Herta Müller: Der Wächter nimmt seinen Kamm

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Herta Müller: Der Wächter nimmt seinen Kamm

Müller/Müller-Der Wächter nimmt seinen Kamm

sein Leben machen
ist nicht,
sein Glück machen
mein Herr
Das eine ist
ein Kinderwagen
Das andere
ein Herrenrad
und niemand fährt
Ich hatte einen
Maulbeerbaum der hatte
Blätter und Blätter
Da wuchs ein Engel drin
mit rotem Fieber
im Mund
Gesagt hat er nichts.
im Sommer ließ er
die Lippen platzen
und schwarz war
der Abstieg der Früchte
und immer befallen von Raupen war die Achselhöhle,
manchmal war es ein Wächter und Geiger
damals war der ein Flüchtling und strich über den Nerv
des Sommers sein Koffer war aus der Zeit
Da bewohnte ein Schneider den Himmel als Gast Blatt um Blatt
geschnitten beglich im September den September
Einzelheiten spielten keine Rolle lieber Herr

 

 

 

Kurz nachdem ich aus Rumänien kam,

war ich viel unterwegs. Ich wollte mich bei Freunden melden und suchte in den Orten, wo ich gerade war, nach Postkarten. Aber auf den schwarz-weißen Karten standen dümmliche Sprüche, die witzig sein wollten. Und die Ansichtskarten hatten so gräßlich mißratene Farben. Schon der Himmel war auf allen ein dickes Blau, die Bäume ein dickes Grün, die Dächer ein dickes Rot.
Eines Tages kaufte ich weiße Karteikarten, einen Klebestift und fing an, im Zug mit der Nagelschere aus der Zeitung ein Schwarzweiß-Bild und Wörter auszuschneiden. Auf eine Karte klebte ich dann das Bild und ein paar Wörter: DAS STÖRRISCHE WORT ALSO, oder WENN ES EINEN ORT WIRKLICH GIBT STREIFT ER DAS VERLANGEN, oder DIE TASCHENDIEBIN DIE BIN ICH.
Ich war verblüfft, weil einzelne Wörter eine ganze Geschichte erzählen. Weil ein paar Wörter etwas Rätselhaftes hergeben, weil das Wenige noch allerhand suggeriert – eine ganze Geschichte geht weiter, merkte ich, gerade weil sie nicht auf der Karte steht. Die Texte wurden immer länger. Es entstanden Geschichten aus verschiedenen Farben und Schrifttypen. Die Texte klingen, weil die unterschiedlichen Farben die Wörter tönen und die unterschiedliche Größen ihnen eine unterschiedliche Stimme geben. Auf jeder Karte steigt der Text mit dem Bild auf eine Bühne, jede Karte inszeniert ihr kleines Theater. Vielleicht fing ich deshalb an, auch zu Hause Wörter auszuschneiden. Ich legte sie aufs Hackbrett, damit man sie, wenn wir essen wollen, aus der Küche wegtragen kann. Doch Wörter expandieren. Bald mußte ich einen großen Tisch für sie benutzen, einen quadratischen, um den man gehen kann, damit man sie alle sieht.
Zwei Jahre hatte ich diesen „Wörtertisch“. Die Wörter wurden immer mehr, sie lagen fingerdick und wurden mit der Zeit so staubig, dass ich sie nicht mehr benutzen konnte – der Staub verschmierte sich beim Kleben. Ich mußte tausende Wörter, von denen ich mich nicht trennen wollte, in den Mülleimer kehren. Außderdem waren das auch unzählige Stunden Arbeit, die ich mit dem Ausschneiden zugebracht hatte. Deshalb mußten die Wörter ab nun in „Wörterschränkchen“ mit Schubladen, die man schließen kann. Und in den Schränkchen mußten sie alphabetisch geordnet werden, damit ich weiß, wo ich das Wort finde, wenn ich es brauche. Von einer praktischen Notwendigkeit zur nächsten ist aus dem Ausschneiden und Sammeln von Wörtern eine regelrechte Werkstatt geworden. Denn bald gab es dann auch noch eine Schublade für Eigennamen, eine für Artikel, eine für Präpositionen.
Je länger ich mit den Wörtern arbeitete, um so länger wurden die geklebten Texte. Es ist für mich mittlerweile selbstverständlich mit gefundenen Wörtern zu schreiben. Weil sie aus ganz verschiedenen Zeitschriften kommen, macht ihre Unterschiedlichkeit die Texte sinnlich. Es ist der intensivste Kontakt mit Sprache, weil man jedes Wort einzeln anfassen muß. Überhaupt ist diese Arbeit sinnlich. Und sie ähnelt in vielem dem wirklichen Leben: der Zufall, durch den sich die Wörter treffen; mehr als die Größe der Karte ausmacht, geht nicht drauf; was einmal festgeklebt ist, kann man nicht mehr ändern. Manche Wörter habe ich nun seit Jahren und man sieht ihrem Papier an, dass sie alt geworden sind. Und wenn ich unterwegs bin, weiß ich, dass alle meine Wörter zu Hause auf mich warten. Manchmal glaube ich, dass auch sie in ihren Schubladen warten, wie ich an den Bahnhöfen, dass sie endlich in einen Text einsteigen dürfen. Andersmal glaube ich, dass sie froh sind, wieder mal davon gekommen zu sein und in der Schublade bei den andern bleiben zu dürfen. Denn eigentlich habe ich sie ja gerettet. Die ganze Kleberei hat womöglich mit meiner früheren Zeit in Rumänien zu tun. Dass es unzählige bunte Zeitschriften gibt, so gutes Papier, so viele Texte, die nur flüchtig gelesen und schon weggeschmissen werden – das alles kannte ich in Rumänien nicht. Es gab nur graue, nach Schmieröl stinkende Staatszeitungen, sonst nichts. Schon vom Umblättern kriegte man schwarze Finger.

Herta Müller

Die „Angst der Sanftheit“

Die Präsentationsform der Textcollagen auf 94 Karten in einer Schachtel mit Seidenbändchen zum schadlosen Herausziehen suggeriert einen Geschenkartikel, doch „ab und zu kommt die Todesangst hat eine kleine Schachtel erinnert an die Straßen im Osten“. Die Texte aus ausgeschnittenen Wörtern ergeben „das nachgemachte Leben“, kleben Wörter wie Angst, Flucht, Krieg mit Wörtern des alltäglichen Lebens zusammen in einem Spiel mit „Hintersinn“.
Mit den 94 Karten lassen sich neue, eigene Collagen legen wie Patiencen, in der die „Angst der Sanftheit“ das Muster vorgibt. „Ich habe die Jahre aus dem Osten in einem Bahnhofsschließfach abgestellt“ bekennt die Person, die sich in den vorgefertigten Wörtern ausspricht. Ein Geschenkartikel – nicht wirklich, nur surreal, wie viele der einzelnen Textcollagen. (Die zitierten Texte geben nicht den vollständigen Wortlaut wieder.)

