DER 9. NOVEMBER ACHTZEHN
Es standen Soldaten da, fremd auf vertrauten Wegen:
Ihre Augen irrten verstaubt aus Gräben und Unterständen;
Sie waren schlicht und falb wie Erde, drin sie gelegen,
Und trugen Schlamm und Frieden an ihren
aaaaaverkrusteten Händen.
Das blitzende Zeichen war von ihnen abgerostet
Und alles bunte Geschnipsel auf ihren Leibern
aaaaaverblichen;
Sie hatten den schäumenden Ruhm, die widere Neige gekostet,
Sie hatten mit Zeitungsgeschmier ihr kleiiges Brot bestrichen.
Dann hatte ihr stiller Griff die großen Worte zerbrochen;
Die lagen wie Trommeln hohl, ein leer zersprungnes Getöse.
Die protzige Lüge war zerlumpt in den Winkel gekrochen,
Und Deutschland war nicht nur gut, und Frankreich war nicht nur böse.
Der Sommer wuchs ihnen zu mit Säften und braunen Kernen
Und rollte ungenützt, verfaulte Frucht, von Spalieren;
Sie zogen durch blühenden Schnee in Winternacht mit den Sternen,
Die schweigend tausend Jahr über blaue Felder marschieren.
Sie pflanzten die Gärten voll Kreuze und säten die Äcker voll Schüsse,
Doch die Sonne blieb ewiglich erstrahlend über dem Morden,
Und „Immerdar“ sprachen die Berge, und „Überall“ sangen die Flüsse;
Der Feind schien ganz verwelkt und fast zum Menschen geworden.
Sie stampften in seinem Land und wußten nicht, was sie da sollten.
Sie schickten Kugeln aus und fragten nicht, ob sie trafen.
Sie dachten selten mehr und fühlten nur, was sie wollten:
Die Suppe auf eigenem Tisch und ein Weib und ein Bett zum Schlafen.
Sie stürzten durch wirbelnde Trichter, jäh von Granaten verschüttet,
Belauschten die Tode beim Mahl, die schimmelnde Leichen fressen,
Erschauten des Wahnsinns Gefletsch, der graue Hirne zerrüttet,
Und schritten die Tiefen aus… Sie haben alles vergessen.
Sie gehn in den schönen Wald, da leichte Fähnchen sich brüsten,
Den windgeblähten Wald mit wurmdurchnagten Gestängen;
Sie spiegeln in Blankem sich, das blind wird, wenn sie einst rüsten,
Und rufen zu Götzen empor, die Lappen und Lärm behängen,
Und jauchzen dem Schlägelgehüpf aus klappernden Knochenstücken,
Den Reden, die nichtiger sind als Mittagssummen der Fliege.
Sie haben das Stumme verworfen; sie werden nach ihm sich bücken
Im Kriege.
Ich hörte von „Trudchen“, als mich meine Freundschaft zu meiner späteren Schwägerin Dora Benjamin in nähere Beziehung zur Familie Benjamin brachte. Hier erfuhr ich im Erzählen vom gesamten Familienkreis, auch von den Chodziesners, auch von „Trudchen“. Dieser Name blieb stets ihr Name in der Familie, so wenig diese hausbackene Zärtlichkeitsform zu ihr paßte. „Trude“, womit sie auch die Briefe im Familienkreis unterzeichnete, klingt mir ganz fremd. „Gertrud“ – wie in dem von ihr gewählten Pseudonym – erscheint mir als der angemessene Name.
Von ihr konnte ich mir am wenigsten ein Bild machen, getroffen habe ich sie in den frühen zwanziger Jahren nur ein einziges Mal.
Anläßlich Doras Abitur gab es eine „Gesellschaft“, und jeder Gast fand auf seiner Tischkarte einen scherzhaften Vers. Mir ist erinnerlich geblieben, daß es für Trudchen einen Vers mit „Polyglott“ gab – eine Anspielung auf ihre Sprachkenntnisse, der aber damals sicher nur das formale Können, nicht ihr Begreifen des Wesens der Sprachen zugrunde lag. Von einem besonders engen Verhältnis zu den Benjamins ist mir aus meinen Beziehungen zu Dora und später zu Georg Benjamin nie etwas aufgefallen. Allerdings habe ich Fotografien, auf denen die Kinder beider Familien aufgenommen sind; aber die erwachsenen Kinder, jedenfalls Dora und Georg, hatten außer der familiären Bindung meines Erachtens keine weiteren Beziehungen, wenn die „Chodziesners“ natürlich auch stets Gegenstand der familiären Unterhaltung waren.
Als ich Georg Benjamin 1926 heiratete und wir im Wedding wohnten, gab es keine näheren Kontakte. Im Gedächtnis bewahrt habe ich allerdings eine Begegnung mit Gertrud und ihrem Vater.
Ich besuchte sie allein an einem Spätsommertag in Finkenkrug. Dieser Besuch könnte im Zusammenhang mit meiner Niederlassung als Rechtsanwalt, aber auch schon nach der ersten Verhaftung meines Mannes1(1933) geschehen sein. Er galt meiner Erinnerung nach in erster Linie dem Vater – der mir auch den ersten Mandanten für meine Praxis zuschickte. Aber ich war dann mit Trudchen im Garten, und drei Erinnerungsbilder tauchen auf: Der große Garten, der in den Wald überzugehen schien; ein großer Hund – sie war da schon eine „Frau mit den Tieren“, wie sie einen ihrer Gedichtbände nannte, den einzigen, der in der faschistischen Zeit 1938 noch erscheinen konnte – allerdings nur für wenige Monate, dann mußte die Auflage vernichtet werden;2und zartblühende Montbretien, die Trudchen mir als ihr besonders liebe Blumen zeigte und deren Anblick mich immer wieder an sie erinnert.
In diese Zeit fällt auch eine Unterhaltung zwischen Georg und Walter Benjamin, die ich anhörte, in der die Brüder über Georg und mir unbekannte Gedichte Trudchens sprachen. Walter Benjamin erwähnt sie auch in einem seiner Briefe aus jenen Jahren.3
Wieder – und für längere Zeit – kamen wir wohl ab 1940/41, zusammen.
Ich traf mich in diesen Jahren regelmäßig mit weitläufigen Verwandten der Familie Benjamin, einem älteren, klugen musischen Ehepaar, das sich später der Verschleppung durch den Freitod entzogen hat. Ich besuchte sie mit meinem Jungen, half ihnen materiell, soweit mir das möglich war. Es waren helle Stunden, die wir bei ihnen verbrachten. Von ihnen wurde ich erneut auf Chodziesners hingewiesen, die mir nur noch als „Onkel Ludwig“ und „Trudchen“ etwas bedeuteten. Bei unseren ersten Besuchen (mein Junge begleitete mich jedesmal) waren Vater und Tochter wohl noch im alleinigen Besitz der Wohnung im Berliner Westen. Auch hier waren wir nun ziemlich regelmäßig, bei Onkel Ludwig – und nicht mehr der Autokrat, als den ich ihn in Erinnerung hatte, sondern ein alter, aber ungebrochener Mann – und bei Trudchen.
Eine neue Frau, freundlich, aufgeschlossen wirkend, begegnete mir. Wir fanden im Gespräch zueinander – nicht weltabgewandt, sondern mit vielen Tagesfragen, von den materiellsten bis zu den politisch belastendsten. Es waren Stunden kurzen Zusammenseins, in denen uns auch Schweigen nicht bedrückte. Gertrud erlebte mit mir die Wochen der letzten illegalen Zusammentreffen mit meinem Mann, die Nachricht seiner Ermordung. Daß ich dabei war, als sich Onkel Ludwig zur Fahrt nach Theresienstadt anschickte, weiß ich aus Berichten anderer – diese Tatsache ist in meiner Erinnerung an jene Wochen versunken. Ich erlebte mit ihr ihren Weg der Arbeit und der unausgesprochenen Erwartung des Endes. Auch nach Onkel Ludwigs Weggang waren wir regelmäßig bei ihr – nun sehe ich uns in einem kleinen Hinterzimmer nebeneinander auf dem Sofa sitzen.
