Ilma Rakusa: Leben

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ilma Rakusa: Leben

Rakusa-Leben

SCHNEE

Sieh: C-hina niest. Evasive Ernte
schön cito. Heute nacht erst eingebracht.
Seither, crescendo: Haufen. Nickelweiss, eisig, ehrlich
stumm. City hat Natur. Eile? Es
schneit. Havarien nehmen ein Ende.
Soziales C-haos narrt. Einfach erdwärts,
Stossrichtung Couch. Hausruhe nach ewigem
aaaaaEiertanz.
Schein-Codes halten nicht, entlarvt ersticken
sie. Cis, höchste Note, erkling elfisch!
Sonorer C-hor niemands −

 

 

 

Rakusas 1990 erschienene Gedichtsammlung Leben,

löst das Versprechen des Titels nun auf besondere Weise ein; es ist ein Spiel mit Buchstaben: Der Band enthält fünfzehn akronyme Texte, in denen die Anfangsbuchstaben der Wörter innerhalb jeder Zeile den Buchstaben des Titelwortes entsprechen. Das Ganze steht ja auch schon im Kleinsten auf dem Spiel: „Alles beginnt mit dem Detail“.

Walter Schmitz, Aus: Das Ich im Netz der Sprache, In: Ilma Rakusa: Zur Sprache gehen, Thelem, 2006

Schreiben (Scribo, ergo sum)

Wie bist du zum Schreiben gekommen?

Das fing früh an, aus der Begegnung mit Literatur. Meine Mutter las mir oft vor, Märchen und Gedichte, und ich konnte mich nicht satt hören. Mit sechs las ich selbst, verschlang ein Buch nach dem anderen. Mich faszinierte die Parallelwelt der Bücher und die Macht der Sprache. Und wie von alleine erwachte der Wunsch, schreibend eigene Welten zu erschaffen.

Wurdest du gefördert?

Ich wuchs mit Büchern auf, also in einem literaturaffinen Umfeld. Und hatte schon in der Grundschule Glück mit meinem Lehrer: er ließ uns häufig Aufsätze schreiben und erkannte mein Talent.
Mein erstes Gedicht schrieb ich erst mit vierzehn, auf dem Friedhof von Kilchberg, wenige Meter von Thomas Manns Grab entfernt. Wobei Thomas Mann keine Rolle spielte, sondern der Ort: bei schönem Wetter hat man eine wunderbare Sicht auf die Berge. Außerdem inspirierte mich die Skulptur eines Mannes mit zum Himmel gereckten Armen. Ausdruck einer metaphysischen Sehnsucht, die mich sachte umtrieb. Aus einem Gedicht wurden dann mehrere, es entstanden Zyklen. Doch behielt ich alles für mich. Auch das Tagebuchschreiben, mit dem ich gleichzeitig begann, blieb mein Privatissimum. Man könnte sagen, dass ich schreibend erwachsen wurde, mich selbst und die Welt entdeckte. Genauer, schreibend – und lesend, denn Bücher waren meine ständigen Gesprächspartner. Shakespeare, Baudelaire, Rimbaud, Gryphius, Hölderlin, Rilke, Celan, Mandelstam, um nur einige Dichter zu nennen.
Die Lyrik hat es mir am meisten angetan, als die klangvollste und knappste literarische Gattung. Mit Gedichten habe ich auch debütiert, zuerst in Zeitschriften, dann im Band Wie Winter. Im Grunde kann ich nichts anderes, selbst meine Prosa ist lyrisch.

Was gibt den Ausschlag, ob ein Gedicht oder ein Prosatext entsteht?

Das hat mit dem Thema oder Stoff zu tun. Momentaufnahmen, „Stilleben“, emotionale Flashs gehören ins Gedicht, wird etwas erzählerisch und erfordert einen größeren Raum-Zeit-Horizont, entsteht Prosa. Natürlich können auch Gedichte mitunter narrativ sein und Zyklen bilden, doch das kommt bei mir selten vor. Im Regelfall kündigt sich ein Gedicht durch einen Rhythmus an, dann weiß ich, dass ich scharf nach innen hören muss.

