ROBINSONADE
der grüne papagei auf meiner schulter
ist inbegriffen, wie man mir am schalter
versicherte: ein himmel ohne risse,
ein blendendweißer sand – tabula rasa,
auf der ich sitze. manchmal, brennt bei freier
sicht und sternenklarer nacht mein feuer,
ist mir, als glömme in der ferne matte
antwort, zwei, dann fünf, dann eine kette
aus feuern, die sich um die insel legt.
dies alles schwindet mit dem ersten licht.
ich werfe stöckchen richtung horizont,
daß sie das meer zurückbringt an den strand;
warte, bis die nächste welle bricht,
der vogel auf der schulter endlich spricht.
doch wer Lyrik schreibt, geht ein besonderes Wagnis ein. Nirgends offenbart sich ein Nichtgelingen gnadenloser und vor allem auf den ersten Blick als im Gedicht. Andererseits ist es auch keiner anderen literarischen Gattung gegeben, so unmittelbares Glück zu erzeugen. Mit Achtzehn Pasteten legt Jan Wagner seinen dritten Lyrikband vor und beschert dem Leser damit höchsten Genuss. Unüberbietbar lässig bedient sich der poeta doctus unter den Dichtern seiner Generation einer kunstvollen Formensprache und erschafft dabei seinen ganz eigenen, unverwechselbaren Ton. Federnde Eleganz verbindet sich in Wagners Gedichten mit minimalistischer Präzision – egal ob er sich spielerisch dem großen Pierre de Ronsard anverwandelt, eine Landschaft beschwört oder einen Teebeutel besingt. Es bleibt dem Leser selbst überlassen, ob er sich an der versonnenen Klugheit, der sprachlichen Schönheit der Achtzehn Pasteten erfreut – oder einfach an den vielen, vielen auf engstem Raum erzählten Geschichten.
Berlin Verlag, Ankündigung
Der Titel des neuen Gedichtbandes von Jan Wagner lässt an die frühbürgerliche Poetik etwa von Martin Opitz denken, wonach Lied, Sonett und Ode nicht viel anderes als Kuchenformen waren, in die der Teig wählerisch-gekonnt eingefüllt wurde. Wagner zitiert beschwichtigend Rumohrs Geist der Kochkunst:
Es läßt sich alles Ersinnliche zu Pasteten verwenden, und in der Zusammensetzung derselben kann ein braver Koch recht deutlich zeigen, daß er Einbildungskraft und Urteil besitzt.
Ein augenzwinkernder Rückgriff, die Gedichte zeigen Wagner einem braven Koch doch reichlich überlegen. Gern aber bescheinigt man dem jungen, in Berlin lebenden Autor die erwünschten Eigenschaften, und die Pastete erweist sich als prächtiges Rezept, um die gewonnenen Welterfahrungen lukullisch in Bilder und Figuren eingehen zu lassen.
Zugleich korrigiert der Leseeindruck den Titel: Wie auch in seinen bisherigen Gedichtbänden Probebohrung im Himmel (2001) und Guerickes Sperling (2004) präsentiert sich Jan Wagner als subtiler Kenner der unterschiedlichsten Gedichtformen, deren implizite Semantik er gekonnt einsetzt. Das stumpfsinnige Dasein eines Grubenpferdes bildet er in kyklisch gebauten, sozusagen aussichtslosen Strophen ab. Die poetische Aussöhnung mit der „harten und fremden“ Kindheitsfrucht Quitte leistet eine sapphische Ode, welche die „schlichte süße“ der Frucht am Ende geziemend leuchten lässt. Das ergreifende Sonett „der schläfer im wald“ (nach Rimbaud) löst die Reimerwartungen nur andeutungsweise, sozusagen schattenhaft ein. Der Heimgang in die Natur ist – als unzeitiges Ende eines jungen Lebens – ein Skandal, erlaubt nur ein verstörtes Sonett, die Reime wollen nicht recht klingen. Von entsprechender Verstörung zeugen auch die rauen Reime, die „das verschwinden des riesenalks“ beklagen und anklagen, die grausame Ausrottung der hilflosen Weißkopf-Meeresgans auf den Hebriden. Das Gedicht grüßt zu Enzensberger („vom ende der eulen“) und Michael Krüger („Die Dronte“) hinüber, wie die Texte überhaupt in reicher Bezüglichkeit gelesen werden können.
Meistens haben sie eine kleine Geschichte zu erzählen. Der „mann aus dem meer“ war offenkundlich einmal ein bedeutender Klavierspieler, was in der Klinik, in die er eingeliefert wurde, wie „ein geflacker letzter blätter“ auftönt: „man hält es für chopin“. Die Rücknahme der Handlung in vielfach gestufte und subtil verschränkte Bilder beteiligt den Leser und gibt den Gedichten jene Aura, die sie unauslesbar macht. Es mag um wasserverdrängende Quallen gehen, um den Befreiungskünstler Houdini, um einen überraschenden kleinen Versöhnungstaumel an der Front zum Weihnachtsfest 1914, das Seemannsgarn alter Matrosen, das Nashorn, das ein Sonett oder den Teebeutel, der ein Haiku bekommt, um einen Salat des Dichters Ronsard oder um Holzarbeiter im „gesang der messer“ – stets sind es Geschichten, die unsere Einbildung produktiv beschäftigen, denn sie erscheinen als Bilder, oft als Vexierbilder, und vermeintlich haben wir eine Wahl, bis die poetische Ordnung des Dichters diese entscheidet.