Werner Boettcher, amazon.de, 8.10.2009

Zerschnipselter Sinn. Buchstabierte Angst. Geklebte Ordnung.

Von Sprachmagie und Sprachgewalt zeugen sämtliche Texte Herta Müllers. Einen besonders originellen Ausdruck aber findet dieser experimentelle Umgang mit der Sprache in den Text-Bild-Collagen, an denen Herta Müller seit vielen Jahren arbeitet. Ob als bunte, zu einem Buch zusammengefasste Gedichtbilder oder als Postkartenserie, die in einem schwarzroten Pappkästchen zu Hause ist – in ihrer provokanten Vieldeutigkeit lösen diese kleinen Kunstwerke Faszination und Irritation aus.
Auf den ersten Blick wirken sie wie harmlose, mit naiven Illustrationen versehene Sprachspiele. Doch bei genauerem Hinsehen leisten sie Widerstand: Der Betrachter verfängt sich zwischen den Text-Zeilen, gerät in den Sog der Bilder, verstrickt sich in den Schlingen eines Gewebes aus Wörtern, Zeichnungen und Fotos.

Alles, was sich auf diesen Postkarten wieder findet, ist Zitat: Bilder und Bildfragmente aus Zeitungen oder Zeitschriften, ausgeschnittene Buchstaben, Silben und Wörter, die aufgrund der heterogenen Schriftarten, -farben und -größen selbst wiederum bildhaft werden. Diese Schnipsel verwandelt Herta Müller in Kunstwerke, indem sie sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang heraustrennt und in eine neue Ordnung stellt.
So uneinheitlich das Material auch ist (Herta Müller hat ihre Zettelkästen über Jahre hinweg mit unzähligen Sprachfitzelchen bestückt), es werden schließlich ,echte‘ Gedichte daraus: Sie sind in regelmäßigen Versen, mitunter auch in Strophen organisiert, sie arbeiten mit machtvollen Sprachbildern und originellen Wortneuschöpfungen. Die an- und eingefügten Bilder wiederum treten dazu in eine höchst eigenartige Beziehung: Sie ergänzen, illustrieren, verunsichern, unterlaufen oder konterkarieren den Sinn der Sätze.
Wie jede Collage, so stellen auch diese Gedichtbilder ihre eigene Materialität besonders zur Schau: Jedes Einzelteil ist ein Bruchstück, das für sich allein steht, die Schnitte und Trennlinien bleiben deutlich sichtbar, die Zwischenräume programmatisch leer. Diese Artefakte wollen kein unmittelbar authentischer Ausdruck sein, keine eindeutige Botschaft transportieren, kein harmonisches, organisches Werk darstellen.
Es handelt sich zwar um Postkarten, – eine Textsorte, die immerhin auf Kommunikation abzielt, die den Austausch mit anderen sucht. Doch wie wir die Bilder auch drehen und wenden: Weder ist der Text als Text sinnkohärent, noch ist es das Bild in sich, noch ist es die Beziehung zwischen beiden. Gleichwohl entsteht bei der Lektüre sämtlicher Karten ein ganzes Netz aus Themen und Motiven, die mehr oder weniger deutlich auf Erfahrungen unter einem totalitären Regime verweisen; ein roter Faden, der auch das Romanwerk Herta Müllers in signifikanter Weise durchzieht.
Formal werden die Texte schließlich nicht nur durch den Klebestift zusammen gehalten, sondern auch durch die stimmige grammatikalische Struktur, durch Rhythmus und Reime, und nicht zuletzt durch die schnurgeraden Zeilen, auf denen die Wörter angeordnet sind.

In „Der Wächter nimmt seinen Kamm“ beispielsweise finden wir einen kindlich anmutenden Abzählvers, unter dessen Oberfläche sich das blanke Grauen auftut. Hinter jedem Satz und jedem Bild scheint eine Angst zu lauern, die durch das Gitter aus Worten und Bildrahmungen nur mühsam in Schach gehalten wird. Nicht immer ist, wie in diesem Beispiel, derart explizit von einem Mord die Rede, der durch die Securitate zum Selbstmord erklärt wird. In der absurden Logik des Kinderverses zeigt sich – geradezu beiläufig – das Entsetzliche in seiner Banalität.
Andere Bildgedichte, wie das vom „Alphabet der Angst“, scheinen eher um die Unaussprechlichkeit traumatischer Erfahrung zu kreisen. Wenn die seltsamen Wohnorte, die in diesem Text auftauchen, allesamt aus fragilem Material geschaffen sind (aus Laub, Fell, Federn oder Haar), das sich bei der geringsten Erschütterung aufzulösen droht, so lässt sich dies auch als die skeptische Haltung einer Schriftstellerin der Sprache gegenüber lesen.
Denn in einem politischen System, in dem jede Aussage gegen sich selbst gewendet werden kann, in dem das Erzählen kohärenter Lebensgeschichten eine im Verhör erzwungene Maßnahme zur Erniedrigung, Einschüchterung und Überwachung darstellt, kann die Sprache keine schützende Behausung bieten. Sie muss andere, sich dem Autobiographischen verweigernde, ins Bild und ins Zitat flüchtende Wege der Artikulation suchen.
Instabile Orte und angstdurchtränkte Gegenwart bilden den unsicheren Grund, auf dem Herta Müller ihre Textgehäuse baut. Dabei scheint das Ausschneiden, Zertrennen, Bearbeiten, Ordnen und Zusammenkleben von Wort- und Bildfetzen die immer wieder aufreißenden und neu verpflasterten Wunden der subjektiven Erfahrung zu imitieren.
Herta Müller löst das traditionelle Erzählen auf in sprachmächtige Bilder und bildmächtige Worte. Das „Alphabet der Angst“ ist eines, so heißt es, in dem „nichts gerät“. Wohl aber stellt es das Material bereit, das zu einer eigenen, in sich brüchigen Ordnung zusammengefügt werden kann: zu einem Ausdruck, der sich der totalisierenden Vereinnahmung entzieht, ohne zu verstummen; zu Textbildern, die das Unsägliche eben als solches aufs Papier bringen.

Christiane Solte-Gresser, die horen, Heft 236, 4. Quartal 2009

Das Leben läßt sich nicht fangen

[…]

Axel Helbig: Ist die Beschäftigung mit den Collagen als eine Art Pause von der Prosa zu verstehen?

Herta Müller: Es hat ganz banal angefangen. Es hatte mit Literatur gar nichts zu tun. Es hat so angefangen, daß ich, wenn ich unterwegs war, keine Ansichtskarten schicken wollte, weil ich die oft so häßlich fand. Ich habe mir weiße Karteikarten gekauft. Wenn man in den Zug steigt, hat man ja ohnehin eine Zeitung dabei. Klappschere und UHU-Stift gehören zum Reisegepäck. Und so habe ich aus der Zeitung ein Bild und ein paar Wörter ausgeschnitten und auf die Karteikarte geklebt. Auf die Rückseite habe ich den Kartengruß geschrieben. Das hat sich dann verselbständigt und ich bekam immer mehr Lust, auch literarisch damit zu arbeiten. Der Blick fing an, auf Texte zu fallen, die mit Literatur nichts zu tun haben durften. Ich schneide nur aus Texten aus, die sich eindeutig als nichtliterarisch definieren lassen.