Erinnerungen an die Zeit bis zu ihrem Abtransport habe ich im einzelnen nicht. Daß sie „abgeholt“ worden war, erfuhren wir von Nachbarn, als wir vergeblich klingelnd vor ihrer Wohnungstür standen.
Mir ist ein Bändchen geblieben, eine Erzählung von Wilhelm Schmidtbonn: Die Flucht zu den Hilflosen – die Geschichte dreier Hunde (Gustav Kiepenheuer Verlag 1927). Sie gab es mir als eines ihrer liebsten Bücher; meinem Jungen schenkte sie einen kleinen gläsernen Hund – Symbol ihrer Liebe zu dem Hund, den sie als Jüdin nicht mehr haben durfte und unter ihren Lebensbedingungen ja auch nicht haben konnte. Und bald nach Onkel Ludwigs Tod gab sie mir ein Päckchen Manuskriptblätter: „Nimm“. Ich nahm sie als Vermächtnis, ungelesen. Ich wagte mich an sie so wenig wie an die Briefe und Papiere meines Mannes. Mit ihnen waren sie verpackt, versteckt und verwahrt. So verwahrt, wie das Erleben dieser Jahre zunächst tief versank und ich nicht daran zu rühren wagte. Als ich vor einigen Jahren an das Ordnen der Papiere meines Mannes ging, waren auch die vorliegenden Gedichte in unseren Händen. Wenn ich versuchen sollte, Gertruds Wesen zu deuten, so würde ich sagen: Die Mauer, hinter der Gertrud lebte, war nicht nur Unscheinbarkeit und Sonderlichkeit. Sie verbreitete eine große Stille und zugleich innere Unruhe um sich. Sie wirkte dunkel, aber nicht düster; es waren dunkle, warme Farben, die sie zu umgeben schienen. Sie war herb, aber von milder Bitternis erfüllt. Sie wirkte kühl, aber niemals kalt. Wie sie war, kann man vielleicht nur aus den Nuancen dieser Unterschiede erfühlen …
Hilde Benjamin
Denn da dieses Blatt sie finden,
werden sie mich ergreifen.
Gertrud Kolmar
Gertrud Kolmars Gedichtzyklus „Das Wort der Stummen“ erscheint zum erstenmal als Ganzes im Druck. Die Handschrift wurde von Professor Dr. Hilde Benjamin vor einigen Jahren wiederaufgefunden, als sie die Papiere ihres Mannes ordnete. Hilde Benjamin, von 1953 bis 1967 Justizminister der DDR, war mit einem Vetter Gertrud Kolmars verheiratet, mit dem im KZ Mauthausen ermordeten Arzt und verdienten Kommunisten Dr. Georg Benjamin; einem Bruder des Essayisten Walter Benjamin. Sie traf besonders in den Jahren 1941 bis 1943 öfter mit Gertrud Kolmar zusammen. „Wir fanden im Gespräch zueinander – nicht weltabgewandt“, berichtet sie. „Sie erlebte mit mir die Wochen der letzten illegalen Zusammentreffen mit meinem Mann, die Nachricht seiner Ermordung.“ Als ein geistiges Vermächtnis übergab Gertrud Kolmar damals ihrer Gesprächspartnerin die Blätter mit den vorliegenden Gedichten, die von August bis Oktober 1933 in atemloser Verzweiflung und Empörung niedergeschrieben worden waren und die Dichterin von einer nicht bekannten Seite zeigen.
Als Tochter eines Rechtsanwalts wurde Gertrud Kolmar, die eigentlich Gertrud Käthe Chodziesner hieß, am 10. Dezember 1894 in Berlin geboren. Sie absolvierte ein Sprachlehrerinnenexamen und war als Dolmetscherin tätig. Ihr Geliebter verließ sie während des ersten Weltkrieges. Nach einem Studienaufenthalt in Frankreich wandte sie sich der Erziehung taubstummer Kinder zu. Wie Gedichte und Briefe bezeugen, litt sie schwer unter ihrer eigenen Kinderlosigkeit. Immer entschiedener kehrte sie sich von den Auffassungen und den Lebensregeln des Bürgertums ab, aus dem sie stammte. Ohne wirklichen Anschluß an gesellschaftliche Gegenkräfte zu finden, zog sie sich auf ihre innere Welt zurück. Der Faschismus schließlich trieb sie, die Jüdin, in unerträgliche Vereinsamung, der sie ihr dichterisches Wort entgegensetzte. Sie machte das „Wort der Stummen“, der „ewig Unterdrückten“, zu dem ihren.
Seit langem war in Gertrud Kolmar das gewachsen, was sie in einem ihrer letzten Briefe „amor fati“, Liebe zum Schicksal, nennt und woraus sie wohl einen Teil ihrer außergewöhnlichen Charakterstärke gewann. Aber es wäre zu einseitig gesehen, wollte man allein daraus ihr Verhalten ableiten. Aus verschiedenen Motiven verschmähte sie die mögliche und mehrfach erwogene Emigration. „Diese Wanderung wäre lediglich eine durch äußere Umstände erzwungene; ich will vor dem nicht fliehen, was ich innerlich soll“, schrieb sie am 26. Oktober 1941 an ihre Schwester Hilde Wenzel. „Ich habe bisher nie so wie heute gewußt, wie stark ich bin, und dieses Wissen erfreut mich…“ Gertrud Kolmar harrte bei ihrem verwitweten Vater aus, der 1942 als Einundachtzigjähriger in ein Konzentrationslager verschleppt wurde und dort starb. Sie selbst war von 1941 an zur Zwangsarbeit in Berliner Fabriken verurteilt, in deren sozialem Milieu sie übrigens, nach anderen Briefäußerungen, ein fast unverständliches „Heimatgefühl“ bekam und die Überlebtheit von Frauen jener „bevorzugten, gehobenen Schicht“ empfand, der sie „von Haus aus“ angehörte.
Ihr letzter Brief stammt vom 21. Februar 1943. Wahrscheinlich wurde Gertrud Kolmar sechs Tage später, am 27. Februar, im Verlauf einer Aktion gegen jüdische Zwangsarbeiter, die Teil des faschistischen Ausrottungsprogramms war, nach Auschwitz deportiert. Sie ist verschollen, und das Datum ihres Todes wissen wir nicht.
Zu Gertrud Kolmars Lebzeiten erschienen nur ihre Lyrikbände Gedichte (1917), Preußische Wappen (1934) und, bald wieder eingestampft, Die Frau und die Tiere (1938). Erst die Ausgaben des lyrischen Werkes in den Jahren 1955 und 1960 mit den Gedichten über die Französische Revolution und mit dem freirhythmischen Zyklus „Welten“ ermöglichten es, die Leistung der Dichterin einzuschätzen, eine Leistung, die durch das Drama „Cécile Renault“ und die Erzählung „Susanna“ abgerundet wird.
