Franz Richard Behrens: Blutblüte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Franz Richard Behrens: Blutblüte

Behrens-Blutblüte

STERNENBRENNEN

Leuchten tiefen Silberschlagen
Sonne taumeln Rosenkeimen
Tauen Wangen tropfen bebenbang
Brennen ranken Blühenbleiben
Zünden lange Lanzen
Wickeln lose Wunden
Stürzen kronen Strahlen
Spiegel krallen Mittagsstrudel
Wissen heimen Himmel
Heere Hände pflücken Flammen.

 

 

 

Zur Ausgabe der Gedichte

franz richard behrens ist nicht nur einer der bedeutendsten und ästhetisch radikalsten dichter der ersten jahrhunderthälfte. er ist zugleich – so unglaublich wie symptomatisch – einer der am meisten missachteten und vergessenen. wie wenig das werk auch bekannt wurde, noch weniger war über die person zu erfahren. in einer anthologie expressionistischer dichtungen, die herwarth walden, der initiator und leiter des Sturm, mit peter a. silbermann 1932 in berlin herausgab, liest man in den biographischen anmerkungen:
FRANZ RICHARD BEHRENS. Geboren am 5. März 1895 in Brachwitz a. S. Während des Weltkriegs Soldat an allen Fronten. Reisen durch Europa und nach Amerika. Starke Erlebnisse durch Ibsen, Strindberg, Wedekind, Holz, den Sturm und Lenin. Glaubt noch heute an den reinen Expressionismus als höchste Kunstform. Veröffentlichte zahlreiche Gedichte, vor allem im Sturm und in der Aktion. Lebt als Schriftsteller in Berlin.
der ausführliche katalog EXPRESSIONISMUS. Literatur und Kunst 1910–1923, der als dokumentation der umfassenden expressionismusausstellung im schiller-nationalmuseum marbach a. n. 1960 erschienen ist, gibt über behrens noch kargere auskunft, und nicht einmal die ganz korrekt, denn behrens war nicht, wie da vermerkt, bis 1924 sondern bis 1925 mitarbeiter des Sturm; im übrigen bekam das „lebt“ ein abschliessendes „e“ angehängt. auch für den herausgeber der anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts, wiesbaden 1962 – sie enthält zwei gedichte von franz richard behrens – war „mehr… nicht festzustellen“.
in literaturlexika – selbst solchen, die ausschliesslich der deutschen gegenwartsliteratur gewidmet sind – sucht man seinen namen vergebens. sogar in den meisten fachpublikationen über den literarischen expressionismus scheint behrens nur ausnahmsweise als randfigur auf. und so ergeht es nicht nur ihm: die gesamte „Wortkunst“ des Sturm – also der eigentlich literarische, auch sprachlich radikale expressionismus – wird, mit ausnahme von august stramm, in der sekundärliteratur ebenso wie in den einschlägigen anthologien fast durchweg ignoriert. denn der expressionismus wird vor allem als weltanschauliches phänomen betrachtet, das nur dann nähere beachtung findet, wenn es sich – wie etwa bei heym, stadler, benn – noch weitgehend in tradierten formen artikuliert, das heisst, wenn es im rahmen des gewohnten – sei es auch eines „expressiv verkürzten“ oder „grotesk verzerrten“ – sprachlichen sinngefüges bleibt. für den solchermassen fixierten „fachmann“ ist von vornherein formlos, was sich – wie die wortkunst des Sturm – in neuen formen artikuliert. denn ihm gilt nur als form, was er als solche wiedererkennt, als ausdruck, was er selbst schon nachempfunden hat, und als inhalt, den er mit sinn gleichsetzt, was er unter diesen bedingungen noch bemerkt. so wird ihm das unbekannte formlos und das formlose inhaltsleer, „unsinnig“ – als ob das mass an sinnhaftigkeit nicht von der interpretationsfähigkeit des rezipienten abhängig wäre, der sich in seinem urteil selbst dekuvriert.