Helbig: Die ersten Collagen hatten noch einen relativ großen Bildanteil der Text korrespondierte mit dem Bild. In den letzten Collagen tritt das Bild in den Hintergrund und der Text nimmt mehr Raum ein und wird literarischer. Reime, Abzählverse, Liedformen strukturieren den Text.

Müller: Für mich sind die Bilder nicht in den Hintergrund gerückt. Das ist einfach eine objektive Notwendigkeit. Die Karten sind ja nur so groß wie eine Ansichtskarte. Und wenn der Text länger wird, muß das Bild kleiner werden. Weil es sich „literarisiert“, werden die Texte länger. Oder sie werden komplizierter.
Zu den Reimen will ich folgendes sagen. Wir haben in Rumänien unter Freunden sehr oft mit Reimen gespielt. Wir haben ganze Tage gereimt. Wenn wir zusammen waren, in unserer ganzen Verstörung und in unserer ganzen Unsicherheit, haben wir oft Gelegenheiten gesucht, uns leicht zu fühlen, wenigstens dem Anschein nach. Dann haben wir Sätze hin und her gespielt wie Ping Pong. Der eine hat etwas gesagt und der nächste mußte mit einem Reim antworten. Wenn wir uns nach Stunden trennten, hab ich im Kopf weitergereimt, weil ich nicht aufhören konnte. Der Reim macht einen süchtig.
Ich hatte früher eine sehr schlechte Meinung von Reimen. Daran war der in der Schule und am Gymnasium strapazierte Endreim Schuld. Das war wie Teppichklopfen. Später habe ich die Gedichte von Theodor Kramer und Inge Müller gelesen. Da habe ich erst gesehen, was der Reim alles kann. Der Reim ist nur dann banal, wenn vorne im Satz nichts steht.
Für mich fügen sich viele Dinge auch durch den Zufall zusammen. Ich schneide aus und merke plötzlich, hier auf dem Tisch habe ich Wörter, die reimen. Das ist dann eine Herausforderung. Dann denk ich mir, die haben sich gesucht. Mit denen muß ich jetzt etwas wachen. Dann der Versuch, dieses zu unterwandern und zu sagen, wie kann ich diesem Reim jetzt einen Sinn geben. Das sagt ja noch gar nichts, wenn zwei Wörter daliegen und die reimen zufällig. Dann auch das Verblüffende, die Frage, wie kann man den Reim verstecken. Wie kann man den Reim in den Satz tun? Wie kann man kleine Wörter reimen, hie und da? Und daß der Reim so unglaublich lange bindet. Das geht über drei Sätze und dann hat man noch ein kleines Wort. Und es ist noch immer an das kleinere vordere Wort gebunden. Und dazwischen kann unglaublich viel stehen. Und auch die Überraschung, was alles reimt. Das diktiert einem etwas. Der Reim ist ja etwas, das diszipliniert. Dann diese Disziplin zu unterwandern, inhaltlich. Das macht den ganzen Reiz der Sache aus.

Helbig: Die großen Themen ihrer Romane – Überwachung, Bespitzelung, Bedrohungs- und Angstsituationen, das Existentielle, Flucht, Exil, der Verrat durch Freunde, Beschädigung von Freundschaft −, all die Themen, die das Leben Ihnen mitgegeben hat, werden jetzt auf eine vollkommen neue Weise mit in diese Collagen hineingenommen. Das Zusammentreffen von Kinderreimen, Abzählversen und Liedformen mit paradoxen, absurden und surrealen Elementen schafft Kontraste und steigert die Wirkung der Collagentexte [s.v.a. Text + Kritik, Nr. 155].

Müller: Das stellt sich in diesen Collagen nur in komprimierterer Form dar. Ich glaube jedoch generell, daß es ohne das sogenannte Surreale, das ja vom Realen nicht zu trennen ist, gar nicht geht. Alles Erfundene, jede Phantasie hat einen Anteil an Surrealem. Auch jede Realität hat einen Anteil an Surrealem. Man einigt sich ja nur auf die Realität. Man zieht einen Kreis um irgendwelche Dinge, um sie noch in der Hand zu behalten. Es ist nur immer das Problem, wieviel gestatten wir uns, von diesem Anderen wahrzunehmen. Wieviel halten wir aus. Mit wieviel können wir im Leben, im Alltag praktisch umgehen. Wir können uns ja nicht zuviel Surreales zumuten. Sonst halten wir es nicht aus. Daß das ständig hin und her geschaukelt wird, ist eine instinktive Handhabung. Das spielt in meiner Prosa immer wieder eine Rolle. Ich habe diese Dimensionen immer gesucht, um den poetischen und den literarischen Effekt zu erreichen, den ich für einen Text haben muß. Sonst habe ich ja keine Ursache, ihn zu schreiben. Das befriedigt mich ja auch beim Schreiben, daß ich das herauszwinge.
In den Collagen sind die Texte kürzer. Deshalb stellt sich das auch viel deutlicher dar. Bei den letzten Collagen hatte ich die Ambition, kleine Geschichten zu erzählen. Kleinstgeschichten, in denen unglaublich wenig gesagt werden kann, weil die Karteikarte nur beschränkten Raum bietet. Aber es muß soviel drin sein, daß danach eine Bewegung entsteht, die auf dem Papier nicht mehr da ist. Und das führt natürlich auch oft ins Absurde. Ich habe oft Namen, Personen, mit denen der Text der Collage verbunden ist. Ich habe eine ganze Serie von Namen; ich habe eine ganze Schublade mit ausgeschnittenen Namen. Ich muß diese Person in diesem kurzen Text irgendwo hinbringen, wo es nicht mehr weiter geht. Das ist spannend. Dadurch entsteht das Absurde.

Helbig: Mit der Auflage, den Raum der Karteikarte nicht zu überschreiten, haben Sie sich eine Beschränkung aufgezwungen. Bieten das Paradoxe, das Absurde und das Surreale eine Möglichkeit, diesen Raum aufzuweiten und Platz für den verschwiegenen Satz zu schaffen?

Müller: Ja, weil der Text so kurz ist. Das, was ist, muß auch immer etwas anderes sein können, wenn man es liest. Es muß die Weite der Parabel haben. Das heißt, es muß sich auf etwas übertragen können. Auf etwas, das da nicht steht. Es muß ein Rätsel darin bleiben. Gerade weil es so kurz ist. Deshalb muß es einfach sein. Es muß so einfach klingen: damit es auch etwas anderes sein kann. Das ist ja kein Widerspruch.
Sparen an dem, was du sagst. Mehr geht nicht raus. Es ist die gnadenlose Schule der Reduktion. Das ist wichtig. Und das andere kommt überhaupt nicht in Frage. – Machmal muß ich auch ändern. Weil es nicht drauf paßt. Das ist auch schön. Dann muß ich überlegen, was kann ich auslassen, damit trotzdem alles drin bleibt. Die Sätze haben ihre Akrobatik. Es ist wie im Leben: Nur bis dahin, weiter geht’s nicht. Aufkleben. Schluß. Wenn du einen Fehler machst, kannst du ihn nicht mehr rückgängig machen.