Die Dichtung, Volksliedhaftes, Lyrisches und Balladeskes vereinend, ist still und eindringlich, von tiefer Verzweiflung und zornig aufflammendem Lebenswillen. Eine feinfühlige und kräftige, metaphorisch reiche Sprache zeichnet sie aus. Nachdrücklich erinnert sie an Hölderlins Wort: „Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste.“ Der Rückzug in die innere Welt, ausgedrückt in Gedichten auf Pflanze, Tier und Kind, ist kein Spiel, sondern wird mit einer Konsequenz vollzogen, die seine Aufhebung einleitet. Ganz auf sich zurückgetrieben, tritt die Dichterin entschlossen aus sich heraus. Rücksichtslose Wahrheitsliebe mischt sich mit einem sehr eigenständigen revolutionären Pathos. So richtet sie bildgewaltig „Marats Antlitz“ vor uns auf:
Antlitz, tief verwüstet und entstellt
Von dem Durst, dem Hunger Unbeglückter,
In den Martern ewig Unterdrückter,
Hingewendet einer armen Welt,
Die ihr frostig Elend lautlos weint.
Aus der Mähne strudeln schwarze Ottern;
Tapfre knicken ein, Beredte stottern,
Und der König, der es schaut, versteint.
Man begreift, daß mit der Historie die Gegenwart gemeint ist, und ebenso, daß solche Töne nichts mit einer schwächlichen „inneren Emigration“ zu tun haben.
Gertrud Kolmar, die keiner literarischen „Richtung“ angehörte, hat über ihre künstlerische Affinität einmal geäußert, daß ihr die Fin-de-siècle-Stimmung nicht, wohl aber Rilke ihr nahestehe. Allerdings habe dieser ihre Entwicklung nicht beeinflussen können, dazu sei sie zu spät mit ihm bekannt geworden. Es gebe für sie das gleiche Vorbild, „die große französische Lyrik“, und „auch der Eindruck der Slawen“ sei da. Schon früh war sie mit Georg Büchners Dantons Tod und Romain Rollands Danton vertraut. Von daher kam bei ihr manches. In manchem blieb sie der Tradition spätbürgerlicher deutscher Dichtung verbunden. Aber in Gegensatz zu einem Oskar Loerke etwa, dessen Naturlyrik durch „kosmische“ Sicht Trost zu spenden suchte, bejahte sie die Notwendigkeit revolutionärer Veränderungen.
Der Zyklus „Das Wort der Stummen“ zeigt einerseits, wie sich die letzte Phase dieser Entwicklung vorbereitet. Andererseits ist er von einer agitatorisch-direkten Bezogenheit auf die Zeitereignisse, wie es sonst in der Dichtung der Kolmar nicht vorkommt. Die politische Offenheit und Entschiedenheit, die, akzentuiert durch das Feuer der Sprache, einzelnen Gedichten eignet, läßt andere in eindeutigem Licht erscheinen. Natürlich brachte das die Verfasserin unmittelbar in Gefahr.
Herbst 1933: Der geliebte Garten versinkt, „Eiland, im Meer“. Die Kreatur, die Kröte, ruft dem Töter entgegen, und es identifiziert sich das lyrische Ich mit ihr:
Komm denn und töte!
Mag ich nur ekles Geziefer dir sein:
Ich bin die Kröte
Und trage den Edelstein…
Der Komplex aller Tiergedichte wird dadurch wesentlich bestimmt. Erschütternde Gedichte über die Mißhandlung von Juden betonen den sozialen Gesichtspunkt; die Leidenden sind Hungernde, Bettler, arme Witwen (die Ballade „Die jüdische Mutter“ stellt ein würdiges Gegenstück zu ähnlichen Gestaltungen von Becher und Weinert dar). Und der Schläger grölt:
Du putzt dich auf als Jesus Christ
Und bist doch nur ein Jud und Kommunist.
Die ersten Terroraktionen der faschistischen Diktatur richteten sich bekanntlich vor allem gegen die für sie gefährlichste Kraft, die Kommunisten. Im Februar begann eine Welle von Verfolgungen und Verhaftungen, brannte der Reichstag. Vom 21. September bis zum 23. Dezember fand der Reichstagsbrandprozeß statt. Gertrud Kolmar formuliert am 30. September den Vers:
Oh, ich müßte mit euch, in Krämpfen, zerprügelt, hungrig, verlaust,
Hinkriechen…
Und sie fährt fort:
Das wird kommen, ja, das wird kommen; irret euch nicht!
Denn da dieses Blatt sie finden, werden sie mich ergreifen.
Das rhythmisch, sprachlich und gedanklich weit ausladende Gedicht, in dem diese Verse stehen, belegt, daß der Opfergang der Dichterin keine mystischen, sondern sehr reale Beweggründe hatte. Es war letzten Endes ein durch ihr Wesen geprägtes Beteiligtsein und eine Solidarisierung, die bis zum Äußersten ging. Die Vorstellung von dem Menschen, „dem sie grausam die Rippen brechen“, erlaubte ihr weder die „äußere“ noch die „innere“ Flucht. Auf sich selbst gestellt, konnte sie allein ihrem Gefühl folgen.
Gertrud Kolmar sah nicht nur ihr eigenes Ende voraus. Sie ahnte mit geschichtlichem Sinn auch den Tod für die vielen, die wieder dem „Schlägelgehüpf aus klappernden Knochenstücken“ jauchzten, das „Stumme“ verwerfend, ahnte den neuen Krieg. Die Gedichte auf Robespierre sind von der Verzweiflung dessen gekennzeichnet, der sich besiegt sieht, ehe er kämpft, aber der für die Wahrheit zu sterben bereit ist. Der Tod ist für die Dichterin, der auf alle „gleich still“ wartet, der alles zudeckt „mit den stillen, gewaltigen Händen“. Der Satz des Predigers Salomo im Alten Testament „Es ist alles ganz eitel“, das „vanitas vanitatum“ des Mittelalters, klingt an, doch nicht leichtfertig lebensflüchtig, nicht müde fatalistisch, sondern mit jener menschlichen Größe, die gleichmütig auf Unausweichliches reagiert. So vermochte Gertrud Kolmar das lyrisch innige Gedicht „Heimweh“ zu schreiben, das, aus klassischem Pantheismus kommend, die Gewißheit und das Wollen ausdrückt, einst in aufblühender Natur zu ruhen.
Sie ruht auch in unserer Gedankenwelt.
Die Anordnung der Texte in der Originalhandschrift ist chronologisch. Über jedem Gedicht befinden sich dort eine laufende Nummer und das Entstehungsdatum, das aus unserem Inhaltsverzeichnis zu ersehen ist. Am Schluß hat Gertrud Kolmar eine nach thematischen Gesichtspunkten veränderte „Anordnung“ verfügt, der der Herausgeber mit zwei Ausnahmen gefolgt ist. Nicht aufzufinden war das Gedicht „Der junge Robespierre“ mit der Nummer 23 vom 28. September 1933, das den Zyklus einleiten sollte und auf das die Worte hinweisen:
Siehe schwarzes Buch! Die beiden ersten Verse fortlassen! Bei der letzten Strophe statt „ins müde Himmelsrot“, „ins welke H.“
Ferner wurden die mit dem Wort „nicht“ bezeichneten Gedichte „Im Lager“ und „Trauen“, die in der Anordnung fehlen, in dieser Ausgabe zu den Gedichten gestellt, durch die sie variiert werden.
Alle Gedichte, von denen sechs bereits in Das lyrische Werk, Kösel-Verlag, München 1960, und drei in Sinn und Form, Heft 2/1972, erschienen, sind nach dem Original wiedergegeben.
