Gerhard Falkner: Schorfheide

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gerhard Falkner: Schorfheide

Falkner-Schorfheide

SCHORFHEIDE

Mir geht es ähnlich wie den Worten
sie liegen offen wie Steine, es wächst
einfach kein Gras drüber, sie überstehen
ihr Schweigen mit unmenschlicher Härte
Das Gras hebt sie wie Schulterpolster
wenn im Morgentau es quillt
doch drückt das Totgeschwiegene
von oben
sie in den dunklen Daseinsgrund
zurück

Ich habe morgens überhaupt keine Chance mehr
meine Socken wiederzufinden
so existenziell ist alles geworden
so bodenlos vieldeutig
so schwärmerisch vertieft

 

 

Gerhard Falkner liest „Schorfheide“

 

 

Schlusswort

Die titelgebende Gegend dieses Gedichtbands, das heutige Biosphärenreservat Schorfheide, ist nicht im strengen Sinn die topographische oder naturhistorische Unterlage dieser Gedichte. Auch heute ist die exakte Ausdehnung der klassischen Schorfheide noch nicht endgültig oder überzeugend geklärt. Am konkretesten bezeichnete sie wohl die großen Waldungen im nördlichen Brandenburg, die als Hofjagdgehege dem preußischen Königshaus, dem letzten Kaiser und zuletzt hohen SED-Funktionären vorbehalten waren.
In diesen Gedichten sind die fließenden Übergänge in weite Teile der übrigen Uckermark, den Barnim, letztlich bis hinauf und hinüber zur Mecklenburgischen Seenplatte und zum Oderbruch einbegriffen, großenteils glazial geprägte Landschaften mit unzähligen Seen, Söllen und Mooren, Binnendünenfeldern, ausgedehnten Feuchtbiotopen, also Landschaften, die geprägt sind durch das Lebenskraft und Artenreichtum erzeugende, nahezu allgegenwärtige Wasser. Allein im engeren Gebiet der Schorfheide gibt es über zweihundert Seen und zahllose Moore.
Die Gedichte – en plein air oder auch sur le motif sind nicht absolut auf die Schorfheide und ihre Natur bezogen, es ist also in der Wiedergabe keine reine Freilichtpoesie, sondern sie springen immer wieder auf sozusagen „abwegige“ Ideen über. Die Topologien und Topographien sind eher Impulsgeber der Texte oder auch Deponien für die Trauer über ihre andernorts große Bedrohtheit und mithin das völlige Verschwundensein solcher Landschaften.
Ein topographisches, geographisches, historisches und naturgeschichtliches Gitter bildet mit Orten und Namen die Realität ab, über das andere, naheliegende und auch entlegenere Gitter gelegt werden in Form von einschlägigen Diskursverknüpfungen, die teilweise ohne strenge Ableitungen gesetzt werden und vertikal funktionieren.
Die Natur wird als Zeichensystem aufgefasst, das, da es in Sprache ausgedrückt werden soll, nämlich in der jeweiligen Form des Gedichts, immer wieder strukturelle und linguistische, aber auch grammatikalische und phänomenologische Assoziationen verknüpft, also alte Mittel in ihren postmodernen Updates verwendet.
All dem zugrunde liegt der Gedanke beziehungsweise meine Überzeugung, dass der poetische, über viele Jahrhunderte durchgängig stabile und hochwirksame naturpoetische Grundwortschatz, vergleichbar den lebenshaltenden Feuchtgebieten und den vitalen litoralen Geländen, in einem Maße geschwunden ist, dass er keine selbstorganisierende poetische Komplexität mehr zu schaffen vermag.
Die magnetische oder auch magische Wirkung einer Dichtung oder eines Gedichts verdankte sich orthodox den durch die Gedrängtheit und abweichende Rhythmisierung entstehenden Besonderheiten des Ausdrucks, die den Leser oder Hörer aufhorchen ließen. Bis vor kurzer Zeit gelang dies am Geläufigsten durch die Metapher oder den Neologismus. Wenn also das Wort sich selbst gegenüber wortbrüchig wurde. Heute ist die Metapher ermüdet und verglüht wie eine dehydrierte und ausgeräumte Landschaft.
Wenn man jedoch die Natur als Zeichensystem versteht und mit Zeichensystemen der Wissenschaften, der Linguistik, der Gewässerkunde, der Limnologie oder mit Splittern aus den gerade zur Mode verkommenden Anthropozän-Diskursen überschreibt, erreicht man zumindest bei den literarisch Aufgeschlossenen dieses Aufhorchen, von dem auch die gesamte sprachliche Umgebung des Ortes und des Gedichts profitiert. Die angewandte Methode war das Abklopfen von Landschaft nach poetischen Informationen, nach Metaphern oder sprachlichen Formeln, das sprachliche Abtasten der Natur nach dem „Ergreifenden“, bis das „postmoderne Wissen“ in diese Suche mit hineingerissen wird. Und das postmoderne Wissen wird nach Lyotard, dem Erfinder dieser Formel, nicht mehr durch die „großen Erzählungen“ (des Denkens) geleistet, sondern durch das von Wittgenstein abgeleitete, vielfältige, nicht unbedingt ineinander übersetzbare Sprachspiel. Voila! Hier schließt sich der Kreis.

Gerhard Falkner, Mai 2019, Nachwort

 

„Das Gedicht besitzt

den letzten einzigartigen Zugriff auf die Welt, in dem der Zugreifende als Subjekt agiert und durch abgewandelte Sprache animierend in die sich verflüchtigende Welt eingreift“, heißt es in einem jüngst erschienenen Text Falkners. So komme Dichtung im besten Falle noch immer die Aufgabe zu, der Sprache das Sprechen beizubringen. Wie das funktioniert, zeigt der Lyriker und Meister der Zuspitzung nachhaltig mit dem Zyklus „Schorfheide“. Er führt den Leser unter freien Himmel in die urwüchsige Natur vor den Toren Berlins, um Hören und Sehen, das Betrachten, Beachten und Verknüpfen zu reaktivieren. Mit scharfem Blick und Verstand setzt er Zeichen gegen ein „vernützlichtes Denken“ und das „Komplexitätsverbot“ der Kunst.

Berlin Verlag, Klappentext, 2019

 

Schorfheide (Bekennerschreiben)

– Verlandschaftlichung von Libellen, neurologischem Gras und Denkmodellen. –

Ich bekenne mich zum willentlichen und wissentlichen Versuch, das Naturgedicht auf neue Beine stellen zu wollen. Die Gründe hierfür sind zahlreich und vielfältig, einige davon möchte ich hier nennen.

Das 19. Jahrhundert hat in seiner kolossalen Bildungsleistung die letzten Lücken der Beschreibung und Katalogisierung von Natur geschlossen und den Blick der Wissenschaften ins Innere, in die Struktur, und mithin ins Unganzheitliche ihrer Phänomene gelenkt. Sie hat damit der Erwähnung ihrer Entitäten etwas Grobes und Oberflächliches aufgezwungen und ganz nebenbei den Wiedereintritt der Natur ins „Unbekannte“, in die „terra incognita“ begleitet.

Die Wissenschaft hat ihre Entdeckungen durch alle Zeiten mit dem Werkzeug der Zerstörung des Entdeckten ausgestattet, die Dialektik der Aufklärung hat da nur einen winzigen Ausschnitt beleuchtet, und nur im Schatten ihrer neuen sinnlichen Unzugänglichkeit, die der Natur nämlich, kann diese unvorstellbare gegenwärtige Weltzerstörung stattfinden.

Natur ist ja quasi die Bühne für das, was wir als Welt betrachten, und Nicht-Natur oder das Anorganische eigentlich nur ihre beinahe ebenso spektakuläre Kehrseite.
Alle Phänomene der belebten Natur sind im Einzelfall, also dem, was wir als Subjekt von ihr erleben, gebunden an Wahrnehmung – Wahrnehmung erzeugt gewissermaßen das Wahrgenommene, man könnte auch sagen, sie verwirklicht das Wahrgenommene. Nun können aber inzwischen die meisten Menschen, vor allem die jüngeren, nicht mehr zwischen einer Hecke und einem Drahtzaun unterscheiden, geschweige denn zwischen den Gewächsen, die eine Hecke zu bilden vermögen. Ihr begradigter, ihr kanalisierter Blick verweist Natur in die reale „Non-Existence“, ins Nicht-Gesehen-Werden, während ihre reale „Existence“ zwar jede Menge Speicherplatz belegt und damit Information bereithält, im Allgemeinen aber keine empathische Erkenntnis liefert.
Das Denken erweist sich mehr und mehr als Schutz vor den Dingen, als „invisible wall“ gegen die „hart im Raume stoßenden Sachen“.
Das Denken ist völlig vernützlicht und unterschreitet damit die Idee „Mensch“ erheblich.

Neun Zehntel der heutigen Super-Primaten starrt inzwischen in jeder „freien“ Minute so „gefesselt“ (sic) aufs Handy oder irgendein anderes Display, wie die Schimpansen auf den roten Plastikeimer, den man ihnen früher oft ins Gehege warf, nur fehlt ihnen das Sympathische, das unsere Blutsverwandten im genetischen Code (Genom) auszustrahlen vermochten.
Wenn man heute einen dieser Ureinwohner der Jetztzeit in die – nennen wir sie mal „freie“ – Natur verschleppt, so fällt auf, er sieht nichts, er hört nichts, er weiß nichts, er beachtet und betrachtet nichts. Er erkennt sich in ihr nicht wieder.
Damit sind die ästhetischen und epistemologischen Tröstungen, der gewaltige und im Ernstfall berauschende seelische Eindruck und sogar der Unterhaltungswert der Natur hinfällig.
Wenn nun Dichter quasi wie Ego-Shooter in der Natur unterwegs sind, um poetische Lexeme zu erlegen und „Credits“ zu sammeln, hat das meistens nur Quatsch zur Folge. Sowohl hinsichtlich der Bezeichnenden als auch hinsichtlich des Bezeichneten. Und das in beide Richtungen. Die dürftige Ausstattung mit Wissen um die Zusammenhänge oder gar die erbarmungslose Unkenntnis von Arten und Geschöpfen kann das Vorhandene nicht verarbeiten und, wo sie sich dazu fähig zeigt, verliert sie im Maße eben dieser Fähigkeit ihre Abnehmer. Auch hier bewirkt das grausige Komplexitätsverbot gegenüber der Kunst Verluste, die unbetrauert in den Klapsmühlen von Spaß und Freizeit verdunsten.
Trotzdem wird diese sozusagen von der Ignoranz niedergemähte Natur im Gedicht noch, oder noch immer, thematisiert, zum Entsetzen der Fachleute und zum Befremden der letzten am Massenschrott vorbeilesenden Menschen, die das ausgetüftelte und verkrampfte Kauderwelsch „bemühter“ Dichter zweiter und dritter Garnitur gegen die Lyrik nachhaltig vergrämt hat.
Nun bin ich aber der Überzeugung, dass das Gedicht eigentlich das Coolste und Aufregendste leistet, was Sprache vermag. Das Gedicht besitzt den letzten einzigartigen Zugriff auf die Welt, in dem der Zugreifende als Subjekt agiert und durch abgewandelte Sprache animierend in die sich verflüchtigende Welt eingreift. (Alle anderen Formen und Modelle strudeln im Strom vereinheitlichter Kommunikation in die gleiche Richtung, in die Meere von buntem Gemisch und Beliebigkeit.) Die Dichtung aber unternimmt noch immer den Versuch, der Sprache das Sprechen beizubringen, und nicht auf ihr die Abhänge und Rutschbahnen reiner literarischer Berichterstattung hinunterzurodeln.
Gedichte, dies ist meine Auffassung, sind nicht zum Träumen da, sondern zum Aufwachen.
Aber ohne die sogenannte „Intelligenz“ ist die Dichtung vom Wortgewurstel, vom Rabulismus, und von tödlicher Langweiligkeit bedroht.
Das war schon immer so.
Gedichte brauchen Leser, die sie im Vollbesitz ihrer hochkomplexen Implikationen und Möglichkeiten erfassen können. Man muss durch die Geistesgegenwart erregter Sprache, ihren reinen und verblüffenden Konstruktionen, einen Blick auf den Gesamtraum der Existenz tun können.
In Bezug auf Rilke, der, obwohl sein Werk fast nur aus klaren deutschen Worten besteht, für viele schon nicht mehr durchdringbar ist, sage ich immer: Je mehr jemand mitbringt, umso mehr kann er abholen.

