Jan Kuhlbrodt: Die Rückkehr der Tiere

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jan Kuhlbrodt: Die Rückkehr der Tiere

Kuhlbrodt/Walter-Die Rückkehr der Tiere

REGAL I

Bis vor Kurzem noch meinte ich, die Bücherstapel abarbeiten zu können, die sich angesammelt hatten wie die Akten in einer Geheimdienstzentrale. Mit der Zeit aber wurden sie Wand. Wand vor der Wand. Sie verschmolzen zu einem Objekt, das weiteres Dämmmaterial unnötig machte.

Als die Bücher noch alle im Regal standen, waren sie schon nicht mehr geordnet, dafür nach Größe sortiert, weil sich die Formate, die A4 überschritten, größer waren als Quartbände, nur auf die obersten und untersten Bretter stellen ließen.

Jetzt liegen sie in Stapeln, nach Größe sortiert und aufgeschichtet in Reihen, den kleinsten Platz genutzt. Wir werden sehen; ich werde die Nebenkostenabrechnung abwarten. Natürlich hoffe ich auf einen Effekt einen Sinn, der aus der Anordnung der Rücken folgt. Dämmmaterial gegen eine Welt, die Wetter kennt. Veränderungen.

Gleichzeitig, meine ich, geben die Bücher mir etwas wieder, das auch eine Welt sein könnte. Die Welt im Kleinen? Nein, dieser Ausdruck verkleinert nur den Gedanken. Keine kleine Welt! Eine papierne Welt, in der Größenverhältnisse keine Rolle spielen. Ein gedachter Raum. Darin türmen sich Notate zu Beobachtungen. Minutiöse Protokolle. Vorgangsbeschreibungen. Bauten. Berichte.

Und ich nehme sie jetzt also als mehr oder weniger ungeordneten Haufen Papier wahr. Papier, das einmal geordnet schien, für einen Moment jedenfalls.

Dazwischen verteilt Bestimmungsbücher. Vogellaute. Farben. Heimische Reptilien. Wie als Erinnerung an eine Realität, die mehr kennt als Papier. Heimische Fische.

Ein abgedunkeltes Exemplar: Fauna im Schwarzwald. Geschenk meiner Großmutter. Sie hatte es von einer Westreise mitgebracht, ich war vielleicht zehn, und wusste nichts Rechtes damit anzufangen. Aber dieses Buch hat mich über Jahre begleitet, war nicht aussortiert worden oder bei einem der Umzüge verlorengegangen. Und obwohl es inzwischen über vierzig Jahre alt war, wirkte es unberührt.

Zumindest hatte ich, nachdem das Regal aufgestellt war, da  mit begonnen, die Bücher zu sortieren, nach Erscheinungsjahr erst, dann nach Fachgebiet. Ich würde so, glaubte ich, einen Verlauf nachstellen können. Einen Geschichtsverlauf, dessen Ordnung sich immer wieder auflöste, zumindest hier in der Reihenfolge der Bücher, als wolle die Physik mir ihre Wahrheit beweisen.

Entropie. Die unerbittliche Zunahme der Unordnung entlang eines Zeitstrahls, der Ordnung erst ermöglichen sollte, und der an seinem Ende verschwindet, den Anfang tilgt. So jedenfalls, behaupten die Physiker, habe man sich den Urknall vorzustellen. Das Entzerren der Ereignisse zu einem Ablauf. Kausalität.

Die Bücher aber werden mehr und mehr zu den Trümmern eines Berges, der sich wie die Geschichte vor Benjamins rückwärts fliegendem Engel auftürmt. Vielleicht gibt es Ordnung nur außerhalb der Zeit. Nicht aber in einer zunehmend ungeordneten Welt. Ordnung und Trost, und wenn schon kein Trost, dann doch eine gewisse Entlastung.

Gestern erreichte mich die Nachricht vom endgültigen Zusammenbruch des Irak, fotografiert von chinesischen Raumfahrern. Der Zusammenbruch war eine Behauptung. Auf dem Foto war die Geografie des Irak zu erkennen, aber kein verschwindendes politisches System.

Ich kann mir vorstellen, am unteren Ende der Fotos selbst zu sehen gewesen zu sein, als winzige Farbnuance. Obwohl ich noch nie im Irak war.

Schade, dass sich dieses Ereignis nicht wie von selbst in den Atlanten abbildet. Die politische Ordnung der Welt, sich in Bildern aktualisierend. Aber dann würde die Geschichte aus dem Regal verschwinden, und ich hätte nichts zu erzählen, nichts zu erinnern.