in der tonangebenden expressionismus-rezeption wird allenfalls noch august stramm ein platz gewährt, ihm freilich nur als – noch immer umstrittenem – grenzfall. wer wie franz richard behrens, und nach ihm andere wortkünstler des Sturm, darüber hinausgeht, wer sich über sprachkonvention und schulmässige syntax rigoros hinwegsetzt und die totale emanzipation der poesie von der gebrauchssprache vollzieht, stösst vollends auf unverständnis und ablehnung. es ist erstaunlich, wie unfähig sich die meisten von den wenigen rezensenten zeigten, in behrens’ gedichten auch nur den geringsten sinn zu entdecken. sogar ein einfühlsamer und durchaus gutwilliger literaturwissenschaftler wie albert soergel, der in seinem verdienstvollen band Dichtung und Dichter der Zeit. Neue Folge. Im Banne des Expressionismus, leipzig 1925, immerhin august stramm gerecht wird, äussert sich über die wortkünstler des Sturm völlig ratlos und unsachgemäss, obgleich er die wortkunsttheorie – die einzige eigenständige poetik des expressionismus – in einem ausführlichen kapitel behandelt. curt hohoff hat in seiner 1963 erschienenen neubearbeitung des buches die von soergel zitierten behrens-gedichte lieber gleich kommentarlos gestrichen. die innovative leistung von franz richard behrens ist offenbar so gross, dass sie noch heute und selbst bei expressionismus„experten“ widerstand provoziert.
schon unter dem kriterium der innovation betrachtet, gehört franz richard behrens zu den signifikantesten dichtern dieses jahrhunderts. seine poetische erfindungskraft, seine formfantasie verbunden mit einer aussergewöhnlichen sensibilität für sprachklang und rhythmus, hat ein lyrisches werk von unverwechselbarer eigenart hervorgebracht und – über die fundamentale leistung stramms hinaus – der dichtung bis in die unmittelbare gegenwart neue möglichkeiten erschlossen. schon seine frühen gedichte demonstrieren die später von lothar schreyer programmatisch formulierte Wortkunstlehre des Sturm, zugleich aber nehmen sie manches von dem vorweg, was als erfindung von kurt schwitters gilt: die einbeziehung von zitathaftem, die vorliebe für ziffern und zahlwörter, das „abstrakte porträt-gedicht“, die entwicklung konstruktivistischer methoden.
wenn kurt schwitters seit einigen jahren, besonders auf grund der gesamtausgabe seines literarischen werkes, als dichter immer stärkere beachtung findet, so liegt das nicht zuletzt – ähnlich wie bei hans arp – an seiner inzwischen unangefochtenen stellung als bildender künstler. bei intensiverer beschäftigung mit schwitters wird man zwangsläufig auch auf seine dichtungen stossen, zumal gerade bei ihm das bildnerische werk mit dem dichterischen eng verflochten ist, was sich in vielfältigen mischformen manifestiert. behrens hat es als nur-dichter mit seinem nicht minder radikalen werk weitaus schwerer; denn die literarischen sachwalter setzen allem neuen in der regel ungleich stärkeren widerstand entgegen als kunst- oder musikexperten.
was vom „normalen“ abweicht, was sich eingeübtem verständnis entzieht, wird oft kurzerhand dem genre des grotesken zugeschlagen und damit ins raritätenkabinett verbannt. vornehmlich auf grund seines vielzitierten gedichtes „Anna Blume“ ist auch schwitters diese etikettierung, die sein werk als ganzes verkennt, nicht erspart geblieben. behrens hat keine „Anna Blume“ geschrieben, ihn kann man nicht als groteskdichter missverstehen, als schalk verharmlosen. doch wo die schlagworte versagen, versagt oft dem fachmann die sprache – rezeption findet nicht mehr statt; der mann wird totgeschwiegen. wie man den wortkünstlern des Sturm einerseits die „übertreibung“ strammscher stilmittel bis zum totalen unsinn vorwarf – ihnen also zumindest eine negative eigenleistung bescheinigte, so versuchte man sie andererseits als stramm-epigonen abzutun, um sich nicht weiter mit ihnen auseinandersetzen zu müssen. nun zeugt aber solch ein urteil gerade bei behrens von sträflicher leichtfertigkeit und unkenntnis seines dichterischen werkes. natürlich soll der einfluss einer so epochalen erscheinung wie