Wo aber sitzt diese Intelligenz?
Wahrscheinlich in noch zugänglicher Ausprägung wie immer in den Universitäten, nur in den Naturwissenschaften im Allgemeinen jeglicher poetischen Irritabilität und Potenz entkleidet, quasi auf Schussfahrt durch Forschung und Karriere ins Finale von Erfolg und Ableben.
In den Geisteswissenschaften hingegen ist sie verschanzt hinter den Barrikaden von kulturellem Gedächtnis, Intertextualität, Systemtheorie, Gender Studies und anderen interdisziplinären Modulen, die im Grunde dazu da sind, Kategorien zu destabilisieren und Raum für heiße Luft zu schaffen.
Treffen wir sie also dort, wo sie sich verschanzt halten, an den Kriegsschauplätzen der Diskurse, deren Impetus weniger die sieghafte Einsicht, sondern eher die Zerschlagung (Dekonstruktion) der Sache ist.
Es gibt nämlich zunehmend wieder brillante Köpfe, die aus den Möglichkeiten der gültigen Methoden auf komplexere kulturelle Modelle einzugehen bereit sind, um nicht zu sagen, sich danach sehnen.
Das Theater radikaler Geistlosigkeit und leerer, fäkalisch übersteuerter Raserei, die dumpfbackige Bürgerschreckkultur, die insbesondere von notorischen Nachzüglern aus dem Osten den geistig zurückgebliebenen Kulturvermittlern aus dem Westen offeriert wird, die Zumutungen eines beträchtlichen Teils der konzeptuellen Künste, deren Reflexionsniveau oft weit unterhalb derer absolut durchschnittlicher Lebensbeobachter liegt, lassen den Don Carlos oder die Duineser Elegien wieder zu absoluten Höhepunkten der Kunsterfahrung werden und erlauben viel radikalere Verknüpfungen zu den Ist-Welten.
Bei diesem Phänomen und ihren Vertretern könnte man zu einer Rekonstruktion von Natur durch beispielsweise das Naturgedicht, und umgekehrt, ansetzen.
Wenn wir Natur nur durch Sprache vermitteln können, müssen wir diese Sprache auch in ihrer Struktur und in ihrem Übertragungsmodus dieser Natur unterlegen. Das heißt, wir müssen die Sprache einsetzen nicht nur mit dem, was sie zeigt oder worauf sie verweist, sondern wie sie das tut. Wenn wir zeitnah an die Natur heranwollen, müssen wir die Sprache der Diskurse und Wissenschaftsmodelle in die Darstellung von Natur einbeziehen. Mit anderen Worten, wir müssen die Natur auf die Folter einer anderen Begrifflichkeit spannen, um ihr ihre betörenden Geständnisse abzupressen. (Sozusagen den alten Wein in neuen Fässern.)
Die Syntax wird dabei nicht zum immanenten, sondern zum exponierten Bestandteil des Gedichts, sie wird in seinem Verlauf bodenschatzartig gefördert und mit neuen Verfahren entwickelt zu einer schlagkräftigen Sprache.
Natürlich ist das ein Trick. Wenn die alten poetischen Kategorien nicht mehr funktionieren, weil sie in den innerlich abgehärmten, informationspetrifizierten Menschen nicht mehr einzudringen vermögen, muss man zu anderen Mitteln greifen.

Die Sätze müssen neu gehärtet werden mit Klang, Überraschung, Faszination und Tiefe, wobei der Überraschung die Rolle des „Openers“ zufällt.
Die Klugen müssen durch die Falltüren ihrer Terminologien, ihrer eigenen Wortschatzfavoriten in die phänomenalen Räume von Natur und Außenwelt stürzen.
Die, die sich über nichts mehr wundern, muss man mit dem Kopf auf das Wunder stoßen.
Wenn wir von neurologischem Gras sprechen oder der Grammatologie der Entwässerungsgräben stutzt der Kulturwissenschaftler, Linguist oder Systemtheoriker und denkt, Moment mal, neurologisch verstehe ich, Grammatologie auch, aber Gras, Heide, Hain, was ist das denn?

Und damit hat der Damm, der Wall oder das Bollwerk des gegen alle Natur und Poesie gefeiten Stadtneurotikers und habituell lustlosen Cracks das erste Leck.

Gerhard Falkner, poet, Nr. 18, 2015

Krawehl, zweifrei

– Schwellender Dunst: Neue bedeutende Gedichte von Gerhard Falkner und Sascha Anderson. –

Gerhard Falkner, das muss man wissen, „geboren 1951, zählt zu den bedeutendsten Dichtern der Gegenwart“ (Klappentext), also nicht bloß deutscher Zunge, sondern sogar überhaupt, und wer ihn vielleicht trotzdem nicht kennt, ja noch nie von ihm gehört hat, wird von der ausführlichen biografischen Information profitieren, die, das muss man ebenfalls wissen, keineswegs von Loriots Poetenkarikatur Lothar Frohwein („Krawehl, krawehl“) stammt, sondern die reine, dabei bittere, freilich auch komische Wahrheit ist:

Er veröffentlichte zahlreiche Lyrikbände, u.a. Hölderlin Reparatur, für den er 2009 den Peter-Huchel-Preis erhielt, und Ignatien (2004). Für seine Novelle Bruno wurde ihm 2008 der Kranichsteiner Literaturpreis verliehen. … Seine Romane Apollokalypse (2016) und Romeo oder Julia (2017) standen auf der Long- bzw. Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurden von der Kritik gefeiert. Gerhard Falkner lebt in Berlin und Bayern.

Und hat natürlich auch die Villa Massimo hinter sich gebracht, ja erfolgreichst absolviert.
Was man dem frischen Gedichtband Schorfheide. Gedichte en plein air unbedingt anhört: „Mein Herz / ist ein aus dem Gehirn ausgebrochenes Pferd / aus grünem Licht / Galopp. Mi corazón. Galopp“, und das hat Loriot („Taubtrüber Ginst am Musenhain / Trübtauber Hain am Musenginst / Krawehl, krawehl!“) nicht besser gemacht; und bewiesen jetzt auch, dass das mit der Unendlichkeit des Universums nicht stimmen kann, misst es doch genau die Strecke zwischen bedeutenden Dichtern („Astern – schwälende Tage, / alte Beschwörung, Bann, / die Götter halten die Waage / eine zögernde Stunde an“) und bedeutendsten Gegenwartsdichtern, die für Romantitel wie Apollokalypse nicht ausgelacht und mit Lebensmitteln beworfen werden und also vollauf Carte blanche haben: „Keuche den leuchtenden Honig ins Antlitz der Herde / … / Alles löst sich aus dem Bann, will weiter / Der Dunst, der in den Büschen schwillt, leistet Beihilfe / zu einem bahnbrechenden Hirsch“ – dass es sich bei G. Falkner um einen bahnbrechenden Esel handelt, der nicht merken würde, was Poesie ist, wenn sie ihm mit dem Hintern ins Gesicht spränge, und aber haargenau weiß, welche fußlahmen Simulationen und selbstbewussten Unverschämtheiten man den Zuständigen als „epistemisches Gefunkel“ unterjubeln kann („Mit somnambulen Schritten / schreiten wir durch diesen sapphisch- / baudelaire’schen Raum“), sei hier nicht einmal vermutet, aus Erschöpfung, es hat ja alles keinen Sinn.
Es ist nämlich zu schlimm, zu arg: „Die Metonymien zu Melzow tauchen aus dem Wasser / und schöpfen ihren übertragenen Sinn / aus der Instabilität der Natur und ihren Emergenzen“ – gegen Falkners Gerhard, „frisch geduscht und gegoogelt“, von einer stabil fähigen Kritik gefeiert und davon gut und gern in Berlin und Bayern lebend, wirkt der ernstlich gelehrte Durs Grünbein, der vielleicht ein Schwätzer, aber manchmal auch ein Dichter ist, wie ein rundum vernünftiger, netter Mensch, und es ist wie stets im Leben: Man muss sich nur trauen, und was gewinnt, ist allemal das Dreiste. „Unterm Freilichthimmel schöpft der Uckersee / Verdacht auf immer stimmhaftere Wolken und klappt / die Wasserspiegel ein“ – was der Kritiker hier einklappt, ist sein kritisches Taschenbesteck. Denn die bloße Tatsache, dass solch „vertikal gesetzte Praktikantenprosa“ (Thomas Gsella), derart pferdegrün aus dem Gehirndunst brechende Stiefelei zwischen Buchdeckel gelangt, ästimiert wird und Existenzen ermöglicht, deren Hauptzweck die fortgesetzte Demütigung aller ist, die darauf bestehen, Kunst komme von Können, auch wenn sich das nicht rechnet, richtet einen Betrieb, der ja auch einer Jahrtausendbegabung wie S. Lewitscharoff den Büchnerpreis hingestellt hat; und sich, noch einmal, etwas namens Apollokalypse (erster Satz: „Wenn man verliebt ist und gut gefickt hat, verdoppelt die Welt ihre Anstrengung, in Erscheinung zu treten“) durchaus klaglos, ja begeistert hat servieren lassen. Dass eine gnadenlose Talentprobe wie Schorfheide dem Deutschen Literaturfonds ein Riesenstipendium wert war, macht vielleicht „unsere Trauer windig“ (Eich), ist aber nur das Tüpfelchen auf dem i in einem Wort, das Scheiße heißt.
Wer dem bedeutend-bedeutsamen Falkner („Frösche – / brüllende Smaragde“) allerdings zu Dank verpflichtet ist, ist Sascha („IM“) Anderson. Dessen zonengrauer Jammerquatsch, zuverlässig aus dem Unglück sich speisend, Martin Walsers Schwiegersohn zu sein („In der Verzweiflung / bin ich nicht zweizwei, in der / Verzweiflung bin ich // zweifrei. Was heißt das?“), wirkt dagegen fast wie Lyrik: „Denn wie der Hund glaubt, / glaubt auch die Suppe. Aber / sie riecht vieldeutig.“ Und also schon mal nicht nach Falkner. Bravissimo.