Uwe Berger, August 1977, Nachwort
Über die Situation der deutschen Juden ab dem 30. Januar 1933 gibt es heute sehr detaillierte historische Darstellungen. In ihnen wird deutlich, wie unvorstellbar es zunächst war, die Nationalsozialisten könnten mit der Machtergreifung Hitlers auch ihr antisemitisches Programm in die Tat umsetzen. Noch immer gab es das Bewußtsein vom Unterschied zwischen Wort und Tat. In Die Juden in Deutschland 1933–1945, einer Gesamtdarstellung ihres „Lebens unter nationalsozialistischer Herrschaft“, schreibt Wolfgang Benz:
Trotz aller Skepsis – und darin waren sich Zionisten und Anhänger der deutsch-jüdischen Assimilation einig – gaben sich die jüdischen Kommentatoren auch in den folgenden Wochen, und viele noch länger, überzeugt, daß zwischen dem Volkstribun Hitler in Stiefeln und Braunhemd mit seiner SA, die „Juda verrecke“ brüllte und das Lied sang vom Judenblut, das vom Messer spritzen müsse, wenn es nochmal so gut gehen solle, und dem Reichskanzler Hitler im Gehrock, flankiert von deutschnationalen und anderen hochkonservativen Notablen, ein grundlegender Unterschied sei.4
Noch waren Haß und Terror als Mittel und Ziel staatlicher Machtausübung in Deutschland nicht denkbar. In der Familie Gertrud Kolmars gab es anfangs keine andere Auffassung. Hilde Wenzel bestätigt dies jedenfalls für sich und ihren Vater:
Eigenartigerweise ist mir völlig entfallen, was ich in den ersten Tagen nach dem 30. Januar tat oder dachte, nur das eine weiß ich, trotz größter Bestürzung war man doch in meinem Familien- und eigentlich auch Bekanntenkreise sich über die Tragweite dessen, was geschehen war, nicht völlig im klaren, neigte, besonders nach einigen Wochen, immer noch zum Optimismus, die richtige Erkenntnis kam erst viel später.5
Ludwig Chodziesner teilte diese Einschätzung sogar noch, als sein Schwiegersohn Peter Wenzel wegen „nicht einwandfreier Gesinnung“, in Wahrheit aber wegen seiner Ehe mit einer Jüdin, seine Stellung als Buchhändler im Frühjahr 1933 verloren hatte und das Ehepaar Wenzel erwog, ins Ausland zu gehen, um eine neue Existenz zu gründen:
Mein Vater jedoch meinte, wir könnten im Ausland verhungern […] Und meinem Mann könnten sie ja nichts anhaben, es würde sicherlich nicht so heiß gegessen wie gekocht, und im geschäftlichen Leben würde sich bestimmt nicht viel ändern.
Auch die ersten Verhaftungen, die noch in der Nacht des Reichstagsbrandes (27. Februar) nach längst vorbereiteten Fahndungslisten erfolgten, die brutalen Übergriffe und Überfälle der nun folgenden Wochen wurden in der Öffentlichkeit zu Verfehlungen einzelner Hitzköpfe erklärt. Auf jüdischer Seite versuchte man, den Schaden durch Selbstverleugnung, Beschwichtigung und Wohlverhalten zu begrenzen. Doch spürten einzelne, aufmerksame Beobachter und Gegner der neuen Regierung, sehr früh, daß die Bedrohung nun akut und irreversibel geworden war. Walter Benjamin schrieb schon Ende Februar, „daß die Luft kaum mehr zu atmen“ war.6 Und dem Freund Gershom Scholem, der als Zionist schon 1923 nach Jerusalem gegangen war, teilte er am 20. März aus Paris mit:
Einen Begriff von der Lage gibt weniger der individuelle Terror, als die kulturelle Gesamtsituation. Über den erstem ist schwer, absolut Zuverlässiges in Erfahrung zu bringen. Unbezweifelt sind die zahlreichen Fälle, in denen Leute nachts aus ihren Betten geholt und mißhandelt oder ermordet werden. Wichtiger vielleicht noch, aber schwerer zu durchleuchten ist das Schicksal der Gefangenen. Von diesen laufen die furchtbarsten Gerüchte um, zu denen man nur sagen kann, daß einige von ihnen sich als unwahr herausgestellt haben. Sonst liegt es wie immer in solchen Zeiten: den wenigen Fällen, die übertrieben werden, mögen viele gegenüberstehen, von denen man überhaupt nichts erfährt.7
Walter Benjamin hatte Berlin am 17. März, drei Tage vor diesem Brief, für immer verlassen.
Wie Gertrud Kolmar diese Wochen erlebt hat, ist unbekannt. Es ist denkbar, daß sie weder den Optimismus ihres Vaters noch die Besorgnis ihres Vetters teilte. Als jedoch dessen Bruder Georg Benjamin in die Gefangenschaft der neuen Machthaber geriet, war auch sie mit Sicherheit aufs höchste alarmiert. Georg Benjamin wurde am 12. April in „Schutzhaft“ genommen. Er wurde zunächst im Keller des Berliner Polizeipräsidiums am Alexanderplatz festgehalten, woran sich der Mitgefangene Walter Schmidt später erinnerte:
Finster, ekelerregend waren diese Untergeschosse, zuvor für Landstreicher, Betrunkene, Prostituierte u.a. bestimmt. Etwa 30 Holzkisten als „Liegestatt“, ohne Decke, hatte solch ein Quartier. Über hundert Verhaftete zählte ich, wovon also der größte Teil auf eiskaltem Betonboden zubrachte. Hier sah ich ebenfalls den Genossen Dr. Georg Benjamin.8
Anfang Mai wurde Benjamin in das Gefängnis Plötzensee und etwa im September in das Konzentrationslager Sonnenburg verlegt. Am 16. Juni 1933 schrieb Walter Benjamin aus der Schweiz:
Mein Bruder ist im KZ-Lager. Gott mag wissen, was er da durchgemacht hat, aber die Gerüchte über seine Verwundungen sind jedenfalls in einem Punkt übertrieben gewesen. Er hat kein Auge verloren. Ich habe das kürzlich von seiner Schwester erfahren.9
Gertrud Kolmar hatte mit Sicherheit nicht nur Kenntnis von den frühen Verhaftungen und dem Terror in den ersten Konzentrationslagern, sondern zweifellos auch von der Inhaftierung ihres Vetters; alle Informationen, die sie über die dortigen Mißhandlungen erreichten, mußten sie schon aus diesem Grunde tief beunruhigen. Doch auch ohne diesen familiären Anlaß hätte sie sich zweifellos mit den stummen Opfern der ersten Gewaltwellen identifiziert. Sie tat es als Dichterin, in einem bewegenden Zyklus von zweiundzwanzig Gedichten mit dem Titel „Das Wort der Stummen“, den sie zwischen dem 18. August und dem 25. Oktober 1933 niederschrieb und deren mittlerer Teil den „Gefangenen“ gewidmet ist. Sie hatte bereits 1930, in der „Jüdischen Mutter“ zu einer religiös motivierten Selbstbesinnung aufgerufen, doch nun ging sie in der Darstellung ihrer Identifikation mit den Verfolgten noch viel weiter. Sie zeigte ihr Mitgefühl in ergreifenden Klagen und ließ ihre ohnmächtige Verzweiflung in einen dreifachen Ruf nach Gerechtigkeit münden. Am 15. September entstand das Gedicht „Wir Juden“:
Nur Nacht hört zu: ich liebe dich, ich liebe dich, mein Volk,
Und will dich ganz mit Armen umschlingen heiß und fest,
So wie ein Weib den Gatten, der am Pranger steht, am Kolk,
Die Mutter den geschmähten Sohn nicht einsam sinken läßt.
(WdSt 224)
Ihre Liebe zu diesem wie eine Person empfundenen Volk wird verglichen mit der Liebe zwischen Mann und Frau, zwischen Mutter und Kind. Sie möchte, so die zweite Strophe, für die Stummen, Geknebelten, eine Ruferin sein, die in den „Ewigkeiten“ zu hören ist, und eine Hand, „die aufgereckt an Gottes hohen Himmel rührt“. Die Dichterin erinnert an die jahrhundertelange Verfolgung der Juden; und sie will teilhaben an den Leiden „hier und jetzt“, will mit den Leidenden verschmelzen. Und sie möchte stellvertretend aufbegehren, anklagen, Zeugnis geben:
Der greise Bart, in Höllen versengt, von Teufelsgriff zerfetzt,
Verstümmelt Ohr, zerrissene Brau und dunkelnder Augen Fliehn:
Ihr! Wenn die bittere Stunde reift, so will ich aufstehn hier und jetzt,
So will ich wie ihr Triumphtor sein, durch das die Qualen ziehn!