der august stramms, die etwa der bedeutung schönbergs für die musik und kandinskys für die malerei entspricht, nicht geleugnet werden; denn im grunde liess sich die poetische wende, die stramm markiert, gar nicht wachen bewusstseins übergehen. doch braucht man nur die 1917 erschienene Blutblüte mit stramms gedichtband Du von 1915 zu vergleichen, um die originalität von behrens zu erkennen. schon seine erstpublikation Expressionist Artillerist, die wohl in manchem detail an stramm erinnert, zeigt als ganzes ein anderes verhältnis zur dichterischen sprache. sachliche, mitunter fast sarkastische einwürfe wie „Im Leichenblut schöne Farben sehen. Alte Jacke / Knochensplitter sein, Impressionisten und Naturalisten“ signalisieren einen abrupten wechsel der sprachebene, der der künstlerischen vorstellungswelt stramms, seinem streben nach letztmöglicher einheit des ausdrucks, völlig fremd ist. auch das am häufigsten zitierte behrens-gedicht „Goethe“ aus der Blutblüte – wohl das erste beispiel einer konsequenten montage aus zitatfragmenten, nämlich aus goethes Faust II – wäre in seinem spielerischen, distanzierteren verhältnis zur sprache bei stramm undenkbar.
übrigens schwinden sichtbare einflüsse stramms auf behrens spätestens 1918, also nach den ersten bei den jahren einer rund zehn jahre umfassenden poetischen produktion, die nach 1920 einen deutlichen stilwandel erkennen lässt. anders als die meisten expressionisten, vor allem ausserhalb des sturmkreises, hat behrens allerdings gewisse expressionistische sprachfindungen nie ganz über bord geworfen. für ihn bezeichnete der expressionismus nicht nur eine literarische zeiterscheinung, vielmehr einen grundsätzlichen befreiungsakt der dichtung von der gebrauchssprache. seine vorschnellen kritiker, die ihn fast ausschliesslich auf ein paar gedichte aus der Blutblüte festlegten, hätten nur die jahrgänge des Sturm bis 1925 durchblättern müssen, um immer wieder auf neue, überraschende, auch quantitativ gewichtige arbeiten zu stossen. wie viel man über den dichter weiss, wenn man nur die Blutblüte zur kenntnis nimmt, lässt sich am vorliegenden band ja unschwer überprüfen.
gerade die späteren gedichte zeigen in aller klarheit jene poetische konzeption der sprache, die behrens so deutlich von stramm unterscheidet. in den „einwortgedichten“, die er selbst als seine radikalste poetische leistung betrachtete, hat behrens das einzelwort demonstrativ verselbständigt und als autonomes bauelement behandelt. wenn stramm die dichtung bis auf das einzelwort – ja auf seinen kern, die stammsilbe – reduziert, bleibt der thematische wie der syntaktische bezug immer noch rudimentär erhalten: das wort ist nicht verschiebbares versatzstück sondern höchst charakteristischer teil einer ausdrucksgeste, und es hat, sofern es nicht in assoziativer reihung erscheint, den charakter eines imperativisch verkürzten satzes. es ist auch schwer vorstellbar, dass stramm sich wie behrens wortlisten gleichsam als poetisches materialreservoir angelegt hätte, um daraus – im zündenden moment – gedichte herzustellen. stramm suchte, um einen sinnzusammenhang aufs äusserste zu verdichten, „das einzige allessagende Wort“, behrens dagegen konnte sich von einem einzigen wort – seinem „schönen“ klang, seinem exotischen oder skurrilen reiz – zu einem ganzen gedicht anregen lassen. dieser spielerische ansatz und der konstruktive umgang mit dem sprachmaterial wirken an behrens’ lyrischer produktion besonders aktuell. in ihren extremsten formen kommt sie der konstellation, wie sie in der puristischen phase der konkreten poesie in den fünfziger jahren entwickelt wurde, sehr nahe. behrens steht so, neben kurt schwitters, zwischen stramm und der konkreten poesie wie anton webern zwischen schönberg und der seriellen musik.