Stefan Gärtner, neues deutschland, 19.5.2019

Im stillen Gelände

– Wald und Wasser und dann und wann liegt da mal ein alter Stein: Gerhard Falkners großartiger Gedichtband Schorfheide. –

Der Wald ist die erste Zeile, der Himmel die Überschrift. Die Stämme stehen dicht gedrängt wie Lettern, durch die in der zweiten Zeile dann das Licht fällt. Schon hat sich die Landschaft in einen zu lesenden Text verwandelt. Oder ist es der Text, der als Landschaft erscheint? Ist es ein Schöpfungsakt im Wort? Schorfheide heißt der neue, großartige Gedichtband des Lyrikers Gerhard Falkner, der Natur zur Sprache bringt und experimentelle, zeitgemäße Formen der Naturlyrik erprobt. Wie kann man vor Zeitgenossen, die kaum noch vom Handydisplay hochsehen, überhaupt noch Natur bedichten? Was bedeutet die lyrische Libelle im Zeitalter des Artensterbens? Was können Frosch und Kormoran, Kiesel und Kiefer uns sagen?
Für den Dichter ist klar:

Mir geht es ähnlich wie den Worten
sie liegen offen wie Steine

Gerhard Falkner zieht als modernes Subjekt, „frisch geduscht und gegoogelt“ los, knüpft aber zugleich an die romantische Tradition der Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts an, als die Künstler ihre Ateliers verließen und die Staffelei direkt in der Natur aufstellten. So möchte er – durchaus auch in Eichendorff-Nachfolge – als „Freilichtdichter“ gesehen werden, der auf seinen Streifzügen das Notizbuch immer griffbereit hat. Was dabei herauskommt, nennt er „Gedichte en plein air“. Dieser Untertitel ist in seiner bildungshuberischen Gestelztheit nicht ohne Ironie zu lesen. Er ist bereits ein Beispiel dafür, wie Falkner mit Bildungsgeröll spielt und es in seinen Versen verwirbelt, so wie die Gletscher der Eiszeit Felsstücke vor sich herschoben.
Die Schorfheide, ein Waldgebiet nördlich von Berlin, eignet sich vorzüglich für dieses Vorhaben. Falkner fasst die Gegend eher weit, nimmt Oderbruch und Uckermark dazu und nennt in seinen Gedichten immer wieder die Orte, in deren Nähe er sich befindet: Templin, Prenzlau, Angermünde, Joachimsthal. Die Schorfheide wird von Wald und Wasser, Sand und Mergel und „fließenden Übergängen“ bestimmt, die umstandslos in die Lyrik übertragbar sind. Wenn alles zur Sprache wird, dann sind auch die Schichtungen der Eiszeitlandschaft als Sprachschichten in den Gedichten wiederzufinden. Aber auch die Geschichte ist in diesen Wäldern präsent, die Jagdrevier für Wilhelm II., Göring und zuletzt für Erich Honecker und seine Genossen gewesen sind.
Die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt verschwimmen, fließende Übergänge auch hier.
Der Dichter, der hier unterwegs ist, trägt all sein Wissen mit sich herum, das ständig in ihm wetterleuchtet. Trotzdem will er zunächst einmal nur sehen und vernehmen, was die Welt ihm entgegenbringt. Er ist ganz und gar Phänomenologe und kommt folglich nach „Ringelnattergebüsch“ und „Schwimmblattgesellschaften“ auf „Seinsversessenheiten“ zu sprechen. Da findet eine merkwürdige Metamorphose statt.
Der Dichter, zunächst noch mit „schwer atmendem Gehirn“, geht mehr und mehr auf in einem „Raum, der leer ist von Vergnügungen / der auf sich selbst beruht. Die Glut / der Sonne verlötet meine DNA mit den Rotlichtspuren blühenden Mooses / Die Äste ticken in den Bäumen / Zeit ist das aber nicht: / Zu viel Entrücktheit! / Zu viele Pausen zwischen den Lücken!“
So verschwimmen die Grenzen von Subjekt und Objekt – „fließende Übergänge“ auch hier –, und während der Dichter noch glaubt, die Natur zu betrachten, betrachtet die Natur vielmehr ihn, der sich als deren „letzte Meinungsverschiedenheit“ begreift und demütig notiert:

Falls es mich gibt, sitze ich hier auf einer gefällten Buche.

Da wundert es dann auch nicht mehr, wenn andernorts der „Subjekt-Objekt-Konflikt“ bei Jaspers thematisiert wird.
Falkner, der mit Hölderlin Reparatur (2008) und den Pergamon-Poems (2012) gezeigt hat, wie Überschreibungen klassischer Stoffe funktionieren, ist ein mit allen Wassern der Theorie und der Dichtkunst gewaschener postmoderner Lyriker. Ironie ist für ihn jedoch kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um Schönheit hervorzubringen:

Das Gras kann ich nicht wachsen hören
ich seh es trotzdem gern.

Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen fürchtet er weder das Schöne, noch den Witz, nutzt Reim, Rhythmus und Alliterationen mit großer Lust und sucht – jenseits der funkelnden Theorie – immer wieder das Leichte, Einfache.
Wenn er eines seiner Gedichte mit einer Zeile von Christian Morgenstern beginnen lässt: „Der Schlaf schickt seine Scharen in die Nacht“, dann ist das kein Bruch, sondern nahtlose Einverleibung. In kurzen Anmerkungen am Ende des Buches legt Falkner derlei Bezüge und Zitate offen, wie er überhaupt die Geheimniskrämerei scheut.
Man muss diese Gedichte gar nicht interpretieren, weil sie sich von alleine verstehen. Der Weg führt mit „hoher Abtastrate“ durchs „Breitbandgelände“ und von dort aus – mit Hölderlin und anderen – weiter ins Freie, ins Offene. Auch die linguistischen Gänge, auf denen Felder zu Zeichen werden und die Räume zu schwanken beginnen, enden nicht in grammatikalischen Sackgassen und diskursiven Holzwegen, sondern im „stillen Gelände auf den Schultern / einer verpassten Wirklichkeit“. Am Ende spricht Falkner kleine Gebete, lobt das Leben, die Augen und den Mund, der wieder lernt, „O“ zu sagen:

O Mensch, O Zeit, O Welt.

Doch so weit muss gar nicht gehen, wer im Rauschen der Eschen und im Knarzen der Rohrdommel zu Hause ist.

Jörg Magenau, Süddeutsche Zeitung, 4.6.2019

Libellen auf dem Flugfeld

– Zwischen Moor und Maustaste: Gerhard Falkner belebt mit seinem Schorfheide-Zyklus das Naturgedicht wieder. –

Einen Preis für das schillerndste Bonmot der lyrischen Saison kann man dem neuen Gedichtband Gerhard Falkners bereits jetzt zusprechen: „Ich bin ein Schwein aus der Herde Epikurs“: Was hier im Eingangsvers eines „Schorfheide“-Gedichts aufgerufen wird, zitiert nicht nur eine listige Selbstbeschreibung des großen Römers Horaz, sondern öffnet gleich das Feld für jene kunstvollen Diskursmischungen, die Falkner in seinen Gedichten ostentativ zelebriert.
Seit seinem phänomenalen Debüt so beginnen am körper die tage (1981) ist dieser Dichter ein begnadeter Abrissarbeiter an den alten Nomenklaturen der Lyrik-Tradition und ein Virtuose in der Verknüpfung antiker und moderner Metaphoriken. Was verbindet nun die lässige Selbstpositionierung des Horaz mit der Poetik Falkners? Ein ausgeprägter Hedonismus beim Zugriff auf die poetische und philosophische Tradition – und die Entschlossenheit, sich „aus dem Gefängnis der üblen Geschäfte und der Politik zu befreien“, wie es in den „Hauptlehrsätzen“ Epikurs einmal heißt.
Im vorangegangenen Gedichtbuch Ignatien, den „Elegien am Rande eines Nervenzusammenbruchs“ (2014), hatte der Dichter das Subjekt im digitalen Zeitalter besungen, dessen Wahrnehmungsfähigkeit unter den Imperativen des reinen Online-Daseins verkümmert ist. „Unsere Herzen schlagen für die Hologramme“, heißt es dort in jener sentenzenhaften Zuspitzung, die für diesen Autor charakteristisch ist. Der Schorfheide-Band entwirft nun eine Gegenwelt zu den Prozeduren des Online-Daseins – im beherzten Zugriff auf das neben der Liebe älteste Territorium der Lyrik: das Naturgedicht.
Am Ausgangspunkt steht hierbei die Beobachtung, dass die Dichter im digitalen Zeitalter „nicht mehr zwischen einer Hecke und einem Drahtzaun unterscheiden können“ und stattdessen in jeder freien Minute unentwegt auf ein Handy oder ein anderes Display starren. Und auch frühere Branchengrößen wie Brecht werden der botanischen Unkenntnis geziehen:

In der Frühe
sind die Tannen kupfern
schrieb Brecht
in den Buckower Elegien
Er meinte natürlich die Kiefern
denn die Tannen werden nicht kupfern…

Dagegen setzt Falkner nun die emphatische Verknüpfung des Naturschönen mit den Fachsprachen der Linguistik, der Informationstheorie und der Gewässerkunde. In den 80 Gedichten des Bandes durchquert er dabei historisches Terrain: von den „Stauchmoränen / bei Falkenberg“ bis zu den „Metonymien zu Melzow“. Der naturhistorische Stoffgrund dieser Gedichte ist nämlich die Schorfheide. Falkner macht sich auf zu den großen, von Seen, Mooren und Feuchtbiotopen durchzogenen Waldgebieten im nördlichen Brandenburg, die einst als Jagdrevier dem preußischen Königshaus und zuletzt der politischen Elite der DDR vorbehalten waren. Eine Landschaft, die heute zum bevorzugten Ausflugsziel und Fluchtort der von Berlin Erschöpften geworden ist.
Falkners Stichwortgeber bei seiner Suche nach neuen Formen der poetischen Topografie dieser Landschaften sind Friedrich Schlegels romantische Naturphilosophie und Paul Celans „Meridian“-Rede. So entstehen aufregende, zwischen Naturmagie, Geschichtsreflexion und kühlem Fachsprachenvokabular oszillierende Gedichte „unterm Freilichthimmel“ und „ohne Netzabdeckung“. Das eklektizistische Spiel mit „postmodernem Wissen“ soll, so deutet es der Autor in seinem „Schlusswort“ an, hier nur noch eine Nebenrolle spielen:

Als wir das andere Ufer erreichen, gelingen uns endlich
Schritte durch einen fußnotenfreien Raum

Die Tonlagen und Melodien, die im Schorfheide-Zyklus angeschlagen werden, schwanken indes heftig. Es gibt ironisch ausgekühlte Gedichte, die sich auf die Ernüchterung des naturpoetischen Grundwortschatzes konzentrieren und den Crash zwischen wissenschaftlicher Begrifflichkeit und den Topoi romantischer Naturpoesie vorsätzlich herbeiführen:

Die Glut der Sonne
verlötet meine DNA
mit den Rotlichtspuren blühenden Mooses

Das mit dem bereits erwähnten Horaz-Zitat kokettierende Gedicht verschmilzt zum Beispiel den Naturstoff mit den Termini des Linguisten Ferdinand de Saussure:

Gelegentlich hilft die rechte Maustaste gegen
das schlechte Gewissen, nichts zu teilen von dem
was sich in mir an Höhepunkten stapelt:
Heidekoller, Eichelmast, langue et parole
Start und Landung signifikanter Libellen
bei extremer Stadthitze im Hinterkopf

Es finden sich aber auch ganz wagemutig pathetische Gedichte, die vom ironischen Spiel mit den disparaten Zeichensystemen gänzlich absehen und stattdessen eine Ästhetik des Erhabenen wieder ins Recht setzen. Da hat der Autor den Habitus des geschmeidigen Hedonisten vollständig abgestreift und kultiviert unversehens einen sehr hohen Ton in leicht trochäisch und daktylisch dahinfließenden Versen:

Tauchgang der Kormorane, die Entrückung
ein Taumel durch blass getünchtes Gelände
noch kein Blau, nur müde, weiße Hände
doch im Auge arbeitet bereits die Verzückung

Die Ackerdisteln sinken hin, der Mohn verglüht
im Überschwang die Augen, die sich überschlagen
dir vermache ich alles, was so schwer mich verlässt
mir überlasse ich nichts und, wenn auch das zu Ende, den Rest

Hier ist man nun plötzlich mit einer Bildwelt konfrontiert, die man eher bei Rilkes Duineser Elegien oder dem ästhetischen Fundamentalismus Stefan Georges vermuten würde. Seine kühne These im „Schlusswort“ des Schorfheide-Bandes, die traditionelle Metapher sei heute „ermüdet und verglüht wie eine ausgeräumte und verglühte Landschaft“, hat Gerhard Falkner mit seinem Rückgriff auf sehr alte Kunstmittel eindrucksvoll widerlegt.