Die erste Pastete („shepherd’s pie“) beginnt: „schafe sind wolken, die den boden lieben“. (Warum hat das noch keiner entdeckt?) Das ist hier mehr als ein innovativer Vergleich. Das Gedicht verwandelt die Landschaft in Schrift, und in der Schlusszeile treffen wir nach neun Zeilen den Reim, nämlich „wolken, die schafe sind, vom wind getrieben“. So besteht die Poesie auf ihrem Recht, im einzigen Reim des Gedichts angemeldet, die Wirklichkeiten durcheinander zu spielen, und sehr wenige Poeten bezeugen dabei eine so geistreiche Anmut wie der mit Recht vielfach preisgekrönte Jan Wagner.
Alexander von Bormann, Deutsche Bücher, Heft 1, 2008
Die Moderne schüchtert uns nicht mehr ein, und die Postmoderne ist so alltäglich geworden, daß sich niemand mehr nach ihr umdreht. Vielleicht werden wieder die alten Möbel und jungen Nervositäten aktuell. An die Wünschbarkeit von Manieren hat uns unlängst ein äthiopischer Prinz erinnert. Aufs Fressen folgt nicht mehr zwanghaft die Moral, sondern ein erneuerter Geist der Kochkunst. Gilt das neuerdings auch für die Literatur?
Jan Wagner, vom Jahrgang 1971, könnte ein Beispiel abgeben. Er ist unter den jungen Lyrikern derjenige, der mit Form und Tradition nicht bloß kokettiert, sondern ernstmacht. Jan Wagner hat mit Probebohrung im Himmel (2001) und Guerickes Sperling (2004) bewiesen, daß er formbewußt, anspielungsreich und elegant dichten kann. achtzehn pasteten lautet der Titel seines neuen Buches. Das legt nahe, daß Wagner den Genuß nicht scheut und nicht den Vorwurf des Kulinarischen. Immerhin macht er den biedermeierlichen Freiherrn von Rumohr zum Eideshelfer des eigenen Metiers. Über den titelgebenden Zyklus des Bandes setzt er einen Satz aus Rumohrs Geist der Kochkunst:
Es läßt sich alles Ersinnliche zu Pasteten verwenden, und in der Zusammensetzung derselben kann ein braver Koch recht deutlich zeigen, daß er Einbildungskraft und Urteil besitzt.
Natürlich zielt Wagner mit solchen Pasteten auf ein traditionsreiches literarisches Genre, auf „pastiche“ und „pasticcio“, die ihre Herkunft aus den entsprechenden nationalen Küchen nicht verleugnen. Auch hier geht es um das Nachkochen, um die Mischung der Zutaten. Literarisch meint das: Stilnachahmung als Mystifikation oder Huldigung. Proust sah solche Imitation als „Purgativ“. Er schrieb seine pastiches, um seinen persönlichen Stil zu finden. Man weiß, mit welchem Erfolg.
Und Jan Wagner? Mit welchem Recht spricht er von Pasteten? Was füllt er als „braver Koch“ in welche Formen? Wie groß ist die Skala seiner Kochkunst? Wagners Repertoire ist beträchtlich. Es reicht vom Nachkochen bis zu eigenständigen Kreationen. Er scheut nicht das Nachschreiben großer Vorbilder. Was auf den ersten Blick verblüffend einfach scheint, zeigt beim zweiten Lesen seine Raffinesse. So das Sonett vom „schläfer im wald“. Man braucht nicht einmal das Rimbaud-Motto, um den Text als ein Remake des berühmten Sonetts „Le dormeur du val“ zu erkennen. Rimbaud schrieb das Gedicht im Oktober 1870, während des deutsch-französischen Krieges. Es zeigt den jungen Soldaten in Kraut und Gras wie schlafend – aber:
Il a deux trous rouges au côte droit.
Georges Übersetzung macht aus den zwei Löchern eines:
auf der rechten ist ein rotes loch.
Bei Wagner ist auch dieses verschwunden. Er schließt mit der Zeile:
ein rosenstrauß an seine brust gepreßt.
Einzig dieses Bild erinnert an die zugefügte Gewalt. Ästhetisierung des Schreckens? Erpreßte Versöhnung? Wagner geht es um eine andere Nuance, um die Gleichgültigkeit der Natur, um „das kalte handwerk der natur“.
Diesem Handwerk setzt er das eigene entgegen. Es ist nicht minder um Kälte, um Distanz bemüht. „Dinge machen aus Angst“ – das war einst Rilkes Devise. Jan Wagner nimmt das existentielle Vibrato völlig weg. In seinen Ding-Gedichten ist er ein kluger, mit heiterer Neugier ausgestatteter Beobachter. Zuschauen ist ihm Genießen, Beschreiben reiner Genuß. Skepsis dient als Regulativ. Wagner kann mit Autoritäten umgehen, ohne an ihnen Schaden zu nehmen.