der expressionismus-band von albert soergel, den ich um 1950 zum ersten mal in die hand bekam, gab den anstoss. sogleich faszinierte mich darin am meisten das kapitel „Abstrakte Lyrik – Sturm und Sturmdichtung“ und das folgende „Satyrspiel nach der Tragödie – Dada!“. denn was dort an programmen, theorien und beispielen zitiert war – darunter texte von august stramm, lothar schreyer, otto nebel, kurt schwitters, rudolf blümner und eben zwei gedichte von franz richard behrens – kam meinen vorstellungen von einer neuen dichtung am nächsten und gab mir wichtige anregungen für meine eigene arbeit. von nun an war ich ständig auf der suche nach den quellen dieser bis zum kriegsende verfemten kunst, die auch in wiener öffentlichen bibliotheken nicht vorhanden waren. erst mitte der fünfziger jahre, als wir im kleinen kreis der wiener gruppe die progressive literatur der zwanziger jahre systematisch aufzuarbeiten begannen, fanden oswald wiener und ich zu unserer freude ein exemplar der Blutblüte, das wir gemeinsam erwarben – den preis für das äusserst seltene buch konnten wir nur zu zweit aufbringen. ganz neue züge gewann unser bild von behrens einige jahre später, als wir in einem einzelheft der zeitschrift Der Sturm die dichtung „An meine Deutsch-Amerikanischen Freunde“ entdeckten; sie bestätigte höchst eindrucksvoll und überraschend für uns, was wir in der entwicklung der literarischen montage an eigenen ergebnissen erarbeitet hatten. auf grund dieser bruchstückhaften kenntnisse zählten wir behrens schon damals zu den wichtigsten erscheinungen der neuen literatur, obgleich sich seine volle bedeutung erst jetzt, angesichts des vorliegenden materials, ermessen lässt. es dauerte lange genug, bis ich alle nur irgend erreichbaren publikationen von behrens zusammengetragen hatte, und noch länger, bis sich mir die möglichkeit bot, den inzwischen zur fixen idee gewordenen plan einer behrens-edition zu verwirklichen.
diese werkausgabe – ursprünglich war nur ein band vorgesehen – sollte die einzige selbständige buchveröffentlichung Blutblüte sowie die zahlreichen beiträge aus den zeitschriften Der Sturm, Die Aktion und Die schöne Rarität umfassen; dazu noch, als anhang gedacht, zwei unpublizierte kriegstagebücher, die ich in der handschriftensammlung der staatsbibliothek preussischer kulturbesitz berlin aufgefunden hatte. bevor ich die gesammelten arbeiten zum druck gab, machte ich einen letzten versuch, vielleicht doch noch eine neue spur zu finden. im berliner Tagesspiegel erschien eine notiz, worin die bevorstehende behrens-ausgabe angekündigt und um „Informationen über Leben und Werk des Autors“ gebeten wurde. was ich kaum zu hoffen wagte, traf ein: aus der ddr meldete sich ein bruder, der maler und dichter herbert behrens-hangeler, ehemals mitglied der legendären Novembergruppe. ihm verdanke ich nicht nur wertvolle auskünfte und unschätzbares material, er brachte mich auch mit franz richard behrens selbst zusammen! der dichter lebte 81jährig, verarmt und vergessen, in einem düsteren untermietzimmer in ostberlin – leider muss ich nun hinter das „lebt“ wirklich ein endgültiges „e“ setzen, denn franz richard behrens ist am 30. april 1977 gestorben. über diese eindrucksvolle begegnung werde ich im abschliessenden nachwort zur werkausgabe näheres berichten.