Michael Braun, Der Tagesspiegel, 24.5.2019

Hinter der Grossstadt ruft die Wildnis

– Auch Dichter kennen die Freilichtmalerei. Und Gerhard Falkner gehört unter diesen zu den Meistern. Mit seinen Gedichten zaubert er die schönsten Landschaften hervor. –

Das Naturgedicht lebt, und der Lyriker Gerhard Falkner führt die Tradition auf seine Weise fort. Seit den 1980er Jahren ist er massgeblich daran beteiligt, das zeitgenössische Gedicht zu verändern. Nun beweist er ein weiteres Mal seine Wandlungsfähigkeit und schlägt nach den Pergamon Poems (2012) und Ignatien (2014) ein neues Kapitel auf: Die Schorfheide, ein Biosphärenreservat im Nordosten von Berlin, hat er sich zum Gegenstand auserwählt.
Wohl nicht zufällig tragen über zwei Drittel der Texte denselben Titel wie das Buch: „Schorfheide“. Es handelt sich um eine kenntnisreiche Festschreibung einer Landschaft mit poetischen Mitteln, das Wörtlichnehmen der Orte, Dörfer und Flecken, der Topografien an sich. Falkner nimmt die unweit der Grossstadt gelegene geschützte Landschaft als Gegenentwurf zu Beschleunigung und Zerstreuung in den Blick. Der Untertitel des Bandes, „Gedichte en plein air“, mag ironisch gemeint sein, die Freilichtmalerei und Formen des Impressionismus stehen jedoch tatsächlich einigen Gedichten Pate.
Bereits mit dem ersten Kapitel begibt sich der Dichter in das Gebiet der Verweise, wie anders könnte man das „Ringelnattergebüsch“ deuten, wenn nicht als eine Korrespondenz mit Huchels „Kreuzotterndickicht“. Beide verbindet ein Warnsystem, und beide sind sie Chiffren einer bedrohten Welt. Während Huchel den Ruf der Eule auf dem Hohlweg vernahm, hört Falkner, Ausdruck des Zeitenwandels, einen grossen BMW durch den Nachmittag brettern. Und doch vermag er die Schönheit mit grosser Verletzlichkeit und Inbrunst anzurufen, sei es die „vielstrophige Nachtigall“ oder die Kornweihe, den Zug der Kormorane.
Immer wieder finden sich betörende Verse, mitunter in postmodernen Brechungen des Sehens und Wahrnehmens, etwa wenn „in den Rechenzentren der Rehkitze / die Festplatten glühen“. Fast schon von verzärtelter Schwelgerei klingen einige der Verse:

Wir waren die Schmetterlinge eines verwehenden Sommers.

Wer mag es ihm angesichts der Plastikmeere und einer versengten Erde verdenken, wer möchte nicht wie der Dichter aussprechen, was uns versagt bleibt:

Mein Herz spaziert als kleiner Zigeuner über
den Zweigen, bis das Buntspechtweibchen es aufpickt

Auf seinen Streifzügen durch die brandenburgischen Landschaften hat Falkner auch die Liebe zum Endreim entdeckt. Will er dem Leser in der Pose des Klassikers entgegentreten? Nicht immer ist dies ein überzeugendes Stilmittel, auch die häufige Verwendung von Genitiven stört zuweilen. Rätselhaft bleiben Gedichte wie „Manila liest Celan am Grossen Uckersee“, selbst wenn man ahnt, was gemeint sein könnte. Die Referenzen erscheinen in einigen Texten als Ballast, den man sich abgeworfen wünscht. Die überzogene Replik im „Epilog“ auf Brecht, der angeblich Kiefern und Tannen nicht zu unterscheiden wusste, wohin führt dies? Zu einer Hybris, die einem Autor von der zweifelsfreien Könnerschaft eines Gerhard Falkner nicht gut zu Gesicht steht.
„Gras, auseinander geschrieben“, so heisst es bei Paul Celan. Doch erst am Ende aller Zitate, in denen sich Falkner hervorragend auskennt, steckt das Genuine und Eigene. Das, was diesen Dichter von den meisten seiner Berufskollegen frappant unterscheidet. Wer Zeilen wie „Ich hab die Sommerwolken nicht erfunden“ so mühelos hervorbringt, gehört zu den ganz Grossen seiner Zunft. Auf Gerhard Falkners Palette, sei er ein lyrischer Freilichtmaler, sei er ein später Zeichenleser oder wandernder Sänger, gehört der Band Schorfheide zu den einprägsamen Höhepunkten.

Tom Schulz, Neue Zürcher Zeitung, 20.6.2019

Suppe für Frauenhelden

– Neue Zusammenhänge und alte Widersprüche. Wie drei neue Lyrikbände aufs sprachliche Reduzieren setzen und gerade damit an die herrliche Komplexität von Gesellschaft, Natur und Liebe erinnern. –

(…)

Während die junge Dichterin aus Wien mit Liebeslyrik begeistert, die sich vom Ballast der poetischen Tradition meist fernhält, animiert der mittlerweile auch als Romanschriftsteller erfolgreiche Dichtersenior Gerhard Falkner in seinem neuen Band Schorfheide die Naturlyrik, in dem nicht nur die Schönheit der Wälder und Felder besungen werden, die historische Kulturlandschaft im nördlichen Brandenburg poetisch vermessen, sondern immer auch das Verhältnis des Dichters zum sprachlichen Stoff befragt wird:

Frisch geduscht und gegoogelt trete ich hinaus
ins Offene
die Dunkelheit des Morgens geht noch gegen
unendlich und die Gedanken folgen noch keiner
Ordnung, obwohl schon einige Vogelstimmen
einen Vorstoß wagen ins sichtbare Licht

Falkners „Gedichte en plein air“ sind eine Art lyrische Fortsetzung der klassischen Malerei unter freiem Himmel, wobei der skeptische Dichter zunächst einmal feststellt, dass uns die Zeichen der Natur genauso fremd geworden sind wie das klassische Versmaß:

Freilich sind uns die Werke der Wälder
fremder inzwischen als die des Ovid
und die knisternde Wollust der Felder
ferner als das fernste Orplid

Weil Falkner sich aber nicht auf die ferne Märcheninsel zurückziehen möchte, die Mörike einst erfand, zieht er los, um den „naturpoetischen Grundwortschatz“ überhaupt erst mal wiederzuentdecken. Falkner klopft die Landschaft ab, sucht nach lyrischen Momenten in der unberührten Landschaft, findet sie, übersetzt sie in ein vielfältiges und atemberaubendes Sprachspiel. Er kann alle poetischen Register ziehen und alles mit allem in Verbindung setzen, und bleibt sich doch treu in der Präzision des Gedankens, der wahrhaft freie Assoziationen ermöglicht.
So entwirft Falkner ein poetisches Gegenprogramm zum tümelnden Heimatfreund, der nur wenig von den Zusammenhängen in der Natur versteht und sich seine Ergriffenheit über die deutschen Auen doch nur aus den althergebrachten Pathosformeln borgt. Viel mehr als der ausschweifenden Prosa gelingt es also der kunstvoll auf Verknappung setzenden Lyrik, den Plattitüden in der Politik ein tiefgründiges Erinnern entgegenzusetzen:

Mir geht es ähnlich wie den Worten
sie liegen offen wie Steine, es wächst
einfach kein Gras drüber, sie überstehen
ihr Schweigen mit unmenschlicher Härte.

Wie Falkner hier mit einem klassischen Zeilensprung die einander entfremdete Sprach- und Dingwelt wieder verbindet, zeigt seine beeindruckende Könnerschaft. Dieser Dichter, der aus der Fülle schöpfen könnte, weiß um die Macht der kleinen Formen.
Was Chanas heiter-melancholische Liebeslyrik und Falkners Freiluftpoesie also verbindet, ist die elegante Zuspitzung und die Erkenntnis, dass in der Reduktion, die Vielstimmigkeit zulässt, die Sprache selbst wieder zum Sprechen kommt. Da geraten dann selbst einfache Suchbewegungen zu Möglichkeiten, sich zu vertiefen und das Vieldeutige ernsthaft und zugleich mit einem leichten Augenzwinkern zu loben:

Ich habe morgens überhaupt keine Chance mehr
meine Socken wiederzufinden
so existenziell ist alles geworden
so bodenlos vieldeutig
so schwärmerisch vertieft.

Carsten Otte, die tageszeitung, 24.7.2019

Gelungener Rekurs in die Natur für eine neue Basis

Nach Jahren der Abstinenz, in denen Gerhard Falkner auf epischen Pfaden unterwegs war, kehrt er nun zur Lyrik zurück. Seit längerem fordert er, dem Naturgedicht eine neue Basis zu geben, da sich die Dichter im digitalen Zeitalter immer mehr der Natur entfremden, statt sie in ihrem urwüchsigen Zustand zu erschließen, wie er im Band Bekennerschreiben kritisierte. Er ist überzeugt:

Wenn man… die Natur als Zeichensystem versteht und mit Zeichensystemen der Wissenschaften… überschreibt, erreicht man zumindest bei den literarisch Aufgeschlossenen dieses Aufhorchen, von dem auch die sprachliche Umgebung des Ortes und des Gedichtes profitiert.

Und er verleiht dieser Überzeugung Nachdruck mit seinem Gedichtband Schorfheide. Dazu begibt er sich in diese Landschaft nordöstlich von Berlin, die seit Kaiser Wilhelm II. vornehmlich als Jagdrevier für die Herrschenden diente. Er bezeichnet die Texte als „Gedichte en plein air“. Falkner wandert durch die Schorfheide entlang der Moore, Seen und Feuchtgebiete. Das Biosphärenreservat macht er zu seinem Thema, indem er die Natur ungetrübten Sinnes („ohne Netzabdeckung“) in sich aufnimmt und in magisch schwebende Poesie verwandelt. So entstanden großartige Gedichte, die zu erschließen nicht immer leicht ist. Aber gerade das bereitet Freude und animiert zum (Nach-) Denken.
Zwar bedient sich Falkner einerseits traditioneller poetischer Mittel in Rhythmus und Reim wie Binnen- und Endreim, die Wohlklang erzeugen, andererseits wird diese Harmonie gebrochen, indem er prosaische Textteile einfügt oder voranstellt und Ironie der Harmonie weicht. Das erinnert, wenn auch entfernt, an Heinrich Heine. Dem Pathetischen gewährt er Raum, wobei einen dieses Pathos schmunzeln lässt, beispielsweise in diesem Gedicht:

Ich muss mein Leben
endlich wieder loben…
Und oder ein O
ertönen lassen. O Mensch, O Zeit,
O Welt, nicht zu fassen, alles ruft sich
beim Namen.

Auch das Erhabene fließt in seine Gedichte ein:

Als wir das andere Ufer erreichen, gelingen uns endlich
Schritte durch einen fußnotenfreien Raum.

Vieles mehr an Sprachbildern und Wortschöpfungen wäre noch zu nennen.
Einen Geniestreich leistet sich Falkner mit der Überschrift für die Gedichte am Ende des Bandes: „GRAS, RÜCKWÄRTSGESPROCHEN“. So etwas muss einem erst einmal einfallen. Das lyrische Ich übertrifft sich an Selbstironie. Allerdings fließt in diese Gedichte ein wenig Resignation, Larmoyanz und Skepsis mit ein, wenn es um seinen Nachruhm geht, sodass man den Dichter umarmen und trösten, ihm abgewandelt die Goetheschen Faustworte zuflüstern möchte: Es wird die Spur von deinen Erdentagen nicht in Äonen untergehen.