Ich will den Arm nicht küssen, den ein strotzendes Zepter schwellt,
Nicht das erzene Knie, den tönernen Fuß des Abgotts harter Zeit;
O könnt ich wie lodernde Fackel in die finstere Wüste der Welt
Meine Stimme heben: Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!
(Strophen 6 und 7, WdSt 225)
Das Aufbegehren bleibt jedoch nur ein Wunsch – „O könnt ich“ –, denn sie ist schwach und ihre Lippen sind versiegelt. Nur in der demütigen Annahme der Ohnmacht und des Leids wird die Rettung liegen:
Nur Nacht hört zu: ich liebe dich, mein Volk im Plunderkleid:
Wie der heidnischen Erde, Gäas Sohn entkräftet zu Mutter glitt,
So wirf dich du dem Niederen hin, sei schwach, umarme das Leid,
Bis einst dein müder Wanderschuh auf den Nacken der Starken tritt.
(Strophe 9, WdSt 225f.)
Aus einem ähnlichen Impetus wie dieses Gedicht ist auch „An die Gefangenen. Zum Erntedankfest am 1. Oktober 1933“ entstanden. Es wurde am 30. September verfaßt und kennt ebenfalls das Motiv des stellvertretenden Rufens oder Singens der Dichterin:
Oh, ich hab euch ein Lied singen wollen, das die Erde erregt
Und es gesteht wiederum die eigene Ohnmacht ein angesichts unvorstellbarer Bedrohung und Gewalt:
Ich habe drei kluge Worte sinnend zusammengebracht
Statt der Klänge, die heiß wie Blut aus dem Herzen spritzen,
Die rasen, wie eine Sturmglocke aufschreit um Mitternacht,
Wenn apokalyptische Reiter auf mähnigen Pferden sitzen.
Und ich sollte in eure Martern niederstoßen die Faust,
Daß sie verschlungen werde, zerknackt von fressender Flamme,
Oh, ich müßte mit euch, in Krämpfen, zerprügelt, hungrig, verlaust
Hinkriechen auf tränendem Stein, gefesselt mit eiserner Kramme.
Das wird kommen, ja, das wird kommen; irret euch nicht!
Denn da dieses Blatt sie finden, werden sie mich ergreifen.
Herr, gib, daß ich wach mich stelle deinem heiligen großen Gericht,
Dann, wenn sie an blutendem Schopf durch die finsteren Löcher mich schleifen!
(Strophen 2 bis 4, WdSt 218f.)
Gertrud Kolmar gibt dem Zeitgeschehen nicht nur in diesem Gedicht eine eschatologische Deutung. Sie sieht in dem unfaßlichen Geschehen das Gericht Gottes raufziehen, dem sie sich zu stellen hat. Immer wieder begegnet nun diese Thematik in Verbindung mit einer apokalyptischen Bildlichkeit und Symbolik. In vier Gedichten des „Wortes der Stummen“ wird darüber hinaus die Passion Jesu Christi zum Leiden der Gefangenen in Beziehung gesetzt. Jesus, der doch alle erlöst haben will, bleibt stumm für sie, ist ihnen nie erschienen, vermochte sie nicht zu erlösen:
Nur Angst, nur Schauder in den Mienen,
Wenn nachts ein Schuß das Opfer greift…
Und keinem ist der Mann erschienen,
Der schweigend mitten unter ihnen
Sein kahles Kreuz zur Richtstatt schleift. –
(WdSt 215)
Gertrud Kolmars Sicht der katastrophalen Ereignisse weicht deutlich von den – durchaus unterschiedlichen – Positionen ab, die angesichts der akuten Bedrohung diskutiert wurden. Es geht ihr weder um zionistische Bejahung des Judentums, noch um die praktische Bewältigung der aktuellen Probleme, die der Centralverein der deutschen Juden nun in Angriff nahm; noch läßt sich ihre Haltung mit den Zielen der jüdischen Orthodoxie, die angesichts der aktuellen Lage zur Buße und zur Wiederanknüpfung an die religiösen Traditionen aufrief, vereinbaren. Das Opfer, das sie jedenfalls in dieser Phase des Geschehens zu bringen begehrt, ist das Opfer ihres Lebens.
Eschatologische und sogar christliche Bezüge sind aber nur ein Aspekt dieser Dichtung. Es finden sich in ihr mehr Anspielungen auf die aktuelle Situation als in jedem anderen Werk Gertrud Kolmars, mehr vielleicht sogar als in jeder anderen zeitgenössischen Dichtung. Es werden die Jahreszahlen 1933 und 1918 zu Gedichttiteln gemacht, wird das „dritte christlich-deutsche Reich“ beim Namen genannt, vom „braunen Hemd“ der Folterer und vom „Nordmann“ gesprochen, der „besser sich preist als Jude und Hottentott“. Das Schicksal der Gefangenen wird nicht nur als apokalyptisches Grauen, sondern auch als reale Brutalität dargestellt, und es findet sich, aufgrund einer „Anordnung“ der Dichterin, im Zentrum der Sammlung. Diese beginnt mit „Trauriges Lied“, „Begraben“, „Garten“ und dem berühmten Tierbild „Die Kröte“, in denen die bekannte persönliche Motivik vorherrscht, in denen aber eine besondere Erregtheit aufgrund des aktuellen Geschehens schon anklingt:
Komm denn und töte!
Mag ich nur ekles Geziefer dir sein:
Ich bin die Kröte
Und trage den Edelstein…
(WdSt. 211)
Im Zentrum stehen dann die Gedichte „Ewiger Jude“, „Im Lager“, „Die Gefangenen“, „An die Gefangenen“, „Wir Juden“, „Der Mißhandelte“ und „Anno Domini 1933“. Im letzteren und in „Die jüdische Mutter“ gilt das Mitgefühl dem Leiden eines mißhandelten Kindes und dessen Vater oder Mutter. Beide Gedichte haben stark balladenhafte Züge, eine Tendenz, die sich im Robespierre-Zyklus fortsetzen wird.
ANNO DOMINI 1933
Er hielt an einer Straßenecke.
Bald wuchs um ihn die Menschenhecke.
Sein Bart war schwarz, sein Haar war schlicht.
Ein großes östliches Gesicht,
Doch schwer und wie erschöpft von Leid.
Ein härenes verschollnes Kleid.
Er sprach und rührte mit der Hand
Sein Kind, das arm und frostig stand:
„Ihr macht es krank, ihr schafft es blaß;
Wie Aussatz schmückt es euer Haß,
Ihr lehrt es stammeln euren Fluch,
Ihr schnürt sein Haupt ins Fahnentuch,
Zerfreßt sein Herz mit eurer Pest,
Daß es den kleinen Himmel läßt –“
Da griff ins Wort die nackte Faust:
„Schluck selbst den Unflat, den du braust!
Du putzt dich auf als Jesus Christ
Und bist ein Jud und Kommunist.
Du krumme Nase, Levi, Saul,
Hier, nimm den Blutzins und halt’s Maul!“
Ihn warf der Stoß, ihn brach der Hieb.
Die Leute zogen mit. Er blieb.
Gen Abend trat im Krankenhaus
Der Arzt ans Bett. Es war schon aus. –
Ein Galgenkreuz, ein Dornenkranz
Im fernen Staub des Morgenlands.