Helbig: Die gewählte Technik zwingt zur Qualität?

Müller: Dadurch, daß ich über das ausgeschnittene Material verfügen kann, ist mir eine gewisse Leichtigkeit gegeben. Weil, ein bißchen habe ich den Eindruck, das ist ja gar nicht von mir.

Helbig: Sie schrieben einmal: „Wenn diese gedruckten Wörter ausgeschnitten auf dem Tisch liegen, fliegen sie zusammen und werden eine Geschichte. Sie lassen mich draußen und ich bin doch drin, ich kann gar nicht erklären warum… Sicher weiß man, was man will, aber im Augenblick, wenn man es tut, wird es Zufall. Man könnte Angst kriegen, wenn man sich darüber Rechenschaft gibt, wieviel an diesem Zufall liegt.“ Das erinnert stark an das, was die Surrealisten mit dem „automatischen Schreiben“ versucht haben. Breton und Soupault haben das mit der gleichen Lust betrieben wie Sie Ihre Arbeit an den Collagen.

Müller: Nur, ich habe einen ganz anderen biographischen Hintergrund. Ich hab eine dicke Beschädigung abgekriegt von einer Diktatur. Ich hab zuviel erlebt. Ich kann nicht nur spielen. Ich kann spielerisch umgehen, mit dem, was ich weiß. Aber ich kann nicht spielen. Bei mir kommt diese andere Seite dazu. Und ich will auch immer etwas. Und ich habe auch den Eindruck, ich zertrümmere nicht etwas, sondern ich setze etwas zusammen. In meinem Leben gibt es soviel Zerbrochenes. Ich habe den Eindruck, ich setze für mich etwas zusammen. Ich will nichts sprengen. Das ist, glaube ich, ein Unterschied.

Helbig: Als Breton und Soupault 1919 „Die magnetischen Felder“ schrieben, waren sie gerade aus dem Ersten Weltkrieg gekommen. Am Rekruten Soupault waren neue Impfstoffe gegen Typhus erprobt worden, wie man nach dem Krieg festgestellt hatte. Breton hatte drei Jahre lang als Hilfsarzt im Kriegslazarett Geistesgestörte von der Front, Wahnsinnige verschiedenen Grades erlebt und behandelt.

Müller: Der auch [Herta Müller weist auf ein im Raum hängendes Gemälde hin.], August Walla, der war in der Wiener Psychiatrie bei Dr. Navratil. Das ist auch einer, der im Krieg verrückt geworden ist. In Lausanne sind diese Künstler im Museum l’Art Brut ausgestellt. Es ist unbeschreiblich. Der Krieg ist bei all diesen Leuten ein klar sichtbares Thema. Die Darstellung des zerstörten Selbstverständnisses. Des zerstörten Inneren. Mich hat das tief beeindruckt. Daß eine grundlegende Beschädigung in ein programmiertes Chaos mündet, läßt sich psychologisch erklären.
Mir sagen Leute, ich würde durch das Ausschneiden etwas zerstören. In einem Land, wo die meisten Leute intakt sind, und nicht die Schäden einer politischen Drangsalierung erlitten haben, wird seltsamerweise vom Zerstören geträumt. Ich träume nicht vom Zerstören. Ich träume vom Zusammensetzen des Zerbrochenen. Das muß ich immer wieder korrigieren. Auch der Vergleich mit Erpresserbriefen kommt. Nein! Was sind das für Konnotationen?! Warum stellen die Leute solche Verbindungen her?! Es könnten ja auch Flugblätter sein oder irgendetwas anderes. Die Konnotation Erpresserbrief würde mir überhaupt nicht in den Sinn kommen. Ich kann in diesen Kategorien überhaupt nicht denken. So etwas fällt mir gar nicht ein.

Helbig: Wenn Sie Urlaub machen, reist dann das ganze Wortereservoir mit?

Müller: Wenn ich verreise und nach einigen Tagen zurückkehre, vergeht keine halbe Stunde und ich sage mir: Jetzt muß ich an meine Wörter. Wenn ich länger weg bin, vergehen keine zwei Wochen und ich habe eine neue Werkstatt, egal, wo ich bin. Ich kaufe mir den SPIEGEL und Zeitungen, und dann fange ich an auszuschneiden, und in zwei Wochen habe ich alles voll – zuerst das Nudelbrett und dann das Hackbrett und dann die Schubladen. Wenn ich jedoch an einer längeren Prosa sitze, muß ich damit aufhören. Dann muß ich das vergessen für zwei Jahre. Ich kann nicht beides machen, das geht nicht nebeneinander her. Weil, das frißt natürlich alles, was ich an innerem Bedürfnis habe, mich mit dem Schreiben zu beschäftigen. Aber, ich merke sehr oft, wenn ich dann eine Prosa schreibe, daß vieles, was da ist, wiederkommt. Weil es in den Collagen so kurz abgehandelt ist. Z.B. den Titelsatz meines Romans Heut wär ich mir lieber nicht begegnet habe ich Jahre vorher in einer Collage verwendet. Später kam ich von einer ganz anderen Seite auf diesen Satz zurück. Das ist verrückt, wie solche Dinge sich einhaken. Irgendwann kommen Sachen wieder, an die ich in der gebotenen Kürze der Collage so nicht herangekommen bin, wie ich herangekommen wäre, wenn ich einen Roman geschrieben hätte.

Helbig: Kommt der Impuls, der zu den Texten der Collagen führt, allein aus dem Wortereservoir? Oder gibt es noch andere Momente des Sich-Aufladens? Zum Beispiel das Lesen von Lyrik oder das Gespräch mit Kollegen.