So schreibt er eine Hommage „pierre de ronsard: der salat“.
Sie beginnt als Plädoyer für die Simplizität:
nur essig, öl und salz, jamyn, den rest
gibt die natur.
Den Schluß macht das Votum für die – allerdings vegetarische – Völlerei:
nun laß uns kauen, daß es kracht, jamyn.
Dazwischen – als Pastetenfüllung – der Katalog der Namen, die Orgie des Küchenchefs. Das Ganze ein Beispiel für verfeinerte Pastetenkunst.
Wagners Dinge sind immer auch Kunst-Dinge, auch wenn sie zunächst als Tiere, Steine oder Landschaften erscheinen. Wo die Naturphänomene grob oder überproportional wirken, bringt die Finesse des Autors sie auf das gewünschte Format. Er nimmt es mit dem Nashorn auf und ermutigt uns, desgleichen zu tun:
komm näher. seine augen sind zu stumpf,
um etwas zu erkennen außer schatten, dem geflimmer
von gras und hitze – und dem horn: ihm stampft
es hinterher wie schlafende dem finger.
Haben wir uns an das „tonnengrau“ gewöhnt, setzt er seine Pointe. Er appliziert einen kleinen Vogel, den Buphagus, „den es auf seinem rücken balanciert / wie ein stuck sèvresporzellan, / ein mokkatäßchen, überraschend zart“.
Ist nicht auch der Dichter solch ein Vogel, der auf der plumpen Materie balanciert – und sich schmarotzend von ihr ernährt? So verwundert nicht, wenn wir bei Wagner immer wieder auf Eßbares, Nahrhaftes stoßen. Die letzte seiner achtzehn Pasteten ist eine „quittenpastete“. Sie folgt dem Weg der Quitten über das Entkernen und Entsaften bis die die bauchigen Gläser „für die / dunklen tage in den regalen aufge- / reiht, in einem keller von tagen, wo sie / leuchteten, leuchten.“
Was hier als stille Reserve für kommende dunkle Tage lagert, ist in bauchige Gläser gefaßt, poetisch-praktisch in die Form einer antiken Ode, der sapphischen Strophe. Was bleiben soll – könnte man Hölderlin paraphrasieren – konserviert der Dichter. Konserviert es in klassischen Formen oder doch in solchen, die tradierte Formen aufrauhen, aufbrechen. Wagner spart am volltönenden Reim, er liebt die Anklänge, die Halbreime, die Assonanzen. Er paart „spitzen“ mit „schwitzend“, „zigaretten“ mit „ratten“. Ja, er foppt uns mit dem bloßen Augenreim: „Leuten“ – „Aleuten“. Das tut er in einer der schwierigsten Formen der Lyrikgeschichte, in der Form der Sestine.
Einen poeta doctus hat man ihn genannt. Jan Wagner wird das Etikett weiter tragen müssen. Das Lob, das darin steckt, klingt ambivalent. Es kaschiert oft nur blanken Neid. Wagner kann viel, und er ist klug zu wissen, daß er nicht alles kann. Daß alles Ersinnliche, aber doch nicht jegliches in seine Pasteten paßt. Nicht unbedingt die krude Historie, die ungefilterte Aktualität.
Er hält es auch da mit Vorprodukten, nach dem Motto: Refata refero. So liefert er unter dem Titel „dezember 1914“ den Bericht über eine spontane Begegnung deutscher und englischer Soldaten zwischen den Fronten, eine lyrische Anekdote über den spontanen, unreglementierten Austauch von Friedlichkeit. Auch „ein dünner mann mit krummem rücken“, der in der „hollywoodelegie“ figuriert, ist historisch, nämlich niemand anderes als der Emigrant B. B. Eine kaum verfremdete Figur.
Bei „houdini im spiegel“ dagegen ist Wagner in seinem Element. Der berühmte Entfesselungs- und Zauberkünster erscheint als die Kunstfigur, die er ist:
ich werde jetzt aus diesem kalten glas
ins freie treten.
Der Dichter verhilft ihm in die Freiheit der Kunst, zur erneuten Verwandlung.
Es ist eine metamorphotische Kunst, die Jan Wagner betreibt. Er verwandelt Leben in neues Leben, etwa mit dem Übergang von Vers zu Vers:
eine krähe strich über wipfel fort und
kehrte wenig später als flugzeug wieder.
So übersteigt seine Poesie in ihren besten Momenten die Metaphorik seiner appetitlichen und ingeniösen Pastetenkunst.