Interessiert dich die Sprache mehr als die Stoffe?

Sie interessiert mich vital, und ich vertraue ihrer Eigendynamik. Für spannende Plots bin ich nicht zuständig, für sprachliche Bewegungen schon. Die Sprache ist für mich nicht nur der Gradmesser, wie Menschen kommunizieren, sondern Indiz für Sensibilität und ein feines Gehör. Außerdem ist sie – Klang, ein wunderbares Klanginstrument.

Siehst du die Verantwortung des Schriftstellers im Bereich der Sprache?

Auf jeden Fall. Wer, wenn nicht der Schriftsteller muss wissen, wie er spricht. Wobei die Inhalte selbstverständlich auch zählen. Mein Augenmerk gilt den kleinen Dingen, denn in ihnen spiegeln sich auch die sogenannt großen. Das Augenmerk muss aber präzis sein. Und das Gesagte erst recht.

Bedeutet Schreiben für dich Leben?

Schreiben ist Schreiben, eine Art Parallelexistenz, die meine reale Existenz allerdings bis ins Detail prägt. Mit etwas Übertreibung könnte ich sagen: Scribo, ergo sum. Ich schreibe, also bin ich. Tatsächlich kann ich mir schwer vorstellen ohne Schreiben leben zu müssen. Was aber nicht heißt, dass Schreiben für alles kompensiert. Es gibt Dinge, die sich durch Schreiben weder lösen noch therapieren lassen. Da muss man andere Ansätze suchen.
Schreiben bedeutet: Arbeit und Kopfzerbrechen, Ausdauer und Einsamkeit, Trost und Glück. In einer Mischung, die keiner Gesetzmäßigkeit unterliegt. Aber ich möchte es nie und nimmer missen.

In Mehr Meer verweist du auf die Parallele von Schreiben und Schreien. Wie meinst du das?

Das Schreiben kann Selbstgespräch und Protokoll, Anrufung, aber auch Aufschrei sein. Indem sich tief innen etwas löst und nach außen drängt. Heftig, verzweifelt, fast unkontrolliert. Wie ein Hilferuf oder Protestschrei. Doch ist das Schreiben auch mit dem Schweigen verschwistert, wenn es ins Offene mündet oder mit Aussparungen arbeitet. Im Schweigen findet das Gesagte/Geschriebene seinen Echoraum. Es ist darum falsch, Schweigen als bedrohlich abzutun.

Die Rhythmen, die du als Anfang eines Gedichts bezeichnest, kommen sie aus dem Schweigen?

Genau. Da ist Stille, Windstille, und plötzlich beginnt sich etwas zu regen. Aus dieser rhythmischen Regung formen sich Laute, aus den Lauten nach und nach Wörter. Und diese Wörter ziehen andere an – nach klanglichen oder semantischen Gesichtspunkten. Ein kaum beschreibbarer, ziemlich rascher Vorgang. Letzten Endes unausdeutbar. Lassen wir dem Schreiben einen Gran Geheimnis.

Geheimnis klingt schön. Aber zum Schreiben gehören doch auch Struktur und Konstruktion.