Müller: Ich lese Lyrik. Aber das ist kein Aufladen. Das Bohren fängt ganz woanders an. Das Gespräch mit Kollegen ist für mich wenig ergiebig. Ich müßte überhaupt keine Schriftsteller kennen. Wenn ich doch welche treffe, dann sind es Leute, die den Kopf frei haben für andere Sachen. Wir reden nicht über die eigenen Sachen. Das ist für mich ein Grundprinzip. Ich mag es auch nicht, wenn Schriftsteller ständig darüber reden, was sie jetzt gerade schreiben und wie sie es schreiben. Und die Krise kommt ja dann bald… Ich mag das alles nicht hören. Ich mag das nicht sagen und ich mag es auch nicht hören. Das hat im Gespräch nichts zu suchen. Das ist vielleicht auch eine Gewohnheit. Ich kannte in Rumänien außer meinen engen Freunden kaum jemanden. Und die arbeiteten beruflich in ganz anderen Bereichen – als Chemiker und Schweißtechnologen, als Ärzte und Musiker und was weiß ich. Die waren für mich viel interessanter als Schriftsteller. Vorlesen kann man seine Sachen und auch darüber diskutieren. Aber es wäre mir unerträglich, ständig mit Kollegen über das Schreiben als Vorgang zu reden. Meistens wird es ja auch mystifiziert… wann und welche Uhrzeit, ob mit Bleistift oder Kugelschreiber… Ich mag das nicht, wenn Schriftsteller hochstaplerische Allüren haben. Wenn wir das Banale nicht mehr in uns selber empfinden, dann können wir abdanken. Denn, wir leben davon, das ist unser Material. Ich kannte das auch nicht aus Rumänien. Es ist wohl in Deutschland so, weil hier so viele Schriftsteller freiberuflich sind.
Ich war im vorigen Jahr eine Weile am Leipziger Literaturinstitut. Das Problem der dortigen Studenten ist, daß sie nicht gelebt haben. Sie haben keinen Fuß in der Realität, sie haben keine Themen. Weil sie nichts wissen, nichts erfahren, nichts kennen. Das ist ein großes Problem. Das ist fast das Hauptproblem. Und das hat mit der Lebensweise zu tun und mit der Definition des Schriftstellers. Das wird sich auch auswirken. Die wissen nicht, worüber sie schreiben sollen. Weil sie nicht in die Normalität gehen. Weil sie meinen, sie könnten außerhalb anfangen und den Blick von außen nach innen richten. Nein, ich glaube, man muß drin sein. Und man muß auch speichern, im Kopf, ohne daran zu denken, daß darüber geschrieben werden könnte. Dort setzen sich die Dinge fest. Nicht an der Stelle, wo ich mir etwas vornehme, sondern umgekehrt. Wenn sie stattdessen bei einer Bank arbeiteten, würden sie sehen, was ein Bankangestellter macht, wie, meinetwegen, ein Bankangestellter kaputt geht. Oder ein Busfahrer, oder ein Arzt.
[…]

23.3.2003

Ostragehege, Heft 30, 4.7.2003

Wörter, die leuchten 

– Der Tag an dem Herta Müller Nobelpreisträgerin wurde. –

Als am Donnerstag der schwarze Volvo vor dem Wohnhaus Herta Müllers in Berlin-Friedenau zum Stehen kommt, wird er sofort von Journalisten, Kameraleuten und Fotografen umringt. Über eine Stunde ist seit der Bekanntgabe der Nobelpreisträgerin vergangen. Herta Müller ist nicht zu Hause oder macht die Tür nicht auf. Und jetzt also endlich: der Volvo. Sie kommt kaum heraus, vor lauter Gedränge, die Dame auf dem Beifahrersitz. Dann endlich ihr Auftritt: Glückwünsche, Blumen, Sprachengewirr. Eine Journalistin ruft ihrer Kollegin zu:

Na hoffentlich spricht sie nicht Rumänisch mit uns. Sonst versteh ich doch nichts.

Die Kollegin hätte ihr helfen können. Sie war von ihrem Auftraggeber, einer Berliner Boulevard-Zeitung, extra geschickt worden, weil sie Rumänisch spricht, und hatte Herta Müller schon als Erste eine Glückwunschkarte auf Rumänisch durch den Türschlitz geworfen.
Die Verwirrung nimmt zu, die Dame mit den langen dunklen Haaren hat jetzt eine Weile Glückwünsche entgegengenommen, doch als die ersten Radioreporter sie ins Mikrofon hinein fragen, wie sie sich fühle, ob sie damit gerechnet habe und ob sie den Preis für Deutschland oder für Rumänien gewonnen habe, da wird ihr langsam klar, dass eine Verwechslung vorliegen muss. Nein, sie sei nicht Herta Müller, sie sei gekommen, um zu gratulieren. Doch dringt sie mit der Richtigstellung nicht recht durch, die Leute wollen Herta Müller sehen und sind nicht so schnell bereit, die scheinbar glücklich aufgetauchte Nobelpreisträgerin wieder herzugeben. Außerdem kann es ja sein, dass sie es doch ist, dass sie einfach leugnet, Herta Müller zu sein, um in Ruhe feiern zu können, ohne Journalisten. Aber nicht mit ihnen! Sie wird dann noch auf Englisch und Französisch gefragt, wie sie sich fühle, mit diesem tollen Preis, und die Dame ist jedes Mal aufs Neue erstaunt, dass sie das Missverständnis nun offenbar in allen Weltsprachen nacheinander aufklären muss. Dass sie nicht sagt, wer sie – statt Herta Müller – wirklich ist, macht sie in allen Sprachen verdächtig. Nur ein Mann steht lächelnd daneben, der Korrespondent der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter. Er kennt die Dame. Sie ist die Botschafterin von Schweden.
Herta Müller sitzt währenddessen in ihrer Wohnung. Vielleicht feiert sie schon ein bisschen so für sich oder mit ihrem Mann, vielleicht telefoniert sie mit Freunden, sicher sieht sie immer mal wieder kurz durchs Fenster hinunter auf die Straße. Leider hört sie nichts von dem herrlichen Verwechslungstheater um die schwedische Schein-Herta-Müller. Es hätte ihr gefallen. Es ist ein bisschen wie eine Szene aus ihrer eigenen Buchstabenwelt, aus der Welt ihrer ausgeschnittenen Wörter, die sie immer wieder aus Zeitschriften, Frauenzeitschriften meist, oder aus dem Spiegel heraustrennt und neu zusammensetzt, zu neuen Wörtern, neuen Sätzen, einer neuen Welt, und auf Postkarten klebt: „Das ist beim Ausschneiden schön“, hat sie einmal gesagt, „du hast zwei ganz gewöhnliche Wörter und nimmst einen Teil von dem einen und einen von dem anderen, und schon hast du ein unerhörtes neues Wort. Wenn es glückt, dann kann man diesen Schock produzieren, der durch das Zusammenkommen von Wörtern entstehen kann.“ Und plötzlich ist Herta Müller eine Schwedin, die Rumänisch spricht für einen Moment. Jemand hat die Welt neu zusammengesetzt für einen Moment. Und jemand lacht.
Spätestens am nächsten Morgen wäre eine solche Szene ja nicht mehr möglich gewesen. Am nächsten Morgen war Herta Müller weltberühmt, ihr Bild war weltberühmt, und die meisten Zeitungen sahen auf ihren ersten Seiten beinahe so dunkel-feierlich-bedrückt aus, als wäre jemand gestorben. (Außer jener Berliner Boulevard-Zeitung mit der rumänischen Reporterin. Die titelte jubelnd: „Berlins neuer Herta-Star!“) Sonst überall eine ernste Dame in Schwarz, daneben in großen Buchstaben die Wörter „Securitate“, „Exil“, „Verfolgung“, „Lager“. Als wäre da wieder mal ein Preis für ein hartes Leben vergeben worden, ein Mitleidspreis für starke Trauer. Aber erstens ist das falsch, und zweitens ist das ganz falsch, und drittens ist es richtig. Wer Herta Müller einmal erlebt hat, als sie gerade mal keinen Nobelpreis bekam, der kennt eine blitzschnelle, blitzschlaue, streitfreudige kleine Dame mit ungeheurer Lachbereitschaft und Pointenfreude. Und auch ihr Werk ist vor allem und zuallererst ein Werk der Schönheit, der schönen Sprache, schönen Worte, der schönen Melodie; eine alte Welt aus Wörtern, in die Luft geworfen, klingt plötzlich neu und sonderbar.
Aber natürlich fußt das Werk auf einem Fundament des Schreckens, des Terrors und der Angst. Herta Müller, 1953 als Angehörige der deutschsprachigen Minderheit in Nitzkydorf, im rumänischen Banat geboren, war früh entschlossen, nicht mitzumachen. Ihre Mutter war von den siegreichen Sowjettruppen, die das faschistische Regime Rumäniens besiegt hatten, in ein Arbeitslager im Osten deportiert worden, in dem sie fünf Jahre am Rande des Todes, am Rande des Lebens arbeitete und hungerte. Über ihren Vater schrieb Herta Müller:

Er hasste die Feldarbeit und wurde, als er 1945 aus der SS nach Hause kam, Lkw-Fahrer und Alkoholiker.

Herta Müller arbeitete nur kurze Zeit als Lehrerin. Als sie sich weigerte, mit dem Geheimdienst der Securitate zusammenzuarbeiten, verlor sie ihren Beruf und alle Sicherheit. Sie wurde bedroht, bespitzelt und zermürbt. Früh fing sie das Schreiben an, immer heimlich. Abends trug sie die beschriebenen Blätter in den Kleidern oder in den Schuhen zu einer Freundin, die Ingenieurin für Schweißtechnologie war und an Literatur nicht interessiert. Die vergrub die Blätter bei sich im Garten.
Unendlich lange dauerte es, bis ihr erstes Buch Niederungen in Rumänien erscheinen konnte, verstümmelt, zensiert, nicht mehr ihr Buch. Das war 1982. Unzensiert und ganz erschien es in der Bundesrepublik zwei Jahre später und machte sie hier schon ein wenig bekannt. 1987 schließlich durfte sie ausreisen, und die große Zeit der Schriftstellerin Herta Müller begann.
Immer wieder stand sie in ihrer Wohnung zwischen Buchstaben und Wörtern. Als Stipendiatin in der Villa Massimo bat sie die Putzfrau, nicht zu kommen, sie mache lieber alles selber sauber. Denn „die Worte hatten sich dabei in unerlaubte Dimensionen ausgedehnt, zuletzt konnte man nur noch auf einem Katzenweg rauf- und runtergehen.“ Sie klebte Gedichtbücher, die aussahen wie Erpresserbriefe und klangen wie unerwartetes Glück. Und sie schrieb Romane, in denen sie die Angst, den Verrat, das zitternde Leben an der Grenze zum Wahn in der rumänischen Diktatur umkreiste. Das Lernen des Widerstands aus den Büchern, den verbotenen oder kaum zu beschaffenden deutschen Büchern und Zeitungen. Die Angst überall, verfärbt die Welt: „Sie liegt frei herum, man sieht sie auf den Gegenständen, die in der Nähe sind“, schreibt sie in Herztier, ihrem bis vor Kurzem bekanntesten Roman, der 1994 erschien. Der beste war Der Fuchs war damals schon der Jäger, das Buch einer Freundschaft in den letzten Jahren der Ceausescu-Diktatur. Kann die Sprache ein Leben retten? Sicherheit geben? Können Wörter so lange einen Abgrund beschwören, bis er ausgepolstert ist? Oder wenigstens warnend leuchtet? Ja, das geht. Und die Schule der Knappheit, die im Ausschneiden und Aufkleben von Gedichten auf Postkarten gelernt wurde, findet Verwendung auch im Roman. So kurz und kalt und schön kann eine Liebesgeschichte enden, bevor sie beginnt:

Eines Tages vor zwei Sommern rief eine Stimme unten laut Adinas Namen. Adina ging ans Fenster. Ilije stand dicht an der Petunienseite des anderen Wohnblocks. Er hob den Kopf und schrie hinauf: für wen blühen die. Und Adina schrie hinunter: für sich.

Trotz all der Schönheit und des Wörterwerfens in die Luft wäre der ewige Romankreisel um die Ceausescu-Zeit herum auf die Dauer doch sehr eng geworden und immer enger. Mit ihrem neuesten Buch, dem Roman Atemschaukel, hat sich Herta Müller aus diesem engen Kreisel befreit in die Vergangenheit hinein. Die Vergangenheit ihrer Mutter, die Vergangenheit vieler Rumäniendeutscher, die die Sowjets in ihre Lager sperrten, vor allem aber die Vergangenheit ihres großen, alten Dichterfreundes Oskar Pastior, der vor zwei Jahren starb. Es ist vor allem seine Geschichte, und Herta Müller hat mit diesem Buch ihre Kunst noch einmal in eine andere Dimension gehoben. Eine echte Nobel-Dimension. So spricht Erinnerung, wenn sie lebendig ist. Es schnürt einem die Kehle zu und macht Luftsprünge aus Wörtern. In Bildern, Namen, Eigenheiten, kurzen Blicken in diese dunkle Welt. Und es ist neben all dem Hunger, dem Elend, dem Sterben im Lager unglaublich viel vom Glück die Rede. Vom Lagerglück und Mundglück und Kopfglück und dem „Eintropfenzuvielglück“, das ist das Glück kurz vor dem Tod.
Vieles davon hatte er erlebt, Pastior, den sie immer „Oskarchen“ nannte, liebevoll. Wenn man ihn in seinem Zimmer besuchte, kurz vor seinem Tod, dann bot er dem Besucher einen Thron aus dunklem Holz an, der etwas wackelte. Dazu sagte er:

Hier sitzt sonst immer Herta Müller.

Sie kam einmal pro Woche, und er erzählte ihr seine Geschichte, sie wollten das Buch gemeinsam schreiben, sie fuhren auch gemeinsam hin, zu den Trümmern des Lagers, Pastior war enttäuscht, dass alles kaputt war. „Ganz umsonst geschuftet“, hat er gesagt, und er hat unglaublich viel gegessen auf der Reise. Weil er „dem Essen die Ehre erweisen muss“, hat er gesagt. Und er holte dicke Notizbücher hervor in seinem dunklen Zimmer, mit Zeichnungen darin, Grundrisse des Lagers, Entwürfe, ganze Seiten waren wieder durchgestrichen darin. Er freute sich unglaublich auf das fertige Buch, auf diese Geschichte.
Er hat es nicht mehr erlebt. Wie gut hätte es ihm gefallen. Was für ein schöner, langer, unglaubwürdiger Weg von den frühen beschriebenen Blättern in den Schuhen Herta Müllers, von dem dunklen Zimmer Oskar Pastiors hinüber auf die Straße mit den Kameras, dem Volvo und der falschen Herta Müller. Es ist fast wie: Literatur. 