Ein Stiefeltritt, ein Knüppelstreich
Im dritten, christlich-deutschen Reich.
(WdSt 222f.)
Es folgen Gedichte mit überwiegend historischer Thematik, die ebenfalls auf den Robespierre-Zyklus vorausweisen. In zwei abschließenden Gedichten wird Todessehnsucht und eine als ein Wunder empfundene Begegnung mit dem „Engel im Walde“ dargestellt. Dieser Engel ist, wie schon in früheren Gedichten, ein Symbol der Ruhe und eines Seins „außer aller Wirklichkeit“.
Die Gedichtsammlung „Das Wort der Stummen“ ist als Handschrift erhalten, eine Ausnahme unter Gertrud Kolmars Werken seit 1927. Das Manuskript stellt offensichtlich die erste Niederschrift dar, denn sie enthält, neben Passagen ohne jede Streichung, auch zahlreiche Korrekturen. Die Schrift verrät gerade bei Gedichten wie „Wir Juden“ oder „An die Gefangenen“ eine starke Emotionalität, erkennbar in der wellenartigen Bewegung der Zeilen, in der Veränderung der Richtung und Größe der Buchstaben, nicht zuletzt in der Heftigkeit der Streichungen. Sämtliche Gedichte sind in diesem Manuskript datiert, auch dies eine Besonderheit in der Überlieferung des lyrischen Werks.
Daß dieser Zyklus als Ganzes erhalten geblieben ist, ist Hilde Benjamin, der Frau Georg Benjamins und späteren Justizministerin der DDR, zu verdanken.10
In ihren „Erinnerungen an Gertrud Kolmar“, mitgeteilt in der Erstausgabe des Wortes der Stummen von 1978 berichtet sie, wie sie selbst in den Besitz des Manuskriptes gekommen ist:
Und bald nach Onkel Ludwigs Tod [gemeint ist wahrscheinlich dessen Deportation] gab sie [Gertrud Kolmar] mir ein Päckchen Manuskriptblätter: „Nimm“. Ich nahm sie als Vermächtnis, ungelesen. Ich wagte mich an sie so wenig wie an die Briefe und Papiere meines Mannes. Mit ihnen waren sie verpackt, versteckt und verwahrt. So verwahrt, wie das Erleben dieser Jahre zunächst tief versank und ich nicht daran zu rühren wagte. Als ich vor einigen Jahren an das Ordnen der Papiere meines Mannes ging, waren auch die vorliegenden Gedichte in unseren Händen.11
Johanna Woltmann: Gertrud Kolmar. Leben und Werk, Suhrkamp Verlag, 2001
– Erinnerung an Gertrud Kolmar. –
Nur ganz wenige Fotografien sind uns von ihr überliefert; auf der bekanntesten – 1928 aufgenommen, als sie 34 Jahre alt war – glaubt man Franz Kafkas leibliche Schwester vor sich zu sehen – „mit diesen Augen, deren jedes finster und ein Stern ist“ (wie es in ihrem Gedicht „Die Verlassene“ heißt). Daß Gertrud Kolmar eine geistige Schwester Kafkas war und ihrem Werk innerhalb der modernen deutschen Lyrik einzigartiger Rang zukommt, das hat sich erstaunlicherweise noch immer nicht herumgesprochen. Mit Kafka verband Gertrud Kolmar auch dies, daß sie sich vor dem Verlorengehen nicht fürchtete. „Ich bin ein Kontinent, der eines Tages stumm im Meere versinkt“, verkündet ihr Gedicht „Die Unerschlossene“, und ihr Gedicht „Die Fahrende“ endet mit dem Wunsch, „nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein.“
Die Verlassene, die Unerschlossene, die Fahrende: das lyrische Ich, von dem so viele Gedichte Gertrud Kolmars schon im Titel sprechen, artikuliert sich auffallenderweise nie als das einer assimilierten preußischen Jüdin, die Gertrud Kolmar in Wirklichkeit doch war, vielmehr tritt es in immer neuen Gestalten auf, die alle jedoch dies eine gemeinsam haben, daß sie Ausgegrenzte und Verachtete sind. Da gibt es die Drude, die Landstreicherin, das Räubermädchen, die Troglodytin, die Gauklerin, die Verworfene, die Blinde, die Irre, die Hexe, das Freudenmädchen, die Kinderdiebin, die alte Jungfer, die Mörderin, die Häßliche, die Lumpensammlerin, die Begrabene, die Fremde oder – gleichsam als Kulminationsfigur aller dieser weiblichen Elendsgestalten – die Jüdin. Handelt es sich hier jeweils um die Verwandlung einer realen in eine imaginäre Existenz oder nicht vielleicht doch umgekehrt – um eine Verwandlung zur Kenntlichkeit? War nicht die Sicherheit, in der sich das assimilierte deutsch-jüdische Bürgertum wiegte, eine imaginäre, war sie nicht eine schreckliche Illusion? „Verwandlungen“ ist eines der schönsten Gedichte Gertrud Kolmars überschrieben, eine Art Schlüsselgedicht, in dem sich am Ende das sprechende Ich zu nahezu nichts verflüchtigt hat, nur noch „eine kleine Speise in einem Becher von Nacht“ ist, sich also gewissermaßen zum Verzehr anbietet.
Liest man die wenigen persönlichen Zeugnisse, die von Gertrud Kolmar oder über sie existieren, so ergibt sich das Bild eines Menschen, in den man Vertrauen setzte und der seinerseits Gelassenheit und Sicherheit ausstrahlte. Liest man die Gedichte derselben Gertrud Kolmar, entdeckt man das schiere Gegenteil, daß ihr nämlich das Vertrauen in den Menschen früh und gründlich abhanden gekommen sein muß – und zwar lange vor jenen Dreißiger Jahren, in denen einer Jüdin dann Recht und Sicherheit offiziell abgesprochen waren. So etwas wie Sicherheit gibt es in ihren Gedichten nur im Sprachlichen, in der formvollendeten Strophe, im genauen Ausdruck, im kühnen Reim. Doch das Lebensgefühl, das diese Gedichte ausstrahlen, ist ein zutiefst erschüttertes, zutiefst tragisches. Es ist nicht nur gespeist von den frühen Katastrophen der Kindheit und einer frühen unglücklichen Liebesbeziehung, die mit einer (von den Eltern erzwungenen und von Gertrud Kolmar lebenslang nicht verwundenen) Abtreibung endete, sondern von weit Früherem noch, von Vorgewußtem. Konnte einem denn nicht bereits der Beginn der Menschheitsgeschichte, an dem ein Brudermord stand, das Vertrauen in den Menschen rauben?
Die stärksten Gedichte Gertrud Kolmars überbrücken den blutigen Zeitenraum bis zurück zu Kain und Abel mit verblüffender Selbstverständlichkeit, oft gehören sie sogar einer Sphäre des Vormenschlichen, des Tellurischen und Anorganischen an – oder scheinen dort Schutz zu suchen. Viele werden nur von Pflanzen und Tieren bevölkert und hier wiederum vorwiegend von verachteten oder von Menschen gemiedenen Tieren. Wo aber der Mensch in diesen Gedichten erscheint, so ist er entweder ein tief bedrohtes oder tief bedrohliches Wesen, entweder Opfer oder Täter. Und bereits das Kind, das Gertrud Kolmar ein Leben lang in Worten, aber nie leibhaftig ausgetragen hat, ist schon von dieser Antinomie gezeichnet.
Das Kind in der Dichtung Gertrud Kolmars – ein schier unerschöpfliches Thema. In ihren frühesten Gedichten, die Gertrud Kolmars Vater, ein angesehener und erfolgreicher Berliner Anwalt, 1917 ohne ihr Wissen drucken ließ, ist die Gefahr des Harmlosen und des gründerzeitlichen Goldschnitt-Kitsches jedesmal dann, wenn ein Kind beschworen wird, sofort gebannt.