Sicher. Es ist kein Zufall, dass ich mich immer wieder an strengen Gedichtformen versucht habe, an Neunzeilern und Akronymen. Strukturen sind Trigger für die Kreativität. Sosehr der Schreibprozess selbst einem Tasten mit offenem Ausgang gleicht, sosehr brauche ich, um mich auf diesen Vorgang einzulassen, die Idee einer Konstruktion. Vor allem bei längeren Prosatexten. Als ich den Buchessay „Langsamer!“ in Angriff nehmen wollte, fehlte mir weniger ein Konzept denn eine Konstruktion. Wie das Material ordnen? Nach langem, fruchtlosen Überlegen schaute ich mir das Wort „Langsamer“ an und entdeckte, dass sich aus seinen Buchstaben interessante Kapitelüberschriften bilden ließen. Von „Liebe (Lektüre)“ bis „Reise (Ruhe)“. Und liest man das Inhaltsverzeichnis, entsteht ein Akrostichon, das heißt die Anfangsbuchstaben ergeben vertikal das Titelwort „Langsamer“. Das war so schlüssig, dass ich loslegen konnte. Tatsächlich schrieb ich das Büchlein in wenigen Wochen.
Die Konstruktion als Gerüst bildet den unabdingbaren Gegenpol zum Zufälligen, Aleatorischen des Schreibens. Das eine ohne das andere funktioniert nicht.

Und woher kommen die Inspirationen?

Für Gedichte kann alles zur Inspiration werden. Das „Zirpen“ eines Heizkörpers, ein Fettauge im Tee, Kinderstimmen im Schulhof, ein trauriger Sonntag. Oder eine Szene, wie ich sie vor einiger Zeit in Wien erlebt habe. Meine Freundin sagte: Lass uns zum persischen Teppichhändler gehen, er ist sehr nett. Wir betraten ein vornehmes Haus in der Wiener Innenstadt, stiegen die Treppe zum ersten Stock hoch, klingelten. Es öffnete ein gut aussehender, lächelnder Mann, begrüßte uns mit höflicher Herzlichkeit und lud uns in die Räume. Riesige Räume, behängt mit exquisiten Teppichen. Ein Teppichreich. Wir schauten, staunten, stellten Fragen. Er antwortete in einem Deutsch mit feinem Akzent. Und offerierte uns nach einer Weile Tee. Der „Teeraum“ war schmal und dämmerig, wir saßen in bequemen alten Sesseln und tranken goldbraunen kräftigen Schwarztee aus orientalisch geschwungenen Gläsern. Der Perser sprach langsam, über Schönheit und Handwerk, über Stille und Wüsten, auch über Literatur. Er lese ständig, sagte er. Vor allem nachts, bei Schlaflosigkeit. Und seine Augen leuchteten. Waren wir überhaupt noch in Wien? Ich fühlte mich völlig entrückt. Ohne jede Dramatik entrückt. Und wusste, dass dieser magisch-zeitlose Moment in ein Gedicht münden will. Und wird.
Hier ist es:

Im Teeglas das Licht
im bernsteinfarbenen Tee
das Gesicht Persiens
der Mann wie von weit
murmelt sein Lied
weich und soviel Kaspisches
zwischen den Wänden
bartlose Teppiche Seide
Ergriffenheit
Bräute keine der Mittag
gähnt
nur im Glas ein halberloschenes
Herz klitzklein
späht

Ilma Rakusa, aus Ilma Rakusa: Mein Alphabet, Literaturverlag Droschl, 2019

 

 

 

Silke Behl spricht mit Ilma Rakusa über ihre Literatur und existentielle Schönheit.

Silke Behl spricht mit Ilma Rakusa über ihr Werk und die europäische Geschichte und Gegenwart.

Literarische Selbstgespräche … keine Fragen stellte Astrid Nischkauer – Von und mit Ilma Rakusa

Katja Scholz fragt und Ilma Rakusa antwortet: „Ich kann von Glück reden, wenn mir ein Gedicht an einem Tag gelingt.“

Ilma Rakusa zu Besuch bei Radio Neumarkt und im Gespräch mit Gabi Mezei

 

 

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Terézia Mora: Das Geschenk
Neue Zürcher Zeitung, 2.1.2016

Volker Breidecker: Die Fahrende
Süddeutsche Zeitung, 29.12.2015

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Ilma Rakusa

 

Ilma Rakusa – Verleihung des Schweizer Buchpreises 2009.

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