– Eine Herzensfreude: Jan Wagners Gedichtband Achtzehn Pasteten. –
Falls Sie sich jemals wieder gefragt haben sollten, was eigentlich aus jenem Mann geworden ist, der vor ein paar Jahren an einem Strand gefunden wurde, nackt und ohne jede Ahnung, wer er sei, nur mit der Fähigkeit, ganz respektabel Klavier spielen zu können – nun, dieser Mann hat seinem Leben noch einmal eine radikale Wendung gegeben und das einzig Richtige getan: Er ist in ein Gedicht eingegangen. Und mit diesem überraschenden Strandgut eröffnet Jan Wagner seinen neuen, dritten Gedichtband.
Es ist gewiss nicht die einzige Überraschung in diesem Buch, wobei die schlagendste die ist, zu sehen, wie dieser Autor seine schon in den beiden Vorgängerbänden offenkundige Virtuosität noch einmal steigern konnte. Nun sind ja all die Jungen, die gerade dabei sind, uns eine wahrhaft glanzvolle Ära der deutschen Lyrik zu bescheren – haben es auch schon alle gemerkt? – ausgemachte Könner und Kenner ihres Handwerks. Jan Wagner aber ist da noch mal ein besonderer Fall, weil bei ihm das Vergnügen, das er selbst im Umgang mit seinen Mitteln hat, so offen spürbar ist, dass es ansteckt und man beim Lesen selber in die heiterste Stimmung kommt.
Ja, lange hat man keinen Gedichtband in der Hand gehabt, dessen Lektüre eine solche Herzensfreude war. Immer wieder möchte man Chapeau! ausrufen, unsicher nur, ob man selbigen nur ziehen oder nicht zwischendurch auch mal mit Schwung in die Lüfte werfen sollte.
Eh da jetzt Skepsis aufkommt, ein paar Beispiele. Dazu muss allerdings vorab ein Wort zu Wagners Reimkunst gesagt werden. Sie ist nämlich in Wahrheit eine Reimvermeidungskunst, bei der überall da, wo ein Reim stehen könnte, eine Art Halbreim steht, ein Anklang, eher das, was in der Germanistik als unsauberer Reim bezeichnet wird. Herrliche Drecksarbeit, die hier geleistet wird. Davon Beispiele zu geben sagt freilich nicht eben viel, man muss dieses ständige unaufdringliche Anklingen im Ganzen aufnehmen, um die leicht schräge Musik zu hören, die das erzeugt. Und den Witz, der darin steckt und sich bisweilen auch saftige Kalauer gönnt: Da „reimt“ sich dann auch schon mal „fern des summens“ auf „leuchtet siemens“ oder „plemplem“ auf „plum“ (die nächste Zeile ergänzt dann „pudding“).
Das sind die Späßchen in diesem so anspielungsreichen (und angenehm gebildeten) Spaß, und vielleicht sollte man vor den versprochenen Beispielen noch klarstellen, was man schon ahnt: Ein solcher Autor ist kein Tragiker (die Gedichte, die auf den Ersten Weltkrieg schauen, gehören allerdings zu den besten), er ist kein Weltverbesserer (außer dass jeder Dichter einer ist), und er ist gewiss kein Ideologe (dafür hat er einfach zu viele Ideen).
Und was für welche! Der Autor soll ja, wie man hört, freundlich und umstandslos sein, man sieht ihm also offenbar nichts an, was aber bringt in Gottes Namen jemanden dazu, ein Gedicht über Teebeutel zu schreiben, sogar zwei, die beide zusammen freilich nicht einmal so lang sind wie eins, sodass hier endlich ein Beispiel Platz hat:
TEEBEUTEL
I
nur in sackleinen
gehüllt. kleiner eremit
in seiner höhle
II
nichts als ein faden
führt nach oben. wir geben
ihm fünf minuten.
Fertig. Das war’s. Das ist es.
In den anderen, die selbstverständlich alle länger sind, ist das Verrückte, dass da von Dingen die Rede ist – also eigentlich müsste man jetzt wieder ganze Gedichte zitieren. Das Staunenswerte ist nämlich das, dass hier ständig über Dinge Gedichte geschrieben werden, über die Sie nie welche schreiben würden (wenn Sie so könnten, wie Sie vielleicht möchten). Und das natürlich nicht, weil es blöd wär, sondern weil Sie nicht einfallsreich, nicht töricht genug, nicht Wagner genug sind, um auf so etwas zu kommen. Das Tolle aber ist, dass man diese Gedichte liest und denkt: Was ist denn das? Was soll denn das? Und doch zugleich ein zustimmendes Nicken in sich spürt, ohne zu wissen, wem da jetzt zugestimmt wird. Der Wagner-Welt? Der eigenen? Der Welt an sich?
Und das ist das offenbare Geheimnis: Hier wird, letztlich, zugestimmt. Am schönsten zeigt sich das in jenem Zyklus, der dem ganzen Band den Titel gegeben hat: „Achtzehn Pasteten“. Es ist ein Zitat aus den köstlichen Tagebüchern von Samuel Pepys, das er notiert hat nach einem Festessen zu Ehren des 18. Hochzeitstages von Sir William Penn, wo es für jedes Jahr, das der bis dato verheiratet war, eine spezielle Pastete gab.