*

Es kommen schon lange keine Zeitungen mehr ins Haus, und die, die schon da sind, werden mürbe an den Rän­dern oder sind vergilbte Restbestände aus Zeiten, als ich mir ein Abo leisten konnte, und aus den Zeiten danach, in denen ich freudig zugriff, wenn irgendwo kostenlose Pro­beabos verteilt wurden, die nach einer gewissen Zeit, meist waren es vier Wochen, automatisch endeten. Noch heute rufen ab und an Mitarbeiter der Marketingabteilungen an, die fragen, ob ich an einem Abonnement interessiert bin. Ich bin es nicht.
Ich informiere mich mittlerweile ausschließlich übers Internet. Und übers Radio. Flüchtige Ereignisse. Flüchtige Information. Aktualität, die Vergangenheit ist, sobald man das Wort ausspricht, Aktualität, die sich der Gegenwart entzieht, nicht wartet, bis das Papier wellt und vergilbt.

Die papierne Wand um mich wäre noch dicker sonst und irgendwann ginge dann jeder Kontakt zur Außenwelt verloren. Zeitungen dienen weniger der Aktualität, sie sind Speicher. Wärmespeicher vielleicht, man könnte sie verbrennen.

*

Wenn ein Stapel Zeitungen und Journale aber umfiele,  denke ich plötzlich, könnte man Aktualitäten neu, in einem ganz anderen Kontext schichten. Vielleicht mache ich das ja auch mit meinen Erinnerungen, die ich gespeichert habe, gespeichert wie Geheimdienstberichte, mit Erinnerungen an Ereignisse, die ich erlebt, überlebt, und an Meldungen von Ereignissen, die ich erhalte.

 

 

 

Jan Kulhbrodt liest am 14.7.2022 im Weltecho in Chemnitz aus Die Rückkehr der Tiere und Toni Müller macht Musik.

 

 

Kindheit in Karl-Marx-Stadt,

konforme Jugend in der DDR, Zusammenbruch des Sozialismus – zuletzt: was von ihm übrig bleibt. Anhand von Büchern, die immer neu sortiert sein wollen, dem Blick ins Internet und aus dem Fenster entsteht ein Gedicht – eine Geschichte, die Geschichte, die immer auch unsere Geschichte ist. Mit den Konsumgewohnheiten ändern sich Gerüche; geöffnete Grenzen und Kanäle lassen verschwunden geglaubte Tiere zurückkehren.
Mit dem verfremdeten Blick eines Verhaltensforschers beobachtet Kuhlbrodt wie Menschen Tiere domestizieren und die Geschichte den Menschen. Das Gedächtnis wird dabei zu Schlieren, die Guppys in ihrem Aquarium an die Decke werfen: ein Loch, durch das die Zeit rieselt, durch das Kosmonauten die Sphäre verlassen, zum Punkt, an dem die Gesetze der Geschichte brechen. Die Rückkehr der Tiere ist keine Nostalgie, es ist ein völlig neuer Blick auf die Nahtstellen der Vergangenheit.

Verlagshaus Berlin, Klappentext, 2020

 

Das Zweitaktergeräusch verliert sich im Luftstrom

– Jan Kuhlbrodt verknüpft in seinen Prosagedichten mühelos intensiv-flapsige Erzählstücke mit philosophischen Reflexionen. –

Nach der Wende erlebte die DDR-Industrie einen gewaltigen Niedergang. Zugleich wurden fast fünf Prozent des damaligen Staatsgebiets der DDR unter Naturschutz gestellt. Nationalparks, Biosphärenreservate und Naturparks lockten nicht nur Besucher an, plötzlich waren wieder Tiere da, die man jahrzehntelang nicht gesehen hatte: Luchse in den Wäldern oder Seeadler über dem Greifswalder Bodden.
Ein knappes Jahr, bevor die Schutzgebietsverordnungen als Teil des Einigungsvertrags in Kraft treten, zuckelt Jan Kuhlbrodts Erzähler zusammen mit seinem Freund Thilo im Trabbi von Karl-Marx-Stadt aus über Plauen nach Nürnberg. In Bayern gibt es ein eigenes Begrüßungsgeld, einen „Fuffi in West“, der zusätzlich zu den hundert Mark des Bundes ausgezahlt wird:

Anfangs putzte ich die Frontscheibe alle paar Kilometer mit meinem Handschuh frei, dann ließen wir die Fenster einfach offen, setzten unsere Mützen auf. Es war ein arschkalter Dezember. Auch im Auto war es arschkalt. Bei offenem Fenster hatten wir die Heizung voll aufgedreht. Das Zweitaktergeräusch verlor sich im Luftstrom, der die Fenster knattern ließ.