Eines dieser frühen Gedichte, „In des Brunnens Grunde“, führt bereits hinab in die feuchte Tiefe, die das Verzugsdomizil so vieler späteren Gedichte sein wird, und es hockt dort am Brunnengrund ein Kind, das Kind, dessen Spielgesellen weder andere Kinder noch Hunde und Katzen sind, sondern Kröten, Asseln und Fledermäuse. Die letzte Strophe dieses Gedichts lautet:
In des Brunnens Grunde ist es kühl,
Starrt nur Finsternis, und Licht ist blind;
Eimer hangen hoch wie Glocken im Gestühl:
In des Brunnens Tiefe schläft mein Kind.
Die Tragödie ihrer Kinderlosigkeit wurde für Gertrud Kolmar zum stärksten Movens ihres Werks – und nicht nur des lyrischen. Gerade ihre Prosa kreist ausschließlich um die Kindthematik, und manchmal schlägt in ihr Kindsanbetung schon in eine Art Götzendienst um und treibt die Dichterin ins maßlos Überspannte.
Ihr 1930/31 entstandener Roman Eine jüdische Mutter, in dem Martha Wolg ihr einziges Kind selbst tötet, weil es von einem Sexualverbrecher mißbraucht wurde, und diesen danach mit einem Haß verfolgt, den man wahrlich alttestamentarisch nennen muß, ist sicher tiefenpsychologisch interessanter als literarisch bedeutsam, und das schon deshalb, weil dieser Haß von Selbsthaß kaum je zu unterscheiden ist. Auch „Susanna“, die einzige erhaltene Erzählung Gertrud Kolmars, ist trotz beeindruckender Details weniger ein literarisch gelungenes als ein autobiographisch aufschlußreiches Dokument, das den Blick freigibt auf die Erzieherin Gertrud Kolmar, die in den Zwanziger Jahren in Berliner und Hamburger Privathäusern Kinder betreut hat, darunter auch behinderte Kinder. Susanna, die Titelheldin der Erzählung, gilt als geistig behindertes „gemütskrankes“ Kind, das die Grenzen zwischen Realität und Traum nicht oder kaum zu erkennen vermag und deshalb der Betreuung durch eine Erzieherin bedarf. Diese, die Ich-Erzählerin, begreift freilich die vermeintliche Behinderung des jungen jüdischen Mädchens bald als dessen Überlegenheit, als Befähigung, dem Geheimnis des Lebens so nahe zu kommen, wie das ihr selbst, der aufs Rationale Verpflichteten, nie möglich sein wird. Susanna, deren Lebensanspruch so absolut ist, daß sie ihm schließlich lieber ihr Leben opfert, als ihn aufzugeben, ist im Grunde nichts anderes als der personifizierte dichterische Anspruch der Autorin dieser Erzählung, die, befremdend genug, mit dem Satz anhebt: „Ich bin keine Dichterin, nein… nur eine alte Erzieherin mit grauendem Scheitel, zermürbter Stirn und Tränensäcken unter den müden Augen.“
In einem Brief, der 1938, also ein Jahr vor der Erzählung „Susanna“, geschrieben wurde, lesen wir es anders:
Ich bin eine Dichterin, ja, das weiß ich; aber eine Schriftstellerin möchte ich niemals sein.
Die Dichotomie Dichterin Schriftstellerin, auf der Gertrud Kolmar hier insistiert, gilt neudeutschem Literaturverständnis als suspekt, der Autor soll möglichst sein wie du und ich und eben ja nicht der ganz Andere, der Dichter. Gertrud Kolmars Werk läßt sich mit so einebnendem Blick sowenig fassen wie das Werk einer Nelly Sachs oder eines Paul Celan, ist es doch stets Ausdruck eines Verlangens, Menschen und Dinge aus ihrem gewohnten Bild zu befreien und sie radikal neu und anders zu sehen; vor allem aber ist es Ausdruck ihrer Fähigkeit, die eigene Gestalt in ihrem Anderssein zu akzeptieren.
Gertrud Kolmars Anderssein, das sie als ihr Lebensgesetz begriff, war dreifach gegründet: einmal in ihrer weiblichen Rolle als die Verlassene und Kinderlose („daß ich niemals ,die Eine‘ war, immer ,die Andere‘“, konstatiert sie noch 1942 in einem Brief an die Schwester Hilde), dann in ihrer Entscheidung für das unbedingt Dichterische, also eine ganz andere Art zu sprechen, zuletzt im Stigma ihres Judentums, dessen sie sich in ihrer Jugend kaum bewußt war, das sie aber angesichts der furchtbaren Vorbereitungen zur Endlösung nicht nur anzunehmen lernte, sondern zuletzt als ihre Urheimat erkannte und dichterisch in Besitz zu nehmen begann. Gertrud Kolmar, die es vorzog, nach 1933 bei ihrem Vater zu bleiben, der den Schritt in die Emigration nicht hatte tun wollen, wurde nach dessen Deportation nach Theresienstadt im Herbst 1942 bald darauf, im Februar 1943, selbst nach Auschwitz deportiert.
Mörder und Verfolger bevölkern Gertrud Kolmars Gedichte schon lange vor den Dreißiger Jahren. Eines ihrer Gedichte ist ausdrücklich „Mörder“ überschrieben, und hier erscheint der empfangenden Frau der zeugende Mann als Mörder, als ein keuchendes Untier mit Rüssel und einem Beil als Geschlechtswerkzeug. Die Endstrophe des Gedichts verwandelt die Folter- und Mordstätte jedoch überraschend in eine Geburtsstätte, in den Ort eines Versprechens:
Hörst du-? O still. In meinem Schoße ruht das Beil.
Von seinen Seiten brechen eibenhaft zwei Flammen:
Sie grüßen sich und falten sich zusammen:
Mein Kind. Aus dunkelgrüner Bronze, ernst und steil.
Daß so viele ihrer Gedichte in menschenleerer Natur oder in der Tierwelt angesiedelt sind, könnte den Eindruck erwecken, Gertrud Kolmar habe der menschlichen Mörderwirklichkeit eine heile Naturwirklichkeit gegenüberstellen wollen. In Wahrheit geht es in Gertrud Kolmars Natur meist nicht weniger grausam und mörderisch zu als unter Menschen. Und wenn sie auch in ihrem Gedicht „Die Gesegnete“ diese ausrufen läßt: „O, ich will dich werfen / So wie ein Tier und glücklich sein“, so demonstrieren die meisten ihrer Tiergedichte, daß das Glück der Tiere nur der fromme Wunsch jenes „unglückseligen Tieres“ ist, als den Nietzsche den Menschen apostrophiert hat. Und es ist offenbar nicht nur der Mensch, der am Unglück der Tiere Schuld trägt, sondern der Schöpfer selbst. „Welches ist die Erbsünde der Tiere?“ hat Elias Canetti einmal scharfsinnig gefragt; warum wurden auch sie, die doch nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, aus dem Paradies vertrieben?
In Gertrud Kolmars wahrhaft unerhörtem Gedicht „Flehn“ fragen die Fische Gott, warum er sie nur als Beute für andere geschaffen habe, und sagen sich schließlich von ihm los. Und in ihrem Gedicht „Der Tag der großen Klage“, dessen Ton durchgehend auf die Frequenz einer Posaune zum jüngsten Gericht gestimmt ist, kommen sämtliche von Menschen mißhandelte Tiere als Richter über die Menschheit und verurteilen sie zum Tode.