Und also gibt es jetzt für uns eine ebenso üppig und gewiss noch kunstvoller gedeckte Tafel, in der vom Lamm zum Fisch zum Huhn zu allerlei Süßem die ganze Kunst des lyrischen Pastetenkochs Volten und Kapriolen schlagen darf, zugleich aber immer wieder innehält und sinnt. Und immer ist der Weg vom Sinnen zum Sinnlichen nicht weit (der umgekehrte ist sogar noch kürzer). Dazu gehört das zweite Motto für diesen Zyklus, das sinn(!)fälligerweise aus Carl Friedrich Rumohrs Geist der Kochkunst stammt und also lautet:
Es läßt sich alles Ersinnliche zu Pasteten verwenden, und in der Zusammensetzung derselben kann ein braver Koch recht deutlich zeigen, daß er Einbildungskraft und Urteil besitzt.
Und die besitzt Jan Wagner ganz gewiss, wie könnte er sonst einen Sternenhimmel „kleingeld von sternen“ nennen, einen „angler an seiner schnur“ sehen, wie beim Anfahren eines Zuges sagen können:
ein schriller pfiff,
und die landschaft eilte von allen seiten herbei?
später auf dem autodach das trommeln
der äpfel, hart und klein, wie kinderfäuste.
Genug zitiert. Oder vielleicht ein Letztes noch: An einer der wenigen Stellen, wo es sich wirklich reimt, heißt es:
noch ist es früh, und in den städten schlafen
die landvermesser und die kartographen
Sie, liebe Leserin, lieber Leser, Sie werden wach sein, dies Buch vom Nachtkasten genommen haben und lesen: mit sich, der Welt und diesen Strophen ganz im Reinen.
– Jan Wagner macht Appetit auf Pasteten. Im Mittelpunkt seines neuen Gedichtbandes hat der Lyriker Jan Wagner 18 internationale Pastetenrezepte gestellt: vom englischen „Shepherd’s pie“, über die französische „Terrine de Mouflon“, die spanische „Empanada“ bis zu „Quittenpastete“. Geschickt verknüpft der Autor das Essen mit der Liebe und fasst diesen Begriff so weit, dass auch die Liebe zwischen Eltern und Kind hineinpasst. –
Kann man Pasteten „schreiben“? Jan Wagner kann, und gleich in 18 Variationen. Sein neuer Gedichtband heißt denn auch Achtzehn Pasteten:
Der Titel des Gedichtbands ist der Titel des zentralen Gedichtzyklus’. Der Auslöser zu diesem Zyklus war ein Zitat von Samuel Pepys, dessen Tagebücher ich vor einigen Jahren las, er berichtet von einem Abendessen bei einem Freund. Dieser Freund hatte den 18. Hochzeitstag, deswegen auch die Feier. Auf dem Büffet, schreibt Pepys in seinem Tagebuch, hätten nicht nur Köstlichkeiten wie eine Rinderlende gestanden, sondern auch 18 Pasteten, und zwar für jedes Jahr der Ehe eine Pastete. Als ich das las, gefiel mir das sehr gut, weil ich dachte, das wäre eine schöne neuartige Zusammenführung der alten Themen Essen und Liebe – und hab mir das rausgeschrieben ohne zu wissen, was ich damit anfangen sollte irgendwann. Dann war eben die Idee, diese Themen Essen und Liebe anhand von 18 Pasteten zusammenzuführen – beziehungsweise 18 Pasteten zu „schreiben“, die sich an jeweils einem Gericht orientieren, aber das mit dem Thema Liebe vermischen, und dann von salzigen Pasteten bis hin zur Süßspeise das durchexerzieren.
Als Vorspeise reicht Wagner die berühmte „shepherd’s pie“. Schon der erste Vers des Gedichts, das von einem verliebten Schäfer handelt, zeigt die Klasse des 36-jährigen Autors: „schafe sind wolken, die den boden lieben“. Das ist typisch Wagner: Er nimmt ein Sprachklischee – hier den Vergleich von Schaf und Wolke – und wendet es überraschend neu. Die weitere Speisen-Folge reicht von „terrine de mouflon“ über „empanada“ bis zu „quittenpastete“; wobei der Autor das Thema Liebe ziemlich weit fasst – es steht nicht immer im Zentrum der Texte. Im letzten Gedicht über die „quittenpastete“ geht es um eine Kindheitserinnerung, in der die Liebe von Eltern und Kind zwar nicht ausgesprochen, aber spürbar ist. Eltern und Kind – „vier große Hände, zwei kleine“, heißt es – pflücken Quitten und kochen daraus Gelee. Aus der Erinnerung an die alltägliche Situation entsteht ein Gedicht voller ungewöhnlicher Bilder, in dem das Gelb der geheimnisvollen Quitten noch immer nachleuchtet:
QUITTENPASTETE
wenn sie der oktober ins astwerk hängte,
ausgebeulte lampions, war es zeit: wir
pflückten quitten, wuchteten körbeweise
gelb in die küche
unters wasser. apfel und birne reiften
ihrem namen zu, einer schlichten süße –
anders als die quitte an ihrem baum im
hintersten winkel
meines alphabets, im latein des gartens,
hart und fremd in ihrem arom. wir schnitten,
viertelten, entkernten das fleisch (vier große
hände, zwei kleine),
schemenhaft im dampf des entsafters, gaben
zucker, hitze, mühe zu etwas, das sich
roh dem mund versagte. wer konnte, wollte
quitten begreifen,
ihr gelee, in bauchigen gläsern für die
dunklen tage in den regalen aufge-
reiht, in einem keller von tagen, wo sie
leuchteten, leuchten.