Was hier so rotzig im Ton daherkommt, ist der Auftakt zu einem wundersamen Buch, das auf den ersten Blick aus nichts als Textsplittern zu bestehen scheint. Ein Buch über die  Wende, ein Buch über Wörter, vor allem aber ein Buch über das Erinnern und Erzählen, über die Bilder und roten Fäden, die wir immer schon durch unsere Vorstellungen ziehen. So wie der Erzähler, der mit seinem Erfinder Jan Kuhlbrodt zahllose Gemeinsamkeiten teilt, die Bücherstapel in seiner Wohnung Mal um Mal umschichtet, verschieben sich auch die Erinnerungsmomente fortwährend.
Die titelgebenden Tiere sind dabei nicht nur zurückgekehrte Naturwesen oder Begleiter eines Heranwachsenden im Plattenbau. Vielmehr leiten sie auch die Wahrnehmung des Schreibenden, werden zu Sprachtieren, die als Motive die kleinen Textwürfel verbinden, mal lose zusammenhalten, mal in Spannung zueinander setzen. Hier zwitschern Vögel über die Seiten. Dort taucht ein Hund auf, wird später wieder erwähnt, manchmal nur wie nebenbei beim Gassigehen beobachtet. Und doch ist er in seiner Unfähigkeit, die Höhe von Hindernissen richtig einzuschätzen, ein Bild für die bewusst gesetzten Unschärfemomente des Erinnerns und Schreibens.
Mitunter erinnern diese Konstellationen aus Erzählsplittern und Vignetten an die Denkbilder Walter Benjamins. Kuhlbrodt schafft durch gezielte Verschiebungen und Verwischungen ganz eigentümliche Figurationen, ein Verfahren, das einer Technik beziehungsweise ironisch erwähnten Nicht-Technik des fotografierenden Erzählers gleicht:

Es gelang mir nie, beim Entwickeln den richtigen Punkt zu erwischen, an dem ich das Fotopapier aus der Flüssigkeit zog.

Gedichte, wie der Untertitel behauptet, sind diese Texte vielleicht allenfalls im Sinne von Baudelaires „Kleinen Gedichten in Prosa“. Eine eigene, sehr bewegliche Form ohne strengen Rhythmus, die laut Baudelaire dazu in der Lage ist, sich dem nervösen Bewusstsein der Moderne und den Schwingungen der industrialisierten Welt anzuschmiegen.
Und so gelingt es Jan Kuhlbrodt mühelos, intensiv-flapsige Erzählstücke mit philosophischen Reflexionen zu verknüpfen, atmosphärische Sätze zu Gerüchen oder Stoffen mit Bonmots über das Schreiben („Show, don’t tell.“). Dabei versucht er, die Bruchstücke einer individuellen Biografie mit den vermeintlich exemplarischen Hülsen einer DDR-Lebensgeschichte abzugleichen. Er zeigt, wie Geschichtsverläufe immer konstruiert und simuliert sind, es mögen die Erzählungen des eigenen Lebens sein oder Ideen wie die einer harmonischen Wiedervereinigung. Nicht, indem er es einfach nur sagt oder gar behauptet, sondern indem er es in der Form seiner Texte reflektiert. Das macht Größe und Kraft dieses kleinen Buches aus.

Nico Bleutge, Süddeutsche Zeitung, 20.10.2020

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Volkmar Mühleis: Die kommenden Freitage
fixpoetry.com, 3.9.2020

Kristian Kühn: Pseudomorphosen
signaturen-magazin.de

 

 

 

REAKTION AUF ERNST BLOCH UND SEIN BUCH
Freiheit und Ordnung, Abriß der Sozialutopien, Reclam Leipzig 1985

Klassenschranken – das bezeichnet eine die Ausbeuterklasse beschränkende Hemmung – die Arbeiterklasse ist keine Klasse, sondern die Folge der Ausbeuterklasse.
Die Menschen haben seit der „Urgesellschaft“ ständig Hierarchien gebaut.

Die Ratio: Es sollte etwas richtig sein von Rechtswegen…
Hier blickt der Verstand. Sein Sinn ist: Bestehen statt Untergang.
Hat aber vor sich: Tatütata. Naturrecht ist die Erfindung des Verstandes als Regime. 17. Jahrhundert.

Die Ratio kann blind sein, der Verstand nicht.

Der Bürokrat will blind sein, sonst fliegt er ja.

Elke Erb
Für Jan Kuhlbrodt, Dichter und Essayist, geboren 1966
3.10.16 / geholt am 22.3.17

 

 

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