Eines der letzten Tiergedichte Gertrud Kolmars gilt noch einmal einem verachteten Tier, der Kröte. Doch steht diese, die sich gegen ihren Mörder nicht wehrt, ihn vielmehr ausdrücklich auffordert, sie zu töten, offensichtlich für mehr als nur ein verachtetes Tier:
Ich atme, schwimme
In einer tiefen, beruhigten Pracht,
Demütige Stimme
Unter dem Vogelgefieder der Nacht.
Komm denn und töte!
Mag ich nur ekles Geziefer dir sein:
Ich bin die Kröte
Und trage den Edelstein.
Das Gedicht „Die Kröte“ entstand am 12. Oktober 1933, also nach der Machtübernahme jener Deutschen, in deren Vokabular „Geziefer“ ein Synonym für Juden war. Daß die Verfolgte im Gedicht zugleich als Erwählte erscheint, die den Edelstein trägt, verrät auch, daß Gertrud Kolmar ihr Judentum in der Zeit der Verfolgung als Auszeichnung zu empfinden begann. Anhand der erhaltenen Briefe an ihre in die Schweiz emigrierte jüngere Schwester Hilde läßt sich nicht nur der Leidensweg der in Deutschland Zurückgebliebenen nachverfolgen (obwohl wegen der Zensur noch die furchtbarsten Fakten hinter einem oberflächlichen Plauderton verborgen werden mußten), sondern hier wird man auch der allmählichen Entdeckung einer jüdischen Identität gewahr, die Gertrud Kolmar nicht nur Demütigungen und Verfolgung eintrug, sondern auch Kraft verlieh, Kraft, als Zwangsarbeiterin in der Rüstungsindustrie schwerste Männerarbeit zu verrichten, daneben den seines Hauses beraubten alten Vater in einem der überbelegten „Judenhäuser“ zu versorgen und dabei selbst der geringsten Freuden beraubt zu sein – wie etwa dem Besuch von Grünanlagen und Freibädern oder dem Halten eines Hundes.
Gertrud Kolmar hat sich nach 1933 nicht nur intensiv mit jüdischer Religion und Geschichte beschäftigt, sondern sie hat auch Hebräisch gelernt und sogar hebräische Gedichte geschrieben. Auch in ihrem noch 1938 beim jüdischen Verlag Erwin Löwe erschienenen (und gleich darauf eingestampften) Gedichtband Die Frau und die Tiere ist jüdische Selbstbestimmung Thema einiger Gedichte, und erst recht beherrscht diese Thematik ihren 1933 entstandenen Gedichtzyklus „Das Wort der Stummen“, den Gertrud Kolmar allerdings nicht zu publizieren wagte. Eines der Gedichte aus diesem Zyklus, „Die Gefangenen“, beklagt bewegend, daß den entrechteten und geschundenen Juden der Mann mit dem Kreuz – der Mann auf dem Weg nach Golgatha – nicht erschienen ist. Christus ist für Gertrud Kolmar keine Hoffnungschiffre. Die Assimilation hat sich auch deshalb als Illusion erwiesen, weil nach 1933 Christen jene nicht unter den Schutz des Kreuzes stellten, deren Weg nunmehr nach Golgatha führte. „Spätestens am Tage des Synagogensturms hätte die Kirche schwesterlich neben der Synagoge erscheinen müssen; es ist entscheidend, daß das nicht geschah“, schrieb später Reinhold Schneider.
Der Gedichtzyklus „Das Wort der Stummen“ wurde durch Hilde Benjamin, der ihn die Dichterin anvertraute, über die Nazijahre gerettet. Es handelt sich bei dieser übrigens um niemand anderen als die später in der DDR als „rote Hilde“ so gefürchtete Justizministerin. Vor 1945 zählte sie selbst zu den Verfolgten, ihr Mann, der Arzt und Kommunist Georg Benjamin, ein Bruder Walter Benjamins, wurde im KZ Mauthausen ermordet. Mit den Benjamins war Gertrud Kolmar über die gemeinsame Großmutter Hedwig Schoenflies verwandt, der Walter Benjamin in seiner „Berliner Kindheit um 1900“ ein Denkmal gesetzt hat und der auch Gertrud Kolmar ein schönes Gedicht widmete.
Es war mit Sicherheit kein Verwandtschaftsdienst, daß Walter Benjamin seine ganze Reputation aufbot, um seiner Cousine, die zum literarischen Betrieb einen an Verachtung grenzenden Abstand wahrte, 1928 einen Auftritt in der von Willy Haas herausgegebenen Literarischen Welt zu verschaffen, und daß er vehement auch bei Max Rychner für sie warb, der dann 1929 in seiner Neuen Schweizer Rundschau ebenfalls Kolmar-Gedichte publizierte. In seinem Begleittext zu den Gedichten der Cousine bekannte Benjamin seine Absicht, „das Ohr des Lesers Tönen zu gewinnen, wie sie in der deutschen Frauendichtung seit Annette von Droste nicht mehr vernommen worden sind.“
Der Vergleich ist nicht zu hoch gegriffen. Im visionären Blick für alles Verschüttete, Versteckte, Verborgene und im Vermögen, allem Angeschauten eine gleichsam magische Kraft zu verleihen, steht Gertrud Kolmar konkurrenzlos neben der Droste, mit der sie – neben der Kinderlosigkeit nicht nur die Vorliebe fürs Tellurische, Faulende und Versteinte teilt, sondern auch die für den Balladenton.
Es hat nach 1945 nicht an Versuchen gefehlt, Gertrud Kolmars Dichtung in Deutschland einzubürgern, so veröffentlichte Peter Suhrkamp schon 1947 ihren 1937 entstandenen Gedichtzyklus Welten – mit einem Nachwort Hermann Kasacks, der auch in den Jahren danach unablässig für Gertrud Kolmar warb, aber erst 1955, nachdem er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung geworden war, die Publikation des Großteils ihres lyrischen Werks als Akademieveröffentlichung durchzusetzen vermochte. Zuvor hatte es die Mainzer Akademie abgelehnt, Gertrud Kolmar in ihrer Buchreihe Verschollene und Vergessene vorzustellen, mit der aberwitzigen Begründung, die Dichterin sei weder vergessen noch verschollen, habe vielmehr noch nie einen festumrissenen Begriff dargestellt.
Peter Hamm, Die Zeit, 14.5.1993
Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966
GERTRUD KOLMAR
Buche, blutig im Laub,
in rauchender Tiefe, bitter
die Schatten, droben das Tor
aus Elstergeschrei.
Dort ist eine gegangen,
Mädchen, mit glattem Haar,
die Ebene unter den Lidern
lugte herauf, in den Mooren
vertropfte der Schritt.
Ungestorben aber
die finstere Zeit, umher
geht meine Sprache und ist
rostig von Blut.
Wenn ich deiner gedächte:
Vor die Buche trat ich,
ich hab befohlen der Elster:
Schweig, es kommen, die hier
waren – wenn ich gedächte:
Wir werden nicht sterben, wir werden
mit Türmen gegürtet sein?
Johannes Bobrowski
Elfriede Huber-Abrahamowicz: Zum 80. Geburtstag von Gertrud Kolmar
Die Tat, 7.12.1974
Das Interview mit Frau Gleichauf über die Dichterin Gertrud Kolmar hat mich sehr bewegt. Vor Jahrzehnten habe ich das Buch Tag- und Tierträume mit Gedichten von ihr, das posthum veröffentlicht wurde, mir gekauft. Ich konnte mich nur noch an den Buchtitel und den Namen erinnern.
Das Buch habe ich heute in meinem Bücherfundus wieder gefunden, als ich ein neues Regal mit meinen Büchern füllte. Habe heute einige Gedichte gelesen und dann habe ich über die Dichterin, ihre Gedichte und ihr Leben im Internet recherchiert und bin dabei auf dieses Interview gestoßen. Ich danke Ihnen sehr.