hier nur soviel: meine verständliche erwartung, noch ungedruckte dichtungen oder ein in mehreren briefen erwähntes drama zu entdecken, schien sich zunächst nicht zu erfüllen. behrens selbst besass, wie er sagte, nichts – nicht einmal mehr die Blutblüte. vieles war ihm in den kriegs- und nachkriegswirren, auch bei umzügen, verloren gegangen. einen karton mit persönlichen dokumenten, die ihm offenbar besonders wertvoll waren, hatte er privat in westberlin deponiert. nach dem überraschenden bau der berliner mauer 1961 war ihm der weg dahin versperrt; so konnte er die vereinbarte lagergebühr von 20 dm monatlich nicht mehr bezahlen. name und adresse des verwahrers waren ihm inzwischen entfallen. zum glück, wie sich nun herausstellte, hatte er auch einiges seinem bruder übergeben.
wie behrens mir erzählte, hatte er nach 1925 ausser vereinzelten kurzen gedichten nichts poetisches mehr produziert. an ein theaterstück, das er geschrieben haben sollte, konnte er sich nicht mehr erinnern. allerdings wies er mich auf beiträge in der jugoslawischen zeitschrift Zenit hin (auf diese entlegene quelle war ich natürlich nicht gestossen); druckbelege konnte mir herbert behrens-hangeler aus seinem archiv zur verfügung stellen. ohne diesen fund wären einige der wichtigsten gedichte von franz richard behrens unbemerkt geblieben. herbert behrens-hangeler fand aber noch mehr: ungedruckte texte wie „Du holdes Bauernkind“. „Lieder für mein Dorf“, die grosse „Asta-Ode“ und die übersetzung eines leopardi-gedichtes; durchschläge der originalmanuskripte von „B = C“. „Der Roman der Lyrik“ und „Die Erde der Gottschreie“, nach denen ich die druckvorlagen in manchen punkten korrigieren konnte; überdies aufschlussreiches dokumentarisches material wie zeitungsausschnitte, zeitschriftenbeiträge, privatfotos, briefe, persönliche notizen, ein minutiöses publikationsverzeichnis von 1913–1919 und schliesslich – was sich als besondere entdeckung erwies – einen stapel handbeschrifteter postkarten, die meist zehnzeilige, gedichtartig notierte aphorismen (behrens bezeichnete sie im gespräch als „gedankenblitze“) enthielten. bei genauerer durchsicht entpuppten sich viele dieser aufzeichnungen als richtige, den publizierten durchaus ebenbürtige gedichte, die seinem lyrischen werk sogar noch einen neuen aspekt hinzufügen. weitere karten und zwei von behrens verloren geglaubte stummfilmmanuskripte – darunter das drehbuch zu dem berühmten Hamlet-film mit asta nielsen – entdeckte herbert behrens-hangeler im nachlass seines bruders. die sichtung und aufarbeitung dieses umfangreichen materials, das auch anhaltspunkte für weitere nachforschungen lieferte, hat die behrens-edition natürlich verzögert und ihr ursprüngliches konzept stark verändert. aus dem geplanten einzelband wurden nun zwei grössere bände – einer mit den gesammelten gedichten, ein zweiter mit den feldtagebüchern und reportagen aus dem ersten weltkrieg, den prosastücken, aphorismen, artikeln aus zeitschriften und tageszeitungen, auch ausgewählten sportberichten, und dem filmdrehbuch Hamlet. der zweite band wird zudem die Jugenderinnerungen an Franz Richard Behrens, die herbert behrens-hangeler freundlicherweise auf meine bitte hin niedergeschrieben hat, und ein ausführliches nachwort unter verwendung zahlreicher dokumentarischer belege enthalten.
dass die werkausgabe in dieser wesentlich erweiterten form erscheinen kann, hat erst herbert behrens-hangeler durch seine grosszügige hilfe und seinen selbstlosen, unermüdlichen einsatz ermöglicht. dafür sei ihm herzlich gedankt.