Neben dem Pasteten-Zyklus im Zentrum des Bandes findet man drei weitere Abteilungen mit Gedichten. Die Themen sind breit gestreut: Tiere, Pflanzen und Landschaften, historische Ereignisse und Personen, Kunst und Literatur, Reisebilder. Es gibt einen Nachruf auf die Grubenpferde der alten Zechen, ein staunendes Gedicht über den Holunder, oder drei Texte über nicht geschriebene, aber „mögliche Bücher“. Früher hat sich Wagner öfter mit großen historischen Personen beschäftigt, etwa Velazquez oder Störtebeker. Im neuen Band rücken Randfiguren der Geschichte in den Blick – wie der Hundezüchter Friedrich Dobermann. Den Hund kennt jeder, aber den Züchter? Wagner setzt ihm ein kleines lyrisches Denkmal. Dobermann war im 19. Jahrhundert im thüringischen Apolda Abdeckerei-Verwalter und Steuer-Eintreiber. Letzteres war offenbar nicht ungefährlich, weshalb er stets zwei Hunde bei sich hatte. Weil ihm die Tiere aber nicht scharf genug waren, züchtete er kurzerhand aus verschiedenen Promenadenmischungen eine eigene Rasse:
DOBERMANN
dies ist das dorf, und dies am waldesrand
die wasenmeisterei, von deren dach
ein dünner rauch sich in den himmel stiehlt.
die leeren felle an der wand. der korb
mit welpen, ihre augen noch vernäht
von blindheit: so beschnüffeln sie die welt.
noch ist es früh, und in den städten schlafen
die landvermesser und die kartographen.
im garten jener brunnen voller durst.
apolda, thüringen: die tote kuh
am feldrand, ein gestrandeter ballon,
von seuche aufgebläht. sie wird
dort liegenbleiben: unter einem kleingeld
von sternen schreitet er, an dessen seite
zwei schwarze klingen durch die landschaft schneiden
Wagners ironische, ernste, melancholische Gedichte sind oft gereimt, und zwar in allen Variationen, die der Reim ermöglicht. Der Autor mag das Spiel mit Formen und Klängen, greift gern auf klassische Formen zurück – auch auf jene, die man heute kaum noch kennt, wie Pantum oder Sestine. In einer Zeit, in der die meisten Lyriker freie Rhythmen und Verse schätzen, ist das ungewöhnlich. Aber Wagner ist kein lyrischer Streber, der unbedingt beweisen will, was er kann. Er nutzt die klassischen Formen spielerisch, beiläufig. Sie sind kein Korsett, in das ein Inhalt zu „schnüren“ wäre, sondern bieten im Gegenteil neue, andere Möglichkeiten als freie Verse. Manchmal staune er selbst, wohin sich ein Gedicht durch die Vorgabe der Form entwickle, sagt er. Und der Leser staunt mit. Fazit: Mit seinen ebenso lockeren wie geschmackvollen „Pasteten“ gehört Jan Wagner endgültig zu den interessantesten jungen Lyrikern im Land.
Thomas Steinfeld: Jetzt geht alles auf!
Süddeutsche Zeitung, 31.3.2008
Gisela Trahms: Feine Risse
poetenladen.de, 27.8.2007
Gabriele Trinckler: JAN WAGNER: ACHTZEHN PASTETEN. GEDICHTE.
dasgedichtblog.de, 7.11.2008
– Jan Wagner gehört zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikern der jungen Generation. Für seine präzise Sprache, seine stimmigen Bilder und sein müheloses Spiel mit den Formen wurde er vielfach ausgezeichnet. Goethe.de gewährte er einen Blick in seine Schreibwerkstatt. –
Dagmar Giersberg: Herr Wagner, was macht für Sie den Zauber von Gedichten aus?
Jan Wagner: Ein paar Quadratzentimeter weißes Papier, bedruckt mit einer Handvoll Wörter, mehr braucht es nicht, um größte zeitliche wie räumliche Distanzen zu überwinden: Ich schlage die Seite um – und ein chinesischer Dichter der Tang-Dynastie spricht mir plötzlich aus dem Herzen.
Ein Gedicht bringt auf kleinster Fläche ein Maximum an sprachlichen Mitteln in Einklang, zum Klingen, ein Höchstmaß an Musik und Bedeutung. Es führt Gegensätze und Paradoxien, scheinbar Unvereinbares zusammen. Dabei wahrt es stets die poetischen Grundtugenden von Überraschung, Spielfreude und Regelbruch – und wird so zur größtmöglichen Freiheit auf engstem Raum.
