorischen Instrument Sprache. In Wellenbewegungen setzt sich dann die Kritik durch, bis auch politische Kritik laut wird.
Man kann die Sprache ja auch nicht isolieren. All unsere Existenzbereiche privater und öffentlicher Art sind mit der Sprache verwachsen. Mitten im Verfolgen einer experimentellen Fragestellung erleben Sie plötzlich, daß die Sache einen politischen Aspekt hat. In der politischen Praxis erweist sich plötzlich die brutale Autonomie von Sprache. Formulierungen verändern Sachverhalte, Formulierungen bringen politische Realität hervor, die bis dahin unbekannt war und plötzlich nicht mehr oder nur in langwierigem abermal sprachlich gefülltem Prozeß zum Verschwinden gebracht werden kann. Politiker sind nicht Leute, die besonders viel von Sachen verstehen, sondern die über eine besonders gelenkige Sprache verfügen.

Hoogeveen: Wenn Sie diesen Verhältnissen eine Funktion von Literatur gegenüberstellen wollen, wie unterscheidet sich diese dann von anderen Erkenntnismitteln?

Mon: Literatur war schon immer kritisch eingestellt. In gewissem Sinne ist sie der Wissenschaft immer vorausgegangen. Sie können das am psychologischen Roman betrachten. Flaubert hat viel mehr gewußt, als die Wissenschaft seiner Zeit aufgedeckt hat. Es sind nicht sosehr die reflektierbaren Probleme, sondern die Anmutungen, die man mittels Sprache in den Griff zu bekommen versucht. Literatur artikuliert Existenzmomente. Bis Galilei und Kepler waren Wissenschaft und Dichtung in gleichem Maße meditativ. Der meditative Charakter ist der Wissenschaft aber verlorengegangen. Seitdem produziert Wissenschaft als Technologie.

Hoogeveen: Fühlen Sie sich als konkreter Poet mit der Dada-Bewegung verwandt?

Mon: Rudimentär, ja. Lassen wir einmal Schwitters beiseite, denn er gehört bereits zur zweiten Welle dieser Bewegung. Aber das, was in Zürich gemacht wurde, passierte eigentlich unwissentlich; es geschah eben. Sie wollten Kabarett machen, aber mit viel Ärger. Das alles in der Situation von 1917, als Hunderttausende von Menschen umkamen. Dieses Provokationsmoment ist vorbei. Außerdem glaube ich nicht, daß die Dadaisten ihre Arbeiten in unserem aufs Material bezogenen Sinne verstanden haben.

Hoogeveen: Steckt in der experimentellen Poesie nicht die Gefahr der Einmaligkeit des Apperzeptionsmomentes, schließt dieses Gaghafte nicht eine weitere Textverarbeitung aus?

Mon: Das geschieht, wenn man selber nicht in der Lage oder in der Laune ist, soviel an Bewußtseinspotenz aufzubringen, daß der Text sich füllt. Die besten Produkte haben die Darstellungsform des Plakats oder des Bildes, das man sogar an die Wand hängen kann, so daß immer wieder neue Erfahrungen gemacht werden können. Der klassische Lesevorgang ist dabei relativ bescheiden, da ist nicht viel zu entziffern. Das Ankoppeln, das Anschließen an das eigene Bewußtsein, das Dabeibleiben, gerade bei den einfachsten Strukturen, ist das Schwierige. Das erfordert einen ständigen Innovationsprozeß, der bei uns ganz aus der Übung gekommen ist. Es handelt sich auch nicht sosehr um „Lesbares“. Die konkrete Poesie geht über in Graphik auf der einen Seite und ins Akustische auf der anderen Seite. Mit solchen Fragen habe ich mich lange Jahre beschäftigt: Wie wird aus Schriftstruktur Liniatur, wie wird aus Liniatur wieder Schrift; wo ist die Grenze, wo Schrift nicht mehr lesbar, aber noch semantisch ist? Wo hat man noch Sinnimpulse, die beim Betrachter eine Bedeutung provozieren?
Ich habe einmal einen Raum gemacht, der aus sieben Wänden bestand. Die erste Wand bot einen ganz klaren Text. Durch Überlagerung und Vergrößerung wurde auf den folgenden Wänden langsam diese Textstruktur aufgelöst; es gab Zwischenstadien, wo sich der größte Teil der Schriftzeichen in schwarze, fleckenhafte Flächen auflöste. Die siebte Wand schließlich erschien völlig schwarz. So ergab sich eine Sequenz vom klaren Text bis zur schwarzen Fläche. Da haben Sie diesen Prozeß des Intermediums.