die gedichtsammlung Blutblüte habe ich an den anfang dieses bandes gestellt: zum einen, weil sie ein von behrens in auswahl und anordnung selbst gestaltetes ganzes bildet, zum andern, weil sie – bis auf drei – alle frühen gedichte enthält, also auch chronologisch an den anfang gehört. warum behrens die schon zuvor publizierten arbeiten – „Expressionist Artillerist“, „Chemin des Dames“ und „Sechstaktmotor“ – nicht in die Blutblüte aufgenommen hat, lässt sich nur vermuten. die beiden formal wie inhaltlich verwandten gedichte „Expressionist Artillerist“ und „Sechstaktmotor“ hat er vielleicht beiseite gelassen, weil sie ihm stilistisch zu eigenständig und auch zu umfangreich erschienen. das dritte, „Chemin des Dames“, hätte sich zwar im tonfall durchaus in die sammlung eingefügt; doch möglicherweise fand behrens an der runden zahl fünfzig so grossen gefallen, dass er dieses ihm wohl am ehesten entbehrlich dünkende gedicht als überzählig ausschied.
unter dem sammeltitel „Verstreute Gedichte“ schliessen sich die drei erwähnten und alle später publizierten kürzeren gedichte unmittelbar an die Blutblüte an; darauf folgen die längeren poetischen arbeiten, die man im Sturm als Dichtungen bezeichnete – beide gruppen in chronologischer anordnung nach den erscheinungsdaten, da entstehungsdaten nur ausnahmsweise zu ermitteln sind. aus briefstellen geht jedoch hervor, dass bei behrens niederschrift und publikation in der regel nicht weit auseinanderliegen. so hat er herwarth walden gegenüber stets auf möglichst umgehende veröffentlichung seiner manuskripte gedrängt und damit offenbar auch erfolg gehabt; nur für die dichtung „Vorsprung der Sonnenuhr“ konnte sich walden nicht sogleich erwärmen – sie erschien mit etwas mehr als einem jahr verspätung. natürlich ist – bei den spärlichen anhaltspunkten, die wir haben – nicht auszuschliessen, dass behrens manche gedichte, die er unentschlossen zurückgehalten hatte, später doch herausgab; in solchen fällen könnten entstehungs- und publikationsdatum weiter auseinanderliegen. da aber behrens’ poetisches werk, trotz stilistischer und methodischer konstanten, verschiedene stilperioden erkennen lässt, kommen sicher nicht viele gedichte als solche nachzügler in betracht. in der chronologischen abfolge der publikationsdaten zeichnet sich also auch weitgehend seine dichterische entwicklung ab.
bei dem versuch, diese stilperioden näher zu definieren und zeitlich abzugrenzen, ergeben sich etwa folgende gruppierungen. zur ersten, rein expressionistischen phase, die die wortkunst des Sturm exemplarisch repräsentiert, gehören neben der Blutblüte und den „Verstreuten Gedichten“ bis 1919 auch die dichtungen „Felde“ und „Vorsprung der Sonnenuhr“. zwischen april 1919 und oktober 1921 hat behrens nichts poetisches publiziert. für diese auffallende zäsur lassen sich biographische gründe anführen: seine tätigkeit als drehbuchautor (ab 1919), als redakteur der Deutschen Allgemeinen Zeitung (1919–1920) und als dramaturg der Richard Oswald Film Gesellschaft (ab 1921). zudem arbeitete behrens – wie der erstabdruck von vier teilstücken belegt – spätestens seit anfang 1919 an dem grossen, insgesamt 130 gedichte umfassenden zyklus „Die Erde der Gottschreie“, der dann erst ab dezember 1921 in fortsetzungen erschien. diesem zyklus, einer sammlung von einwortgedichten, die die expressionistische sprache aufs äusserte reduzieren, liegt – wie sich bei näherer analyse enthüllt – ein strenger konstruktionsplan zugrunde. „Die Erde der Gottschreie“ steht demnach als selbständiger, stilistisch markanter komplex zwischen den rein expressionistischen arbeiten und jenen der folgenden phase, die man vielleicht am besten als „konstruktivistisch“ bezeichnen könnte. konstruktivistische ordnungsprinzipien dominieren ab 1921 – in gedichten wie „Oppauamoniak“, „Valettiode“, „Die Dollar-Arie“, „Ich lerne nie um“, „Chicago“ und in den dichtungen „B = C“. „Der Roman der Lyrik“, „An meine Deutsch-Amerikanischen Freunde“, „Mein Haus ist ein