Gisela Pelz, Freie Presse, 22.8.2019

Offen wie ein Stein

–Drei Gedichtbände erkunden unsere menschliche Beziehung zur mehr-als-menschlichen Welt. –

Welchen Anteil hat menschliches Tun an den Feuerwalzen, die im letzten Jahr durch Australien wüteten? Am Dürresommer in Europa? Am ständig steigenden Methanausstoß des auftauenden Permafrostbodens in Sibirien? Eine neue Wissenschaft, Attribution Science genannt, beschäftigt sich mit der Zuschreibung von Kausalitäten im Wettergeschehen. Die Umweltethik einer Zeit, in der Menschen zu geologischen Akteuren geworden sind, will belangbare Schuldige benennen können. Den meisten Zeitgenossen ist insgeheim bewusst, dass ihr Konsumverhalten unsere Welt von Grund auf verändert. Ob sie dafür den modischen Begriff „Anthropozän“ verwenden oder nicht, sie sind alle Bürger einer Zivilisation, die auf Kriegsfuß mit der Biosphäre steht.
In der Literatur finden sich frühe Zeugnisse einer intuitiven Ahnung, dass das kollektive Wirken des Menschen tief in den Naturhaushalt eingreift, etwa schon bei Johann Gottfried Herder Ende des 18. oder den dystopischen Visionen eines „letzten Menschen“ im frühen 19. Jahrhundert. 1924 veröffentlichte Alfred Döblin mit dem Geo-Epos Berge Meere und Giganten einen Urtext der Anthropozänliteratur – 80 Jahre bevor der Begriff geprägt wurde. 1979 verdichtet Max Frisch in seinem experimentellen Text Der Mensch erscheint im Holozän Reflexionen über die vom Menschen verursachte Veränderung der natürlichen Rahmenbedingungen unserer Existenz. Die Lyrik kam da naturgemäß später, ist sie doch vornehmlich interessiert am sinnlich Erfahrbaren und subjektiv Verdichteten. Doch auch in Gedichten hinterlässt die Wahrnehmung der Erde als System oder Organismus schon länger ihre Spuren, etwa bei Ingeborg Bachmann oder bei Wulf Kirsten. Dessen wichtigste Gedichte wurden nicht zufällig unter dem Titel Erdlebenbilder (2004) veröffentlicht, der Bezug nimmt auf den Anspruch des romantischen Malers Carl Gustav Carus, im Gemälde sowohl objektives Geotop (Erdleben) wie auch subjektives Landschaftsempfinden (Erleben) auszudrücken.
(…)

Die lyrische Entdeckung des letzten Herbstes war der neue Band von Gerhard Falkner, Schorfheide: Gedichte en plein air. Von der ersten Zeile weg zieht der unverkennbare Sound die Leser in seinen Bann und ermöglicht einzigartige Begegnungen mit der Welt:

Ebenso wie mein Herz
ist diese Heide das Ergebnis der letzten Eiszeit
Von den Fortschritten der Neurowissenschaften…
bleibt diese Tatsache unberührt.

Das Ganze ist, wie bei Kirsten, eine Suche nach Lebenswundern „en plein air“ – unterm „Freilichthimmel / im blindlings durchwanderten Breitband-Gelände“. In der Fähigkeit, das Ungestaltete, sich ständig neu Gestaltende in der Natur staunend walten zu lassen, „gelingen uns endlich / Schritte durch einen fußnotenfreien Raum“. Im Staunen kann Sprache zu ihren schöpferischen Wurzeln zurückfinden. Den Verächtern der Naturforscher und den Zweiflern daran, dass die Menschen der „mehr-als-menschlichen Welt“ (David Abram) überhaupt begegnen könnten, wirft Falkner mit einem verschmitzten Lächeln seine Sätze ins Gesicht:

Ich habe die Sommerwolken nicht erfunden
sie wurden mir ans Herz gelegt
vom Barnim, seinem pleistozänen Höhenzug
der sich bis Pankow hinbewegt.

Die „Seinsvergessenheiten“ der Gegenwart nimmt er in all ihrer Aufgeblasenheit ins Visier und bringt sie zum Platzen. Wie er auf seinen Streifzügen durch die Schorfheide über die Worte stolpert, die, „offen wie Steine“, seine Sinne weiten zu einem Raum, „der auf sich selbst beruht“, ist eine Klasse für sich. Falkners Poetik ist dabei sowohl Trauerarbeit als auch Exerzitium: Er möchte durch den Verlust unserer lebendigen Beziehung zu Landschaften und unseres „naturpoetischen Grundwortschatzes“ hindurch ein Gespür wecken für das Wilde, das auch in den ausgeräumten Landschaften des Anthropozäns noch wirkt. Seine Gedichte sind eine schonungslose Analyse unserer „Erdentfremdung“ und gleichzeitig eine geduldige Einübung in die Fähigkeit, vom „Werken der Wälder“ und vom Flügelschlag des Apollofalters ergriffen zu werden.

Bernhard Malkmus, der Freitag, 13.6.2020

Bernhard Malkmus, der Freitag, 13.6.2020

Poetische Wanderungen durch die Schorfheide

Gerhard Falkner bereichert die deutschsprachige Literatur seit mehr als vierzig Jahren, mit Romanen, Essays und vor allem Lyrikbänden. Umso gespannter war ich auf seinen neuen Gedichtband über die Schorfheide. Vor allem: Wie beziehen sich die Gedichte „en plein air“, im Freien gemalt, auf die Schorfheide, jenen verwunschenen Landstrich zwischen dem Barnim und der Uckermark? Und wenn sie sich auf die Region im Norden von Berlin beziehen, was unterscheidet Falkners Gedichte dann von belangloser Naturlyrik, bei der sich „Baum“ auf „Traum“ reimt? Beim ruhigen Lesen wurde mir schnell klar: Falkner durchbricht die herkömmlichen Erwartungen. Während er poetisch durch das Plagefenn schreitet, zaubert er Worte aus den Neurowissenschaften, aus der Biologie, aus der Sprachgeschichte in seine Verse, schmiedet daraus etwas ganz Neues. Und manchmal zeigt er uns ein fast vergessenes Wort, gleich einem schimmernden Juwel, wie die „tschitscheringrünen“ Girlitze. Falkner ist ein exzellenter Kenner der Schorfheide; seine Gedichte sind denn auch Wanderungen, aber nicht dokumentierend, im Fontaneschen Sinne. Vielmehr sind sie Pfade, die uns in mehrere Dimensionen der Landschaft führen können. „Die Nacht bei Groß Dölln“ hat beispielsweise eine historische Ebene, die sich erschließt, wenn man weiß, dass sich Hermann Görings Anwesen „Carinhall“ dort einmal befand. Überhaupt lebt der ganze Band durch die Nähe zur Landschaft: zur Schorfheide natürlich, aber auch zum Barnim, zur Uckermark, zur Oberhavel. Ein Tipp zum Schluss, um Dichtung einmal anders wahrzunehmen: Fahren Sie doch, wenn es geht, einfach hinaus in die Schorfheide. Und lesen sie die Gedichte dort: in Kloster Chorin oder am Oberuckersee. Am besten bei einer Flasche Wein…

Katzenauge, amazon.de, 20.5.2019

Falkners Gedichte sind Lyrik auf der Höhe der Zeit !!!

Spätzünder Gerhard Falkner hatte ich noch nicht auf meinem Radar,
aber mit SCHORFHEIDE hat er mich erwischt.

Dabei stimmt die geografische Eingrenzung gar nicht.
Seine Gedichte fassen viel mehr!

Er weiß von Honeckers Jagden und des Großstädters Socken,
er weiß aber auch vom hier lebenden Getier zu erzählen.

Was er am besten kann: Er wirbelt mein Hirn durcheinander!

SCHORFHEIDE ist kein Buch welches man beginnt,
durchliest und dann wohlsortiert in die schmale Gedichteecke stellt.

Man kann alle paar Tage dran nippen und wird immer wieder
erfrischt in den Tag starten!

Falkners Gedichte sind Lyrik auf der Höhe der Zeit !!!

Christian Döring, amazon.de, 21.5.2019

„Die Bücher, die ich am meisten verehre, besitze ich nicht“

Zu Gerhard Falkners Buch setze ich folgende Geschichte von mir, sie heißt „Neue Eigentümer“: Die weitläufige Liegenschaft in der Schorfheide ist derzeit, einen Tag vor Heiligabend 1989, im Vollbesitz des Pförtnerpaares Brigitte und Alfred G. Einst dienten das Gebäude und der angeschlossene Garten der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Die Dienstherren und Oberen sind seither verschwunden. Telefonkontakte zur vorgesetzten Behörde sind nicht herstellbar.
So haben die Concierge und ihr Lebensgefährte sich in der Bibliothek und im Herrenzimmer (so noch benannt von den nationalsozialistischen Bebauern dieses Geländes) ihr Domizil eingerichtet. Vielleicht heiraten sie demnächst noch, legalisieren ihren Lebensbund? Den Gartenteich des Geländes könnte man zur Fischzucht verwenden. Mit den Erlösen daraus und den Eintrittsgeldern für die Besichtigung des seltsamen Hauses wäre die Renovierung des „Herrensitzes“ zu finanzieren.

Alexander Kluge, Die Welt, 14.2.2023

 

 

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Jan Kuhlbrodt: Bei der Lektüre von Falkners Schorfheide
signaturen-magazin.de

Michael Wolf: Gerhard Falkners Schorfheide
lyrikkritik.de

Patty Nash: Falkner, Gerhard. Schorfheide
lyrikkritik.de

Regina Menke: Zu Gerhard Falkner: Schorfheide. Gedichte en plein air (Probekritik)
lyrikkritik.de

Marcus Neuert: Sprachspiel „nature“
lyrikkritik.de

Marina Büttner: Gerhard Falkner: Schorfheide…
literaturleuchtet, 25.6.2019

Session IX – Zwischen Haltung und Unterhaltung
Pecha Kucha-Abend mit Irina Bondas | Eric Ehrhardt | Jan Kuhlbrodt | Regina Menke | Patty Nash | Marcus Neuert | Florian Neuner | Michael Wolf | Thomas Hashemi | Moderation Hendrik Jackson | Gastreferentin Beate Tröger

 

Lyrik am Rand des literarischen Feldes.

– Zur Feldposition des Werkes von Gerhard Falkner. –

Die Bedingungen des Gedichts sind, und das nicht nur bei Lichte betrachtet, miserabel, und zwar in allen damit zusammenhängenden Faktoren. Sie sind so miserabel, daß man sich fragen muß, wieso diese Sumpfblüte überhaupt noch existiert. Ich denke, sie existiert immer noch aufgrund und im Schutze einer hochbesonderen Zwielichtigkeit, die auf diesem Kulturschutzgebiet, diesem abgewirtschafteten Orplid, wohl zu den Lebensbedingungen gehört. Das Leben dort ist versponnen, spökenkiekerhaft und äußerst dürftig.

Die „Jammergestalt des Poeten“ hat Gerhard Falkner 1999 den Essay genannt, aus dem das Zitat stammt;1 er bringt die aktuellen „Bedingungen des Gedichts“ ebenso illusionslos wie präzise auf den Punkt: die „Sumpfblüten“-Existenz, das Vegetieren im „Kulturschutzgebiet“, die Dürftigkeit der materiellen Existenz und jenes „spökenkiekerhaft“ Versponnene, das trotz allem oder gerade deshalb lyrische Produktionsenergien antreibt. Während anderswo poetische Konfessionen das Gedicht wegen seiner Semantik des Einzigartigen und den Dichter als die Schöpfer kleiner Universen feiern,2 konturiert Falkner mit wenigen eingeschwärzten, durch und durch negativen Strichen die „Jammergestalt des Poeten“ und durchkreuzt mit destruktiver rhetorischer Lust die euphorischen Selbsttäuschungen zeitgenössischer Poetiken.
Inhaltlich ist damit die Grundthese dieses Beitrags klar, der sich in drei Schritte gliedert, wobei er sich gleichsam von außen nach innen bewegt: Das erste Schlaglicht gilt der Lyrik am Rand des literarischen Feldes;3 das zweite Schlaglicht ist für einen der großen einschlägigen Schlüsseltexte Falkners zum Thema reserviert, für die Schrift Über den Unwert des Gedichts.4 Im dritten Schritt soll an entsprechenden Paradigmen Falkners Lyrik auf ihren Konnex zu seinen poetologischen Positionen befragt werden.