Giersberg: Titel Ihrer Gedichte lauten „frostschutz“, „dung“, „salat“ oder „teebeutel“. Können Sie über jedes Thema dichten?
Wagner: Das wäre natürlich wunderbar, lässt sich aber nicht mit letzter Gewissheit sagen. Sicher ist hingegen, dass sich aus grundsätzlich allem ein Gedicht machen lässt. Gerade die vermeintlich banalen, im Alltag so leicht übersehenen Gegenstände enthüllen mit einem Mal ungeahnte poetische Qualitäten – vielleicht gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit.
Wer ansetzt, ein Gedicht über ein großes Thema wie Freiheit zu schreiben, wird höchstwahrscheinlich scheitern, vielleicht im Schund stecken bleiben. Wer sich aber ganz auf einen fallengelassenen weißen Handschuh im Rinnstein konzentriert, wird unter Umständen ein großartiges Gedicht über die Freiheit zustande bringen.
Giersberg: Man sagt Ihnen eine „verblüffende Formbeherrschung“ nach. Welche Idee ist zuerst da, die für den Inhalt oder die für die Form?
Wagner: Mit der Form verhält es sich ähnlich wie mit den großen Themen: Meine Erfahrung ist, dass der Vorsatz, ein Sonett oder eine Sestine zu schreiben, die Gefahr des Misslingens birgt: weil das Gedicht vom Ende her gedacht wird, man letztlich eine Form nur auffüllt, statt das Gedicht Form werden zu lassen.
Ich schreibe sowohl in freien Versen, benutze aber auch, bei gleichzeitiger Unterwanderung, alte Formen. Im Gegensatz zu vielen Lyrikern empfinde ich sie nicht als Beschränkung, sondern als Erweiterungen der Ausdrucksmöglichkeiten. Es wäre ein Verlust an Freiheit, sich solche Varianten nicht offen zu halten. Denn wenn man sie nicht als Verpflichtung nimmt, sondern als Spiel, werden diese vermeintlich restriktiven Formen zu Korsetten, in denen sich paradoxerweise besonders gut atmen lässt.
Es fängt also eher nicht mit der großen Form an, kann aber unter Umständen mit kleineren formalen Ideen beginnen: einem bezaubernd schmutzigen Reim etwa, einem Zeilenbruch, einem Wortspiel.
Giersberg: Wie muss Lyrik sein, damit sie Ihnen gefällt?
Wagner: Überraschend und neuartig, weil sie etwas so sagt, wie es zuvor noch nicht gesagt worden ist. Und sie sollte dabei doch so wirken, als sei es das Selbstverständlichste, es auf diese und nur auf diese Weise zu sagen, als hätte man bislang nur versäumt, es so zu betrachten und auszudrücken, aber immer schon gespürt, dass es so sein müsse. Unprätentiös, aber aus dem Vollen schöpfend. Vielfältig und vielschichtig, aber nicht willkürlich.
Und: Nicht auf die eine Pointe zulaufend, das heißt also: nicht das Gedicht als Vehikel für eine Meinung oder Sichtweise missbrauchend. In Gedichten, die mir gefallen, scheint ein Bewusstsein für das eigene Medium, für die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Sprache durch – ohne dies explizit zu thematisieren oder gar darüber das Sinnliche, den Bezug zur Welt zu verlieren.
Giersberg: Warum schreiben Sie in Ihren Gedichten alle Wörter klein?
Wagner: Aus zwei Gründen. Zum einen, um alle Wörter gleich zu behandeln und keinem schon durch das bloße Erscheinungsbild mehr Bedeutung zuzugestehen als dem anderen. Zum zweiten erhält man sich genau dadurch die Möglichkeit gewisser Doppeldeutigkeiten, die dem Gedicht zugute kommen können – etwa, wenn das Wort „regen“ sowohl als Niederschlag als auch als Verb („sich regen“) als auch als Adjektiv (Plural von „rege“) lesbar ist.
Giersberg: Ihr Kollege Harald Hartung hat geschrieben: „Wagner kann viel, und er ist klug zu wissen, dass er nicht alles kann.“ Was können Sie nicht?
Wagner: Es gibt vieles, was ich nicht kann. Allerdings gibt es auch vieles, was ich noch gar nicht ausprobiert habe, von dem ich, zum Glück, vielleicht noch gar nichts ahne. Ich habe ein halbes Jahr lang in Lüneburg gewohnt und an einer Reihe von Gedichten über die Stadt gearbeitet, ohne ein einziges befriedigendes Ergebnis. Offensichtlich kann ich also keine Gedichte über Lüneburg schreiben, so viel scheint festzustehen.
Giersberg: Wo liegt für Sie die Zukunft der Lyrik?
Wagner: Im jeweils nächsten, erst noch zu schreibenden Gedicht. Und es gibt ja immer nur dieses eine Gedicht, das noch nicht existiert, zu dem aber alles drängt.