Bethaus“. dazwischen stehen texte wie „Die Schlafzimmertragödie“ und „Gymnasium besuchts Bordell“, worin behrens kaum „verdichtetes“ sprachmaterial – oft banale sätze – in eher lockerer assoziativer weise montiert. auffällig ist, dass diese wie auch manche der konstruktivistischen arbeiten mit versatzstücken aus der gebrauchsliteratur operieren, was ihnen einen anstrich von Neuer Sachlichkeit verleiht. allerdings zeigen sich die für eine bestimmte periode charakteristischen stilmerkmale mitunter auch an werken aus einer anderen periode. einerseits weist – um nur ein beispiel zu nennen – das im juni 1916 publizierte gedicht „Preussisch“ in seinem strengen aufbau bereits konstruktivistische züge auf. andererseits hat behrens in den zwanziger jahren – etwa im „Jungfrauwurf“ oder in „Friedel, die Deutsche“ von 1923 – immer wieder auf expressionistische ausdrucksformen zurückgegriffen, auch wenn er sie nur partiell, als kontrastierendes stilmittel, einsetzt. so gibt es neben den für jede entwicklungsphase prototypischen arbeiten zahlreiche übergangs- und mischformen. schon darum wäre eine anordnung der gedichte nach stilistischen kriterien als gliederungsprinzip für die werkausgabe weder sinnvoll noch konsequent durchführbar gewesen.
die unpublizierten texte stehen am schluss des bandes – nicht nur weil unklar ist, ob behrens sie überhaupt für publikationswürdig erachtete, sondern auch weil sie chronologisch nicht genau einzuordnen sind. den zyklus „Du holdes Bauernkind“. „Lieder für mein Dorf“, der diktion nach offensichtlich ein jugendwerk, halte ich für die früheste aller (vorhandenen) literarischen arbeiten von behrens – dieser meinung ist übrigens auch sein bruder. wenn man diese stimmungsvollen, schon sehr persönlich gefärbten gedichte liest, sollte man nicht vergessen, dass wörter wie „Scholle“ und „Volk“ damals noch ideologisch unbelastet waren und dass es sich aller wahrscheinlichkeit nach um die arbeiten eines 18 bis 19jährigen handelt. 1913 publizierte der 18jährige franz richard behrens unter dem pseudonym „Frabe“ in der essener Rundschau seinen ersten artikel „Die Anfänge der deutschen Dorfdichtung“. inhaltlich hat dieser kurze text mit den „Liedern für mein Dorf“ kaum etwas zu tun, doch deutet die verwandtschaft der titel vielleicht auf eine zeitliche nähe von artikel und gedichtzyklus hin.
die „Asta-Ode“, wie alle unpublizierten texte nicht datiert, ist vermutlich 1923 entstanden. ob behrens den text je einer zeitschrift zum druck angeboten hat, ist zweifelhaft; denn man sollte meinen, dass er ihn – schon wegen des themas und der vergleichsweise „normalen“ sprache – mühelos auch in literarisch weniger ambitionierten blättern untergebracht hätte. es könnte sein, dass er sich scheute, gerade diese dichtung an die öffentlichkeit zu bringen. wie schon ihr hymnischer ton andeutet, wie ich aber auch aus gesprächen mit ihm schliesse, hatte behrens möglicherweise eine tiefere beziehung zu asta nielsen. so mag ihm die „Asta-Ode“ privater erschienen sein, als sie auf den aussenstehenden tatsächlich wirkt.
unter dem titel „Nachgelassene Gedichte“ habe ich ein einzelstück von etwa 1925, drei zahlengedichte von 1974–75, eine undatierte leopardi-übersetzung und den poetischen teil der bereits erwähnten „postkartentexte“ zusammengefasst; sie sind sicher grösstenteils in den zwanziger und dreissiger jahren entstanden, manche vielleicht noch später. diese gedichte haben fast impressionistischen charakter. sie sind spürbar von erlebnissen, situationen, stimmungen inspiriert, oft auch nur von bestimmten wörtern, besonders namen – zum beispiel strassennamen, hundenamen, hotelnamen, mädchennamen. Es sind im besten sinne des wortes „gelegenheitsgedichte“. doch ihre bildhaftigkeit, ihre musikalität, ihre assoziationsfülle bei äusserster konzentration des ausdrucks, ihre formale fixierung auf zehn zeilen heben diese gebilde über das bloss tagebuchhafte hinaus und bestätigen behrens als den grossen wortkünstler, der er von anfang an war.