I.
Wo heute die einschlägigen Netzwerke, von den Dichterwerkstätten der Metropolen bis zu den literarischen Internetforen, die aktuelle Kommunikationsachse der Lyrikerinnen und Lyriker bestimmen, lassen sich bei Falkner schon früh Spuren beharrender Distanz zum aktuellen Lyrikbetrieb finden – im Wissen um jene schon zitierten ,miserablen‘ „Bedingungen des Gedichts“. So registriert Falkner im Jahr 2000 angesichts der „neuerlichen Intellektrifizierung des Gedichts Ende der achtziger Jahre“, es seien „die meisten der wenigen herausragenden Figuren in die Falle ihres gefundenen oder (für das Gedicht tödlichen) eloquenten Stils gegangen.“5 Der „eigene Stil“6

werde zum tendenziell verengenden Korridor mit poetischer Wahlwiederholung. Der populistische Druck der event-Kultur drängt die Lyrik ins Schaustellergewerbe.7

Aus meiner Sicht ist das Abgrenzungsbedürfnis das erste konstante Merkmal dieser selbstdefinierten Feldposition, die komplex durchgearbeitete, jenseits des gängigen Mainstreams entstandene Gedichte – eben „endogene Gedichte“ – vor der Vermischung mit vergänglichen Lyrik-Moden bewahrt. Kennzeichen solcher Moden sind poetische Stil-Reproduktionen, die sich bei unterschiedlichen Dichtern zum Verwechseln ähnlich sind. In der Tat fällt jener „Korridor mit poetischer Wahlwiederholung“ in den 1990er Jahren dort besonders auf, wo um den eigenen Sound, die unverwechselbare Stimme, den Wiedererkennungseffekt und die eigene Nuance gestritten wird im ohnehin begrenzten Aufmerksamkeitsradius der Lyrik. Es ist dies die Zeit, wo manches aus dem poetry slam in die Lyrik-Szene drängt und das Auditive, das ja stets zur Lyrik-Rezeption gehörte, als Wiederentdeckung der Poesie gilt. Viel Beifall konnte daher nicht erwarten, wer wie Falkner das poetische „Schaustellergewerbe“ und seine Fans an die „hermetische Schwebe“ erinnert, „die die Dichtung zum Stern über der bildenden Kunst macht und der […] seit je her das besondere Interesse der Philosophen gilt.“8
Trotz einiger preisgekrönter, im Feuilleton wie im Zeitungsgedicht allzeit bereiter Poeten-Namen ist die Zeit der ,Höhenkamm‘-Lyrik mit Aufmerksamkeitsmonopol für eine kleine Gruppe teils alter, seit den 1950er Jahren publizierender Lyriker vorbei. Dafür entstehen Netzwerke unterschiedlichster Art, in denen viele werkstattartige Poetiken kursieren, die freilich Polemiken oder tiefergehende Debatten schon deshalb scheuen, weil für sie Falkners Beobachtung aus dem Unwert des Gedichts zutrifft:

Die meisten Autoren wirken inzwischen wie Empfangsdamen, sie sitzen am Computer […], erwarten Anrufe, organisieren Termine und sind immer eine Spur zu aufgedonnert für die seriöse Sparte.9

Das galt schon 1993, als Falkners wichtige poetologische Schrift erschien; und wer wollte behaupten, dass die Erkenntnis obsolet geworden ist?

So findet sich in den „(47) Sätze[n] gegen die Unruhe“ aus der Hölderlin Reparatur von 2008 eine autobiographisch gehaltene Entsprechung:

Als ich mit dem Schreiben begann, dachte ich immer, ich befände mich unter ,men of letters‘, nicht unter Tippsen, Betriebsnudeln und Homepagern.10

Immer wieder erinnert der Autor an die Schwierigkeit der Gedichtlektüre, die dem lyrischen Text den Status eines komplexen Gebildes bewahrt. So heißt es in den Sätze[n] gegen die Unruhe in direkter Leser-Ansprache und mit Bezug zum vorliegenden Buch:

Sie haben dieses Buch nie gelesen, wenn sie es nicht mindestens dreimal gelesen haben.
Erst nach dem dritten Mal können Sie überhaupt daran denken, es ein erstes Mal zu lesen
.11

Die Paradoxie hat die Funktion, die Spannung zwischen Rezipienten und Gedichtband aufrecht zu erhalten, ohne sie harmonisch aufzulösen. In diesen Kontext gehören auch weitere Aphorismen der „Unruhe“, die sich mit den Problemlagen lyrischer Lektüre befassen:

Es gibt immer nur zwei Fragen:
Warum steht dieses Wort hier und kein anderes
und warum steht es hier und nicht woanders
.12

Im Übrigen gehört zur „Unruhe“ im Falknerschen Sinn auch die kritische Zurückweisung mancher Konkurrenz; der Ton kann zuweilen sarkastisch und polemisch werden:

Wie viele Dichter würden von ihren Gedichten umgelegt werden, wenn man der Sprache das Recht zur Selbstverteidigung einräumen würde.13

Falkners Aphorismen finden sich in der Hölderlin Reparatur inmitten eines Gedichtbandes; sie haben trotzdem nicht den Anspruch, eine verbindliche Poetik zu entfalten, sondern bewirken in der Kompositionsstruktur des Ganzen eine Offenheit, die etwas Fragmentarisches hat weil sie die Rezipienten weiterdenken oder auch als bloßes Spielmaterial nutzen können. Die Akzentuierung der Distanz und Abgrenzung kommt in solchen Aphorismen besonders zum Ausdruck, die sich den literarischen Netzwerken und Gruppenbildungen verweigern und stattdessen für Streit und Debatten plädieren:

Beseeltes Gegeneinander ist viel anständiger als halbherziges Füreinander.14

Falkners Feldposition ist die eines Einzelgängers, der durchaus in Kauf nimmt, nicht im Zentrum der ohnehin schwachen Aufmerksamkeit zu stehen, die Lyrikerinnen und Lyrikern heute zukommt. Selbstverständlich gibt es auch Ausnahmen, zu denen freilich Gerhard Falkner nicht gehört. So gibt es am Rande des literarischen Feldes – mit Michael Braun formuliert – Fälle „nachhaltiger Aufmerksamkeitsstörung“; die Metapher, die sich auf den Leipziger Buchmessepreis und Jan Wagner bezieht, karikiert den panegyrischen „Überbietungswettbewerb der Kommentatoren“,15 welche dessen Regentonnenvariationen16 im Unterschied zu vielen anderen Alternativen mit Lob überschütten, und zwar derart prononciert, dass sogar die Redaktion der FAZ ihren täglichen Leitartikel, sonst für Kriege, Gewalt und Ökonomie zuständig, der Chefin des Literaturfeuilletons zur Verfügung stellte, also eine Schusspause einlegte, damit die Leserschaft auf der ersten Seite an prominenter Stelle der ,Regentonnenlyrik‘ lauschen konnte – wie den Klängen einer der prosaischen Wirklichkeit enthobenen, fernen (Schein-)Welt.17 Das Fallbeispiel Jan Wagner mit seinem Surplus vergifteten Lobs und gönnerhaften Schulterklopfens zeigt, dass es zu einfach wäre, noch mehr feuilletonistische Aufmerksamkeit für Lyrik zu fordern, zumal für Millionen Leser ohnehin der Roman das Synonym für Literatur schlechthin bleibt und massenhaftes Lob für einen Gedichtband keine Trendwende einleitet. Es ist festzuhalten, dass die oft beklagte feuilletonistische Minderaufmerksamkeit für Lyrik nicht die Ursache, sondern allenfalls ein Symptom der Feldposition ist und übrigens bis heute nicht verhindert hat, dass das Veröffentlichen von Gedichten nicht zuletzt seit der Ausbreitung von Netzforen ohnehin kaum noch Barrieren kennt.

II.
Es charakterisiert Falkner, dass er sich von diesem Boom der Netzwerke und Lyrik-Nischen schon früh abgrenzte. Der Abgrenzungsgestus schlug zeitweilig in Verweigerung um, als der Dichter zwischen 1989 und 1996 keinen Lyrikband mehr veröffentlichte – wo doch Veröffentlichung bis heute das Non plus Ultra jedes Gedichtproduzenten ist. Bevor 1996 dann aber doch die X-te Person Einzahl erschien,18 legte Falkner eines der facettenreichsten und zugleich bis heute wenig rezipierten poetologischen Bücher vor: Über den Unwert des Gedichts.19 Es gibt grundlegende Auskünfte über Falkners literarische Feldposition. Die kleine Schrift trägt den Untertitel „Fragmente und Reflexionen“ und verweist auf die Offenheit und Unabgeschlossenheit der dort versammelten Textsplitter. 1993 veröffentlicht, erscheint sie wie eine Programmschrift gegen den poetologischen Mainstream, der die im Kassandraton verfasste Lyrik der 1980er Jahre mit der damals weit verbreiteten, von Kunert geprägten Formel „Das Gedicht als Arche Noah“20 zum höchsten Rettungswert an sich stilisierte. Klimawandel, Tschernobyl, atomare Aufrüstung, Wald- und Artensterben hatten zwar keine politische Lösung gefunden, aber Eingang in viele warnende und mahnende Gedichtbücher gefunden, in denen ein lyrisches Ich und meistens sogar ein lyrisches Wir in zu Versen gebrochenen Statements rettende Ufer markierten. Noch 1994 erhob beispielsweise Michael Buselmeier „Poesie zum letzten Rettungsraum“ und erklärte:

Es ist ja alles dunkel um uns herum, und es muß doch erlaubt sein, mit Pathos, Emphase und Liebe ein wenig Licht in diese Dunkelheit zu bringen, sich ein kleines Plätzchen vollzuschreiben.21

Nun ließe sich Falkners Titel Über den Unwert des Gedichts als Provokation lesen, die Einspruch gegen sich selbst erhebt. Doch eine solche Umdeutung ist zu simpel: Wer vom Unwert des Gedichts spricht, kann nicht mit viel Resonanz rechnen. So blieb Falkners Schrift lange Zeit unbeachtet, auch wenn die Vielzahl der Fragmente immer wieder das Basismaterial des Dichters schlechthin einkreist: die Sprache. Falkner war in den sprachreflexiven, sprachproduktiven 1990er Jahren wahrlich nicht der einzige unter den jüngeren Lyrikerinnen und Lyrikern, der sich mit ihr befasste, allerdings doch einer der wenigen, der sich auf den Unwert des Gedichts kaprizierte: „Am Gedicht wird vorexerziert, daß etwas ,an sich‘ keinen Wert hat“, also etwas, was „sich für den Tausch sowenig eignet wie für die Täuschung“.22
Im Nachwort hat er auf den im Buch „agierende[n] Widerspruch zwischen polemischer Verneinung und hilfloser Begeisterung“23 aufmerksam gemacht und an anderer Stelle mit einem rätselhaften Aphorismus das Ende der Generalverweigerung schon ankündigt:

Unter allen Künstlern bin ich der Einzige, der einen geglückten Selbstmord überlebt hat.24

Gemeint ist mit dieser etwas rätselhaften Anspielung Falkners aus dem Jahr 1989 stammende Ankündigung, keine Lyrik mehr zu produzieren, sich also als Dichter selbst ,auszuschalten‘. „Mit wemut lege ich meinen letzten Gedichtband vor“25 – ,und kein neuer wird mehr erscheinen‘, soll der Leser folgern. In Unwert des Gedichts greift der Dichter diesen „geglückten Selbstmord“ wieder auf, freilich in der paradoxen Form eines Aphorismus, der seine ,Buchstäblichkeit‘ ad absurdum führt. Ohnehin war Falkners poetologische Schrift weder ein Epilog noch gar ein Nekrolog auf die eigene Gedichtproduktion; der engagierte Duktus der Kritik war nicht resignativ oder elegisch, sondern so konzipiert, dass der Rezipient sich fragt, wie wohl Gedichte beschaffen sein müssten, wenn sie der Poetologie entsprächen, welche die Schrift Über den Unwert des Gedichts entwirft.
Ohnehin fällt die programmatische Fülle der thematischen Aspekte auf, die Falkners Aphorismen streifen. So trägt beispielsweise Falkners Dichotomie von Wert und Unwert der Dominanz des vorherrschenden ökonomischen Wertverständnisses Rechnung, das längst auch die Werteskala des kulturellen Kapitals strukturiert. Der Topos vom „Unwert des Gedichts“ dagegen insistiert auf den Ort des Gedichts jenseits aller ökonomisch-kultureller Wertsphären. Konsequenterweise ist für Falkner daher sogar der Vorgang des Veröffentlichens als Markt-Einspeisung suspekt:

Menschen schreiben ein Gedicht, dann veröffentlichen sie es, wie sie Stuhlgang haben. Es kommt ihnen gar nicht in den Sinn, Sprache bei sich zu behalten, bis sie Farbe entwickelt und ausgereift ist.26

Wer an das „bei sich […] [B]ehalten“ der Sprache erinnert, akzentuiert die Spannung zwischen Poesie und Publikation als disharmonisches Verhältnis, nicht als intendiertes Ziel oder gar als Vollendung und Erfüllung der poetischen Praxis. Ein Beispiel für das Gegenteil sei, so Falkner, „Creative writing, das ist wie ein Erotikschnellkurs. Wer den Glauben an die Poesie nachweislich verloren hat, wird als geheilt veröffentlicht.“27 Zugleich verwirft Falkner eine seit den 1990er Jahren weit verbreitete, inzwischen von jüngeren wie älteren Lyrikerinnen und Lyrikern praktizierte Favorisierung des eventmäßig Auditiven. Was die einen als wiederentdeckten ,Wert‘ der Lyrik betrachten, lehnt Falkner ebenso kategorisch wie polemisch ab:28

Der Dichter soll […] auch nicht um diese in Massenverödung verelende Info-Welt und deren Medienjunkies werben und auch nicht dem Klamauk einer Freizeit in die Hände arbeiten, die ein paar für das Gedicht noch disponibel halten möchten, und vor die er sich dann hinstellt und Grimassen macht, oder quiekt wie ein Schwein oder einen Stimmenimitator spielt oder Manieren markiert wie ein Angestochener, um das Aufgeschau zu kriegen, um mit allen Mitteln den letzten verholzten Empfindungssinn zu reizen, sondern er soll der inhärenten Intention seines Entwurfs bis zur äußersten Möglichkeit seiner Ausdruckskraft entgegengehen.

Falkners „Unwert“-Poetik basiert nicht nur auf der kritischen Distanz zur Veröffentlichung, sondern auch zu anderen Formen lyrischen Wirkungsdesigns wie dem inszenierten „Aufgeschau“ eines begeisterten Publikums. Demgegenüber wird der ökonomisch-kulturelle „Unwert des Gedichts“ drastisch beschrieben:

Das Gedicht ist ein Dreck. Alles Kleine ist Dreck. Was nichts kostet ist ein Dreck und verdient, daß es nichts wert ist.29

Auch wenn Falkners Poetologie keine Systematik kennt, so fällt doch auf, dass er Gedicht und Dichter nie in eins setzt, sondern den Gedichtproduzenten als eine ausgesprochen prekäre Figur erscheinen lässt. Wer einen Satz wie „Das Gedicht ist ein Dreck“ formuliert, bricht radikal mit der Vision vom Dichter als Orpheus- und Apollo-Schüler:

Der Dichter gleicht nicht mehr dem Orpheus beim Antritt der Nachtreise, oder Apollon, der den Marsyas, die Anmaßung, schindet, sondern dem Köter, dem Scheißkerl, er wird der verwurmte Habenichts, eine überzogene Kreatur im Karussell des ständig allzuvielen. So schafft sich diese Zeit die Dichter nach ihrem Bilde und läßt sie so aussehen, wie es eigentlich ihr zukommt.30

Wo vom „Unwert des Gedichts“ die Rede ist, wird keine hoch bedeutende Semantik des Einzigartigen verkündet.

Wer Gedichte liest, tut dies heute im Wissen um diese ,Belanglosigkeit‘, oder er betrügt sich. Betrügt er sich, setzt er den Betrug fort, den das Gedicht am Dichter verübt.31

Umso prägnanter sind die wenigen positiv gehaltenen Begriffe des hohen, erhabenen Tons, der gelegentlich bei Falkner durchscheint, stets übrigens aus dem Kern des Poetischen vermittelt, nicht aus bloßem Dichterlob. Ein solcher Begriff ist die Formel von der „Meisterschaft“:

Die Meisterschaft besteht im Ertasten der Wortgewichte, die einer stetigen und häufig minimalen Umwertung und Umtarierung unterworfen sind.32

Vorsichtiger lässt sich allerdings „Meisterschaft“ wohl kaum definieren. Wer sich fragt, ob es denn im „Unwert des Gedichts“ noch weitere Ebenen positiver Bestimmtheit gibt, sei auf den zunächst ex negativo gehaltenen Anfang verwiesen: Falkners Begriff der „geführte[n] Sprache“ als einer der Poesie entgegengesetzten Sprache öffnet einen seit der Moderne virulenten Gegenhorizont:

Eine Sprache, die sich selbst keine Beachtung schenkt, ist eine selbstverständliche oder geführte Sprache.33

Die Dichtung aber „reißt, wo ihr das gelingt, die Sprache aus sich heraus.“34 Der Dichter jedoch wird dadurch nicht zum Heroen; er zahlt vielmehr den Preis seiner „Verkasperhauserung“:

Tritt einer aus der geführten Sprache heraus, wird er schon durch diesen Schritt […] zum Außenseiter. (Seine Verkasperhauserung beginnt.) Wer ein Außenseiter aber der Sprache ist, der ist ein Außenseiter schlechthin, denn alles ist Sprache, geführte Sprache […].35

Wenig mehr ist über die Figur des Dichters in Unwert des Gedichts kaum zu erfahren. Viele Aphorismen – Sätze wie „Die Sprache reitet den Dichter immer tiefer hinein“36 – zeugen daher vom Misstrauen gegenüber lyrischer Autorschaft, die sich im hohen Duktus und repräsentativem Gestus darzustellen wünscht. Ein solches Misstrauen ist stets auch ein Misstrauen gegenüber der eigenen Position, der eigenen lyrischen Autorschaft. So heißt es bei Falkner:

Je dümmer ein Gedicht ist, desto mehr Aufhebens macht es von sich.37

Es klingt ein Misstrauen gegen alle positiven Setzungen von Bedeutsamkeit und Kanonizität durch, selbstverständlich auch gegen Praktiken dichterischer Selbstinszenierung, bei der die Präsenz des Dichters den Blick auf dessen Dichtung verstellt.

Die Dichtung soll das Gedicht offenbaren, nicht den Dichter.38

Entsprechend zielt Falkners Verständnis von Wirkung kategorisch auf das Gedicht und nicht auf dessen Produzenten:

Ich will nicht wissen, wie die Dichter wirken, sondern erfahren, wie das Gedicht wirkt.39

III.
Es wäre allerdings voreilig, Falkner auf eine dem eigenen Abgrenzungsgestus adäquate Negativität festzulegen. Seine Gedichte und Gedichtband-Konzeptionen widersprechen einer solchen Etikettierung und zeigen nicht nur seinen poetologischen Anspruch, sondern geben den Blick frei auf dessen Fundamente. So findet sich im „Nachwort statt eines Nachworts“ zu den Endogene[n] Gedichte[n] ein poetologischer Schlüsselbegriff: der Verweis auf eine „,rücksichtenlose‘ aleatorische Polyphonie, die den Jetztzeitlichkeitshunger und Kickbedarf mit reinen und klaren Verdichtungen versöhnt.“40 Die ,aleatorische Polyphonie‘ ist hier keine unverbindliche Metapher für hermetische Ausdrucksformen, sondern eine präzise programmatische musikästhetische Kategorie, die für ein komplexes Kompositionsverfahren steht. So hat Pierre Boulez bei den Darmstädter Tagen der Neuen Musik 1957 den Konnex von Zufall und Komposition beschrieben: Das Werk müsse

eine gewisse Anzahl möglicher Fahrbahnen bieten, und zwar vermittels sehr präziser Vorkehrungen, wobei der Zufall die Rolle der Weichenstellung spielt, die im letzten Augenblick eintritt.41

Transformiert auf das Feld der Poetik, geht es nicht um Willkür, sondern im Sinne „präziser Vorkehrungen“ um verschiedene Möglichkeiten eröffnende Bearbeitungen sprachlichen Materials, denen Elemente des Unvorhersehbaren und Unbestimmten inhärent sind und die in dem Maße „rücksichtenlos“ sind, wie den Gedichten kein Versprechen auf Verstehen und Verständigung eingeschrieben ist.

Die schnellen Sprachen müssen in den langsamen Sprachen ausgebremst werden.42

In Endogene Gedichte führt einer der Texte aus dem ersten Zyklus „vorgelagerte Landschaft“ die Produktivität ,aleatorischer Polyphonie‘ als sprachliches Verfahren vor:43

aaaaaazum Scheitern verwildert
aaaadie Satzfetzen der stillen Ohnmacht
soviel Zartheit gebüffelt, soviel in süßer
aaaaÜbertretung entworfenes Sagen
Nähe stand in Blüte, Kunst
aaaa
aus dem Stegreif glückten Brücken
zwischen Ordnung und Abenteuer
aaaadie sich endeten im Glück
wie nur konnte diese Liebe verdunkeln
aaaazu einem Schwierigkeitsgrad der Sprache

Der Text, der auf derselben Seite noch einmal erscheint: zerschnitten und zerlegt in a-semantische, a-morphologische und a-phonetische Wortfetzen und der – Zufall oder nicht – nur ein einziges Wort nicht filetiert: das Wort „kunst“ ist ein Paradigma für die so genannten „,Sprechwiesen‘“, die Falkner in den „Anmerkungen“ mit Recht „hochdichte, unmetaphorische, sehr deutsche Textverknotungen“ nennt.44 Der Text „destabilisiert sich mit experimentellen Mitteln, in diesem Fall solchen der visuellen Poesie, um aus der SPE RRIGK EIT in die Unverständlichkeit vorzustoßen.“45

„Unverständlichkeit“ als Ziel? Kurt Drawert hat den Gedanken, dass ein Gedicht „nicht verstanden werden will“, als einen „paradoxen Impuls“ bezeichnet, „mit Sprache Sprache zu verdecken und sprechend zu verhindern, etwas zu sagen (und gleichzeitig auszuschließen, dass im Schweigen etwas gesagt werden kann)“: ein Paradox, das er im Verweis auf Mallarmé als Gestus der „Verweigerung“46 deutete. Paradoxie und Ironie gehören stets zu Falkners essayistischen und lyrischen Verfahrensweisen. Ironische Distanz etwa hat, wie im „Entwurf einer Demolation“,47 die Funktion der Dekonstruktion verbreiteter enthusiastischer Gedicht-Definitionen, für die auch das Internet – ich zitiere als Beispiel den Motto-Satz einer Lyrik-Internetplattform – einen Strauß optimistischer Umschreibungen bereithält: Gedichte seien „kleine Universen“48 und ihre Verfasser mithin Kleinproduzenten von universaler Reichweite.
Falkner destruiert diese Poeten-Gestalt völlig: „ICH BIN ES, der Dichter!“, hebt seine „Demolation“ an:

ich bin es nicht wert, daß man mir den Dreck
hinterherwirft, den ich von mir gebe.
ich bin, so steht es auf dem Papier,
die Gestalt,
an der die Sprache sich abwischt,
ein Dauergast
in ihren Elendsvierteln
.49

Paradoxie und Ironie sind signifikante poetologische Bruchstellen-Signale, die Pathos und hohen Ton immer wieder unterbinden. In diesen Kontext gehören übrigens auch zahlreiche wie Kalauer wirkende Apercus und Verse.50 Das Verfahren erinnert an Friedrich Schlegels Begriff der Parekbase, die etwas erschaffen und wieder zurücknehmen und destruieren kann, eine Form der (romantischen) Ironie, die sich selbst mitreflektiert und Distanz bewirkt, also im Sinne Schlegels den „steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“ einschließt.51 Mit Frühromantikern wie Schlegel und Novalis hat Falkner ohnehin nicht nur eine Vorliebe für fragmentarische Textformen gemeinsam, sondern auch die Beherrschung dieser Formen als poetischer Ausdruckskunst. Im Zentrum stehen keine auf Pointen hinzielenden Aphorismen, sondern komplexe, aufs Engste komprimierte Gedanken, die skizzenhaft bleiben.
Auch das Element der Selbstironie, das teils mit Witz, teils mit sarkastischer Schärfe entfaltet wird, gehört in diesen Zusammenhang. Der Bogen lässt sich ziehen bis zu den Ignatien, deren erste mit einer distanzierten, gebrochenen Ich-Figur beginnt:
52

Wer, wenn nicht ich, hörte mich denn
aus der Enge der Ordnungen
dem Ingrimm der Zeichen
in entsprechender Zeit?
Wer führte mich denn
aus der Unhintergehbarkeit
von Sprache
ins endlich Offene –
Welches Tier soll ich denn anschreien?