Hoogeveen: Kann unter solchen Umständen schon davon gesprochen werden, daß die experimentelle Poesie über eine Metasprache verfügt? Und erübrigt sich damit die Notwendigkeit einer Übersetzung in andere Sprachen?

Mon: Teilweise ja. Manche Texte sind so eindeutig und aus so einfachem semantischen Material, daß man mit einem winzigen Vokabular dem fremdländischen Leser den Zugang ermöglichen kann. Denken Sie an die Anordnung der Wörter, die Reihenfolge, die Konstellation des Wortmaterials auf der Fläche, die Überlagerung usw. Oder daß ein Wort sich in Elemente auflöst und aus den Elementen ein zweites und drittes Wort entsteht. Sie können das gar nicht übersetzen, weil dann die Struktur nicht mehr stimmt. Man kann es nur analog nachstrukturieren.

Hoogeveen: Welche künftigen Wege sehen Sie für Ihre Arbeit?

Mon: Ich bin noch längere Zeit mit einem Manuskript beschäftigt, das den Titel trägt „hören und sehen vergehen“. Es ist als Partitur für ein Theaterstück angelegt und verwertet Erfahrungen aus der Hörspielarbeit. Das heißt, ich möchte den Umsetzungsprozeß in Gang setzen und verfolgen, dem Texte unterliegen, die verschiedenartigen Medien ausgesetzt werden. Hinzukommt das Interesse an der Beziehung zwischen Wortgestik und Körpergestik, zwischen Wortlauten, Stimmlauten und Geräuschen, definierbaren, nichtdefinierbaren: also die Beobachtung eines Feldes, in dem rudimentär, initial Bedeutungsgeflechte entstehen und wieder zerfallen. Im Hörspiel, im Sogenannten Neuen Hörspiel, ist das erprobt worden. Doch erst die Bühne bringt die im Hörspiel ausgeschlossenen Parameter von Gestik und Mimik, von Bewegung und Konstellation der Körper ins Spiel.

Deutsche Bücher, Heft 3, 1977

 

Kikakoku! Ekoralaps! : ein Abend Phonetischer Poesie mit Oskar Pastior, Hartmut Geerken, Franz Mohn und Klaus Ramm am 27.1.1990 in der Bremer Kunsthalle.

 

FRANZ MON

Du kannst ein konkretes
Gedicht schreiben, in dem
du mit Worten ein Bild zeichnest:
Haus
aaaaaWald Wolf
aaaund der Jäger
fährt
aaaden roten Golf

Du kannst ein Gedicht schreiben,
in dem du statt Wolf
Jäger
aaaaaLöwe
aaaaaaaaTierpark
und Brett
aaaaavorm Kopf verwendest.
Das Gedicht ist
aaaaaaakonkret
Wenn du
aaaaaaapoetisch
aaaaaaaaaaaaaendest

Peter Wawerzinek

 

 

Franz Mon und der Zufall – „Ja, ich werde wach…“

Am 20.11.2012 war in der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik eine Legende der Avantgarde zu Gast in der Literaturwerkstatt Berlin: Franz Mon. Mit Michael Lentz sprach er über sein Werk.

 

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Karl Krolow: Orpheus ohne Leier
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.1986

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Jörg Drews: „Der Sprache schlaue Fallen stellen“
Stuttgarter Zeitung, 6.5.1996

Harald Hartung: Staunen über die vielen Wörter
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.1996

Karl Riha: MON ist sein NOM
Frankfurter Rundschau, 6.5.1996

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Sandra Kegel: Der Entfesselungskünstler
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.2016

Michael Lentz: Im Käfig der Freiheit
Süddeutsche Zeitung, 5.5.2016

JF: Wort-Feinkost zum 90. von Franz Mon
Buchmarkt, 25.5.2016

Zum 95. Geburtstag des Autors:

Claus-Jürgen Göpfert: Das Haus aus Sprache, an dem er lange baut
Frankfurter Rundschau, 3.5.2021

Christoph Schütte: Das Gras wies wächst
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.6.2021

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Franz Mon beim Festival PROPOSTA 2004 in Barcelona.

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