schliesslich möchte ich noch erwähnen, dass ich franz richard behrens, als ich ihm den plan einer gesamtausgabe seiner gedichte eröffnete, natürlich fragte, ob er mich dabei beraten wolle. er fühlte sich dazu nicht in der lage – schon wegen seines altersbedingt schlechten gehörs, seiner sehschwierigkeiten und seiner im ganzen sehr geschwächten körperlichen verfassung. zudem konnte er sich an seine poetischen texte kaum noch erinnern. manches fiel ihm spontan wieder ein – von „Preussisch“ wusste er sogar noch die ersten zeilen auswendig, das meiste aber hatte er vollständig vergessen. so sehr ihn die völlig überraschende wiederentdeckung seines dichterischen werkes freute, so wenig wollte er selbst noch damit zu tun haben. „ich kann dazu nichts mehr sagen“, meinte er. „machen sie es so, wie sie es am richtigsten finden. ich vertraue ihnen, sie werden es schon gut machen!“ es war auch aussichtslos, ihn über mögliche druckfehler, verschiedene lesarten, über entstehungsgeschichte und methodik zu befragen; nur zur „Schokoladenen Ballade“ erzählte er mir näheres. zwar noch bei hellem verstand, lebte er bereits ausserhalb der realität – auch, wie mir schien, seiner eigenen, soweit sie vergangenheit war. hinweise auf seine poetische existenz – sie endete immerhin fünf jahre vor der geburt seines herausgebers – weckten in ihm nur noch vage vernehmbare echos.

Gerhard Rühm, Nachwort

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Zum 80. Geburtstag des Herausgebers:

Michael Lentz: Spiel ist Ernst, und Ernst ist Spiel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.2.2010

Paul Jandl: Dem Dichter Gerhard Rühm zum 80. Geburtstag
Die Welt, 12.2.2010

Zum 85. Geburtstag des Herausgebers:

Apa: „Die Mutter der Wiener Gruppe
Salzburger Nachrichten, 12.2.2015

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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Gerhard Rühm liest seine seufzer prozession am 10.11.2009 in der Alten Schmiede zu Wien.

 

Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld lesen unter anderem Sprechduette beim Literaturfestival Sprachsalz im Parkhotel bei Hall in Tirol (10.–12.9.2010)

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