Volker Weidermann, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.10.2009

Ruprecht Volz: Die Funktion der Collage bei Herta Müller. Die Ausstellung WortBild Künstler.

Christina Rossi: Herta Müller schnitt Wörter und Bilder aus Zeitungen und machte daraus Kunst. Nun sind einige ihrer frühesten Collagen entdeckt worden
Neue Zürcher Zeitung 11.3.2019

„… Der Wind stellt seine Tasche in ein anderes Land…“ – Herta Müller. Collagen. Ausstellung in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt vom 29.11.2019 – 28.3.2020

 

 

 

 

HERTA MÜLLER

Für die Angst

Lass dir von der Mutter sagen:
Angst das ist ein Rudelhauf
Angst frisst kleine Mädchen auf
Angst schiebt immer Knast im Magen

Mut, der sich nicht traut
wird geschluckt und leicht verdaut

ach Mutter, spricht drauf die Zittermaus
lass besser mich die Angstmaus sei
verriegle rasch mein Kämmerlein
mein Mut sieht ganz wie Fürchten aus

Peter Wawerzinek

 

DIE JOPLIN. GESCHICHTE
Für Herta und Richard

Da kommt Janis,
die sirrenden Schnitten vom Herz
unterm Arm.
Sie klappert den Gaumen der Nacht ab.
Hohes Gift, das sie frißt. Draus
ein Lied, aus dem Schrei,
aus dem Gedärm unsrer Welt
eine Stimme, Schweiß zu den Sternen.

Schau meinen Bauch, boy, meine
zerfetzte Stille.
Gebär dich doch selber, fuck you.
Wacher der Rausch, das Leben
rapid abgekeucht.

Lautlos, im Zeitlupentempo,
rollen die sechziger Jahre davon.
Wie weiße Finger,
das Rückgrat entlang.

Rolf Bossert

 

 

Herta Müller: Schubladen und Buchstaben

Ein Verkaufsprojekt der Collagen von Herta Müller

 

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach stellt Collagengedichte von Herta Müller aus ihrer Sammlung vor

Zum 60. Geburtstag der Autorin:

Peter Mohr: Radikaler Ernst und spielerische Heiterkeit
Rhein-Neckar-Zeitung, 17.8.2013

Michael Braun: „Freiheit des Wortes“
Konrad Adenauer Stiftung, 13.8.2013

Zum 65. Geburtstag der Autorin:

Arno Widmann: Sie liefert sich aus
Frankfurter Rundschau, 17.8.2018

Joachim Dicks: Herta Müller zum 65. Geburtstag
NDR.de, 16.8.2018

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Cornelia Geißler: Die gestohlene Lebenszeit zurückstehlen
Frankfurter Rundschau, 16.8.2023

Lothar Müller: Das Wort ist nicht verhandelbar
Süddeutsche Zeitung, 16.8.2023

Joachim Dicks: Herta Müller – Literaturnobelpreisträgerin wird 70 Jahre alt
ndr.de, 17.8.2023

Maria Renhardt: Wie behält man seine Würde?
Die Furche, 16.8.2023

Peter Mohr: Angst dressiert
titel-kulturmagazin.net, 17.8.2023

Stefan Kister: Spiegelschrift der Freiheit
Stuttgarter Zeitung, 14.8.2023

Gerd Roth: Über die „Zerstörung des Individuums“
Berliner Zeitung, 16.8.2023

Tilman Spreckelsen: Die Angst, den Verstand zu verlieren wie ein Taschentuch
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.8.2023

Ronald Pohl: Die unbequeme Sprachartistin Herta Müller wird 70 Jahre alt
Der Standart, 17.8.2023

Paul Jandl: Als die spätere Nobelpreisträgerin Herta Müller 1987 aus Rumänien ausreisen durfte, unternahm das Regime einen letzten Versuch, sie zu vernichten
Neue Zürcher Zeitung, 17.8.2023

Anton Sterbling: Moralisch unbeugsam, literarisch unverwechselbar: Der Schriftstellerin und Regimekritikerin Herta Müller zum 70.
Siebenbürgische Zeitung, 17.8.2023

Anton Sterbling: Herta Müller, der aus dem Banat stammenden Literaturnobelpreisträgerin zum 70. Geburtstag
Deutsche Zeitung, 19.8.2023

Cristian Stefanescu: Schreiben gegen die Angst – Herta Müller wird 70
Deutsche Welle, 17.8.2023

Joachim Dicks: Herta Müller – Literatur-Nobelpreisträgerin wird 70 Jahre alt
ndr.de, 18.8.2023

Michael Krüger zum 70. Geburtstag von Herta Müller
hr2.de, 17.8.2023

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Die Hertamüller“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Müller, die“.

 

Herta Müller bei Sternstunde Philosophie im Januar 2011.