Der Rilke-Ton der Auftaktelegie Falkners destruiert die Feierlichkeit der Duineser Elegie Rilkes; das Ich verkündet nichts Geheimnisvolles und Erhabenes mehr, sondern ist der „Enge der Ordnungen“ ausgeliefert – so, wie es der Untertitel Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs bereits umschreibt. „Ich bin zu Tausenden, zu Tausenden verwundet worden“, heißt es in der „Ignatia 17“, in der sich die Ich-Figur einen „Herzversager“ und „Nervenbündel“ nennt.53 Die Dekonstruktion literarischer Kanon-Autoren und Kanon-Gedichte gehört bei Falkner zu den grundlegenden poetischen Verfahren; verfremdete, ironisierte Zitate sind Teil eines Versmaterials, das im Modus des Zitierens nicht bedeutsame Traditionen aufruft, sondern deren erkaltete Größe. Daher sind Dichter wie Hölderlin und Rilke, die gern den pontifikalen Duktus bevorzugen, Falkners Materiallieferanten. Dem Autor geht es dabei, wie er in einem Gespräch mit Cornelia Jentzsch erläutert, nicht um ästhetische Doktrinen gleich welcher Art; Schönheit suche er „als ein aus ihrer Wörtlichkeit heraus resultierendes Ereignis“.54 Entsprechend bearbeitet er auch die für sein Werk charakteristischen Gedichtzitate aus der breiten Palette der Lyriktraditionen, die derart verfremdet und ironisiert werden, dass nie der Eindruck entsteht, es handle sich um Bildungssplitter. In der Hölderlin Reparatur von 2008 führt Falkner die Komplexität dieser poetischen Rezeption variantenreich vor. Das Verfahren erinnert insofern an die Musikalität von Polyphonien, als sie dem eigenen Ton die Fremd-Zitate ironisierend und verfremdend untermischt, wodurch Stimmüberlagerungen entstehen, die auf paradoxe Weise das Zitierte aus aktueller, veränderter Perspektive ins Gedächtnis ruft; in diesen Kontext passt der „Reparatur“-Begriff des Gedichtbandtitels.
Im Übrigen ist Musikalität dem Autor nicht fremd. So bezieht er sich in Gegensprechstadt – Ground Zero auf einen Avantgarde-Musiker, auf Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire, der Anweisungen formuliert für die Sprechstimme in seinem Musikstück und dabei zwischen „Gesangston und Sprechton“ unterscheidet und vor einer „,singenden‘ Sprechweise“ warnt:

Es wird zwar keineswegs ein realistisch-natürliches Sprechen angestrebt. Im Gegenteil, der Unterschied zwischen gewöhnlichem und einem Sprechen, das in einer musikalischen Form mitwirkt, soll deutlich werden.55

Mit dieser Art „Prolog“ hebt Falkner die Vielstimmigkeit des Gedichts hervor, und zwar nicht als Anweisung fürs Vorlesen, sondern als poetologisches Fundament. Entsprechend heißt es im Nachwort:

Bei dem Gedicht ,ground zero‘ handelt es sich […] um polymere Poesie. Gemeint ist damit das additive Zusammenwirken mehrerer Stilformen auf die Intensität der Ausprägung des Gesamtmerkmals.56

Vereinfacht: Vielteiligkeit statt Einsinnigkeit, Strukturbildung durch Addition, nicht durch Hierarchisierung der Bauelemente, Dominanz der einzelnen Teile gegenüber suggerierter Geschlossenheit. Die Konsequenzen für die Feldposition Falkners sind nicht zu unterschätzen: Seine Dichtung lässt sich nicht thematisch fixieren, arbeitet sich weder an Inhalten, Statements, Alltagserfahrungen ab noch an Formexperimenten oder gar Formtraditionen.
So ist die Gegensprechstadt (ground zero) keine lyrische Pflichtablieferung zum 11. September oder zum 6. August 1945, dem Datum des Atombomben-Abwurfs auf Hiroshima – wie überhaupt Falkner im Anmerkungsapparat sich klar äußert:

Ich halte den Terrorismus im Allgemeinen nicht für die Ursache, sondern für die Folge eines Weltproblems und den Umgang der Medien, als Kombattanten kapitalistischer Aggressivität, eben mit diesen Ursachen für eine seiner Wurzeln.57

Der antimediale Affront gehört zur Falknerschen Feldposition und zitiert jene seit der Moderne geltende Dichotomie von Mediensprache und Poesie. Wo die eine sich der Aktualität verschrieben hat, setzt die andere die Jetztzeitfixierung mühelos außer Kraft. Es wäre vor diesem Hintergrund wohl ergiebig, den Falknerschen Zeittopos genauer zu analysieren. In der Gegenstadt entfaltet er sich aus dem Widerstand zu hoch aufgeladenen Mediendaten wie den 11. September oder den 3. Oktober (ironisch nimmt Falkner den 15. März hinzu, den eignen Geburtstag!) und geht gedanklich zurück bis zu dem Punkt, „als die Zeit noch Zeit hatte“, so dass der Anfang des Gedichts, an Ovids vierte Metamorphose erinnert, fast ein goldnes Zeitalter umspielt:

es gab noch keinen 11. September
keinen 3. Oktober
und keinen 15. März
die Gelegenheit war also günstig
der Zeit die Freiheit zu lassen
einmal den Ort zu spielen
58

Falkner reflektiert die Ereignisse nicht eng auf ihre Faktenlage hin, sondern wählt einen allgemeinen, zunächst nicht völlig verständlichen Einstiegsvers:59

der Dienstag ist der grausamste unter den Tagen
aaaer brütet einen Mai aus
der wie ein Fieber durch die Sinne fegt
aaaund jede Stimmung vernichtet
sein Himmel ist wie ein Fenster zur Hölle –
aaaschwere See, als würden wir weinen
ist wie üblich die Folge
aaaschwere See, als würden wir weinen
wühlt uns auf, macht unsere Gedanken wüst
aaaund erschlägt uns schier zwischen Leibhaftigkeit
und der ungestümen Grazie des Alltags
aaader Dienstag ist der grausamste unter den Tagen:
dies martis heißt Kriegstag.

Der Text ist so aufgebaut, dass er die Anspielung „der grausamste unter den Tagen“ am Schluss dramatisiert und so auf indirekte Weise den Bezug zum 11. September 2001, der ein Dienstag war, wieder herstellt:

der Dienstag ist der grausamste unter den Tagen:
dies martis heißt Kriegstag

Es charakterisiert Falkners Vorgehensweise, dass er nun nicht etwa den Zeittopos mit Pathos auflädt, sondern der Sentenz „dies martis, dies irae“ ein ironisches Spiel mit Wochentagen folgen lässt, wodurch die Spannung sich entlädt und jeder pathetische Anflug konterkariert wird:

ganz anders dagegen der Mittwoch, der Hin- & Mittwoch
eine Nacht, wie gemalt von Mantegna
scheint er entstiegen
und schüttelt brünstig die Locken
als ginge es um ein Shampoo
60

So entfaltet der Zeittopos ein breites Spektrum von Reflexionen und Zugängen, die stets auch vom Ereignisort, dem ground zero, wegführen, bevor dann eine breite Topographie der Katastrophen sich anschließt. Falkners Zeittopos zielt nicht auf Erfüllung, schicksalshaften Augenblick und Kairos; es wird nur ein „Strauß“, niedergelegt „am Grabmal der unbekannten Sekunde“, so dass der Augenblicksmoment wie in leerer Hülle erscheint:

ich wollte hin
zu den vielen Sekunden da draußen
vor den Toren des Kairos
zu den Millionen Sekunden
die Schlange stehn
um endlich an die Reihe zu kommen
als Augenblick
61

Falkners Gedicht, mehrere Dutzend Seiten lang, restituiert eine lyrische Gattung neu, die eine lange Tradition hat: das panoramaartige, aus Fragmenten zusammengesetzte, collagierte Zeitgedicht – Falkner erinnert es an die „Tradition großer Langgedichte des 19. und 20. Jahrhunderts“62 –, das es sich zur Aufgabe macht, eine Gegenwart mit den Möglichkeiten poetischer Sprache in ihrer Tiefe zu erkunden. Vor diesem Hintergrund ist „ground zero“, der „Bodennullpunkt“, zu verstehen, dessen Bildlichkeit der Autor im Anmerkungsteil erläutert. Ein solcher „Bodennullpunkt“63 ist ein Epochenradius, der die Gegenwart vom 6. August 1945, dem Tag des Abwurfs der Atombombe auf Hiroshima, bis zur Jetztzeit umgreift – als Zeitsignatur, nicht als Abfolge eines medialen Katastrophen-Pointilismus. Das Gedicht wirkt wie eine Epochensumme, eine Quintessenz des Dichters zum gerade zu Ende gegangenen 20. Jahrhundert, dessen Katastrophen freilich ins nächste Säkulum hineinragen:64

20. Jahrhundert
aaJahrhundert der Gegenwart
die Zeichen geschahen
aaaber die Wunder sind ausgeblieben
statt ihrer
aajede Menge Katastrophen
[…]
20. Jahrhundert
aaMilliarden Momente
des Aberwitzes
aadie Schläge verteilt
die Wunden geschlagen
aadie Siege verloren.
die Särge verbuddelt
aareiten, reiten, reiten

Die Depotenzierung des Aktuellen, die Verweigerung des Gedichts, etwa ein medial gesetztes Megaereignis wie den 11. September durch Poesie zu beglaubigen, nutzt die ganze Breite polyphoner Technik, ist also nicht auf Pathos und Katastrophe festgelegt. Da kommt gelegentlich sogar gereimter Zeit-Sound ins Spiel:

dann ziehen wir zu Aldi
um uns Götter anzusehn
die an krassen Kassen Schlange stehn
und in Plastiktüten shoppen
bis die Laserleser ploppen
65

In einer Passage seines Nachworts zur Gegenstadt hat Falkner noch einmal eine prägnante Selbstbeschreibung seiner poetischen Arbeitsweise und damit seine originäre Position als Gegenwartslyriker zusammenfasst:

Ziel war […], in Mischsprachen von erhabener bis burlesker Ambition unter Einbeziehung von sauberen Paradoxen die Diskursfähigkeit poetischer Sprache zu gewährleisten, ohne sie je an die Texttheorie zu verschenken oder die tubulären Dunkelheiten des erdichteten Gedichts preiszugeben.66

In der Stringenz dieses einen Satzes hat Falkner seine Position im literarischen Feld konsequent markiert: als Autor, der „die Diskursfähigkeit poetischer Sprache“ gegen alle verteidigt, die sie längst gegen Alltagssound, Empfindeleien und den Bluff oberflächlicher Vers-Pointen eingetauscht haben.

Hermann Korte, aus Constantin Lieb, Hermann Korte und Peter Geist (Hrsg.): Materie: Poesie. Zum Werk Gerhard Falkners, Universitätsverlag Winter, 2018

 

Gerhard Falkner – Ein Dichter im Gespräch mit Ludwig Graf Westarp. Über Berlin und die Bedeutung kunstspartenübergreifenden Arbeitens.

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Gregor Dotzauer: Seelenruhe mit Störfrequenzen
Der Tagesspiegel, 14.3.2021

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Das Falkner“.

 

Gerhard Falkner liest auf dem XI. International Poetry Festival von Medellín 2001.

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