1 Antwort : Herta Müller: Der Wächter nimmt seinen Kamm”

  1. Redaktion sagt:

    Herta Müller

    1953 bin ich in Nitzkydorf geboren, das Jahr, in dem Stalin körperlich starb – geistig lebte er noch viele Jahre. Das Dorf liegt im rumänischen Banat, zwei Autostunden zu Belgrad oder Budapest. Eine Bauernbevölkerung, weiße, rosa, hellblaue Giebel – oder Triangelhäuser in symmetrisch laufenden Straßen. Mein Vater haßte Feldarbeit und wurde, als er 1945 aus der SS nach Hause kam, LKW-Fahrer und Alkoholiker. Auf Feldwegen geht das zusammen. Meine Mutter war und blieb Bäuerin auf den Mais- und Sonnenblumenfeldern. Mais ist für mich die sozialistische Pflanze schlechthin: er hat Fahnen, wächst in Kolonnen, raubt den Blick, und seine Blätter schneiden bei der Arbeit in die Hände. Im Maisfeld wird man an einem einzigen Tag vom Kind zum Greis. So erkläre ich mir, daß meine Mutter schon mit Ende zwanzig für mich eine alte Frau war.
    Sturheit in der Schufterei, Ethnozentrismus und keinerlei Reue für die Beteiligung an den Verbrechen des Nationalsozialismus – es sind die drei Grundeigenschaften dieser deutschen Minderheit, aus der ich komme. Ich wurde fürs Weiterführen dieses Lebensmusters erzogen: Waschen, Putzen, Kühemelken, Strümpfe stopfen. Nebenbei fiel der Satz: „Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, wäre hier Deutschland.“ Aber um welchen Preis?
    Bücher gab es keine im Haus, nur Gebetbücher und von meinem im Krieg gefallenen Nazionkel Die deutsche Lebensschule.
    Von Frühjahr bis Spätherbst mußte ich Kühe hüten im Flußtal. Das Tal war zu groß. Das Wort „Einsamkeit“ gibt es im banater Dialekt nicht, also war ich das Adjektiv „allein“, und das spricht sich im Dialekt „alleenig“ aus – das klingt wie „wenig“. Aus diesem Tal weiß ich, daß Pflanzen die Einsamkeit verkleinern, weil sie stehen. Und daß Tiere sie vergrößern, weil sie gehen. Und daß Wolken am Himmel das Gespür zu groß machen und den Verstand zu klein.
    Mit 15 ging ich aufs Gymnasium nach Temeswar und mußte einsehen, daß diese deutsch-dörfliche Erziehung 30 km weiter, in der Stadt, nichts taugte. Daß ich dies Dorf nie mochte, wurde mir klar, dennoch hatte ich zwei Jahre großes Heimweh – das ist kein Widerspruch. Ich lernte schnell Rumänisch, wollte ein Stadtmensch sein. Ich begann Bücher zu lesen. Das wichtigste: Eugen Kogons Der SS-Staat. Ich las das Buch mit Angst, daß der Name meines Vaters in der nächsten Zeile steht, weil er mir nichts vom Krieg erzählte, die Rumäniendeutschen aber als KZ-Wächter in dem Buch vorkamen. Durch das Buch begriff ich aber auch, daß ich jetzt so alt bin wie mein Vater als SS-Soldat und das Land um mich herum eine andere Art Diktatur ist.
    Nach dem Gymnasium studierte ich Germanistik und Rumänistik. Ich stieß auf Gleichaltrige, die viel lasen und selber schrieben. Sie wurden meine engsten Freunde und waren bereits in den Fängen de Geheimdienstes. Denn sie hatten die „Aktionsgruppe Banat“ gegründet und ein Programm formuliert, das die dienende Literatur jeder Couleur ablehnte: die Heimatliteratur, die Nazi- und Stalindienerei, den sozialistischen Realismus. Statt dessen verlangten sie den kritischen Blick und individuelle, moralische Verantwortung als Voraussetzungen fürs Schreiben. Das war ein Affront gegen die meisten Schriftsteller im Land und gegen das Regime. Es folgten Verhöre, Haussuchungen, Exmatrikulation von der Uni und Verhaftungen. Die Gruppe wurde zerschlagen. Da ich selber nicht schrieb, beäugte man mich schief, man tat mir noch nichts.
    Nach dem Studium wurde ich Übersetzerin in einer Maschinenbaufabrik. Mein Vater starb, meine erste Ehe war dahin, ich begann, um zu begreifen, wer ich bin, die Niederungen zu schreiben. Und der Geheimdienst begann seine Besuche in der Fabrik: Drohungen, auch mit dem Tod. Nach einer Woche zeigte sich, man wollte mich weich machen, ich sollte eine IM-Erklärung schreiben, der Geheimdienstler diktierte. Ich weigerte mich und wurde entlassen und hatte ab dem Tag nur wenige Tage ohne Schikanen. Ohne Arbeit gehörte ich zu den „parasitären Elementen“ und dafür gab’s Zwangsarbeit oder Gefängnis. Man drohte mit beidem, ließ mich aber frei herumlaufen.
    Vier Jahre lag Niederungen bei einem Bukarester Verlag, 1982 erschien das Buch von der Zensur verstümmelt. Zwei Jahre später erschien es im West-Berliner Rotbuch Verlag, es war mir gelungen, das Manuskript in den Westen schmuggeln zu lassen. Die Literaturpreise in Deutschland veränderten mein Leben. Ich durfte vier Mal zu Preisverleihungen in den Westen. Um nicht Aushängeschild zu sein, konnte ich die Reisen nur annehmen, wenn ich im Ausland sagte, was zu Hause passiert. Daran hielt ich mich. Ich kehrte vier Mal nach Rumänien zurück, für meine Freunde war das wichtig. Mein Wegbleiben hätte man gegen sie verwenden können.
    1985 war an ein Leben in Rumänien nicht mehr zu denken, das Regime schien ewig zu halten, ich aber war mit den Nerven am Ende. Ich verwechselte das Lachen mit dem Weinen, das Schweigen mit dem Reden. Ich schrie laut in den Straßen herum, galt als verrückt, war aber noch haarbreit normal. Ich beantragte die Ausreise, die man mir bei Verhören öfter angeboten hatte, um mich los zu werden. Ich hatte jedesmal abgelehnt, meinend: „Es müßte nur Ceauçescu gehen, dann könnten alle anderen bleiben.“ Jetzt wollte ich. Ich verweigerte die für Rumäniendeutsche übliche „Familienzusammenführung“ und bestand auf der Ausreise aus politischen Gründen. Nach anderthalb Jahren ließ man mich gehen, meine Mutter wurde mitgepackt.
    1987 kam ich in Nürnberg an, 29. Februar hatten mir die Rumänen in die Papiere geschrieben. In dem Jahr hatte der Februar aber nur 28 Tage. Die Rechnung des rumänischen Geheimdienstes ging auf, die Deutschen machten mir deswegen Schwierigkeiten. Aber auch, weil ich auf politische Verfolgung bestand und keine Aussiedlerin sein wollte.
    Der erste Blick aus dem Fenster im Nürnberger Übergangsheim fiel auf Hitlers Parteitagsgelände. Ich dachte: aus der Familie der Täter ins Land der Befehlsgeber. Mit dem Bundesnachrichtendienst mußte ich drei Tage über mein Leben reden, meine Mutter und die anderen angekommenen „gewöhnlichen“ Deutschen zwei Minuten. Ich sollte mich entscheiden, ob ich eine Deutsche bin oder politisch verfolgt. Nach dem Übergangsheim zog ich nach Berlin, wo ich heute lebe. Meine Mutter bekam den deutschen Paß nach drei Monaten, ich nach anderthalb Jahren, es seien „eindringliche Recherchen“ nötig, sagte man mir.
    Es ist, als ob man sich als Uhr mitbringen würde aus einem anderen Land. Ihre Zeiger habe ich schnell auf hiesige Zeit gestellt, mich im Alltag schnell angepaßt. In der U-Bahn, im Supermarkt will ich eine hiesige Deutsche sein, habe ich doch den deutschen Paß. Aber wenn ich schreibe, dann pfeife ich darauf, dann zählen nicht die Zeiger – es tickt die Unruh aus der Uhr.
    Ich hab gesehen, wie Menschen zerbrechen in so vielen Arten von Unglück. Zwei meiner liebsten Freunde hat der Geheimdienst umgebracht. Ihr Verbrechen: Sie haben Gedichte geschrieben, sehr schöne sogar. Ich hab viel Glück gehabt, sonst wäre ich heute nicht hier. Daß ich hier aufgenommen wurde, bedeutet mir viel, darum muß ich diese Freunde gerade jetzt erwähnen. Vielleicht hat das Glück mich verwechselt, weil ich ja selber meist nur wußte, was ich nicht sein will und fast nie wußte, was aus mit werden könnte. Schneiderin oder Friseuse, das wünschte ich mir sehr. Geklappt hat es damals nicht und ist heute wohl zu spät.

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