(Auszug)
Laurynas Katkus: Wir haben beide in den Neunzigern an der Uni studiert. Dieses Jahrzehnt verbindet man oft mit solchen Begriffen wie Spaßgesellschaft und exzessive Jugendkulturen – gerade in Berlin, wo du seit Jahren ansässig bist. Aber bei dir, in deinen Texten spürt man wenig von alledem. Wie ist deine Einstellung zu diesem Jahrzehnt, das nicht nur physisch, sondern, glaube ich, auch ideologisch zu Ende ist? Hast du dich damals als Außenseiter gefühlt oder nicht?
Jan Wagner: Nein, als Außenseiter habe ich mich nie gefühlt. Ich bin nach Berlin gegangen, weil Berlin eine pulsierende Stadt war. Ich habe 1992 in Hamburg angefangen zu studieren; 1994 bis 1995 war ich in Dublin, am Trinity College, und danach stellte sich die Frage, ob ich nun nach Hamburg zurückkehren oder anderswo hingehen sollte, und da kam als Alternative nur Berlin in Frage. Berlin erschien mir, wie vielen anderen ja auch, zu diesem Zeitpunkt die mit Abstand aufregendste Stadt in Deutschland zu sein, weil so viel passierte, nicht nur was Musik und Kunst, sondern gerade auch was die Literatur anging. Berlin war spätestens seit Anfang der Neunziger – und ist es immer noch – ein Anziehungspunkt für die junge Literaturszene, nicht zuletzt für die junge Lyrikszene. Das liegt zum Teil sicherlich daran, dass man dort noch tatsächlich leben kann vom Schreiben, dass es sich wenigstens versuchen lässt und die Mieten niedrig sind. Berlin bietet den idealen Nährboden für alle sogenannten brotlosen Künste, also auch für ein Dasein als Literat, und das macht es doppelt anziehend: Die Lebendigkeit der Stadt einerseits und gleichzeitig die Möglichkeit des Austauschs mit anderen. Es gab viele Zeitschriften in dieser Zeit, Ron Winkler hat eine herausgegeben, ich selber auch, und dieses Netzwerk von Lyrikern, von Literaten war anregend und gab Halt. Außenseiter – gar nicht; man hatte ja Kontakt zu allen anderen, zu Musikern, zu DJs, zu den Klubs, es gab Überschneidungen, nichts war strikt vom anderen getrennt. Aber natürlich stimmt es, dass beispielsweise Techno keine Rolle spielt in meiner Lyrik. Es gibt in meiner Generation von Lyrikern solche, die tatsächlich musikalische Techniken wie das Sampling, den Loop und so weiter verwenden, aber ich selbst gehöre nicht dazu – auch wenn man natürlich sagen könnte, dass meine Art und Weise, mit Zitaten zu spielen oder Formen wie etwa die Sestine aufzugreifen, ebenfalls eine Art von Sampling ist, wenn auch eine etwas andere.
Katkus: Alter Techno.
Wagner: Old-school Techno, genau (lacht). Aber um es noch einmal ganz klar zu sagen: Das Verwenden etwa solch alter Formen bedeutet ja nicht, dass man zurückkehren will zu einer Zeit, die anno dazumal liegt. Gerade das Spannende an Auden und anderen Lyrikern im englischsprachigen Raum ist, dass sie das Gegebene mit Zeitgenössischem verbinden, es zeitgemäß gebrauchen, und das tue ich auch.
Katkus: Gerade auf die Form bezieht sich meine nächste Frage. Der Standardvorwurf seitens einer avantgardistischen Ästhetik an diejenigen, die strenge Formen benutzen, ist, dass Metrum und Reim zum einen ein banales Mittel sind, denn es gibt ja keine unendliche Zahl von Reimen. Zum zweiten es ist ein repressives Mittel, weil du deine künstlerische Freiheit dem Schema unterwirfst. Es geht ja bekanntlich bis zur Politik: Dass das Formale als eine Analogie der autoritären politischen Regime verstanden wird. Ein berühmter litauischer Dichter, Vytautas Bložė, hat einmal das genaue Metrum im Gedicht mit dem „Trampeln einer Soldatenkompanie während einer Parade“ verglichen.
Wagner: Dazu gibt es viel zu sagen. Wenn man alte Formen und Reime verwendet, auch wenn ich all das ja immer wieder breche und unterwandere, dann läuft man immer Gefahr, dass der Applaus von der falschen Seite kommt, von den Leuten, die etwa sagen, „Endlich wird wieder gereimt“. Gleichzeitig darf man ja nicht übersehen, dass die klassische Avantgarde mittlerweile selbst Tradition ist. Ich halte es für ein Missverständnis zu behaupten, dass es eine gerade Linie gibt, die von A nach B führt, einen ständigen Fortschritt. Ich glaube, Fortschritt ist nicht unbedingt ein Begriff, den man, bezogen auf die Literatur, sinnvoll verwenden kann. Man bezieht sich immer auf etwas schon Dagewesenes. Ich halte es für weit anregender, Lyrik als ein großes Haus zu sehen, mit verschiedenen verwinkelten Gängen, mit Räumen, Winkeln, die man alle besuchen kann, in denen allen man wohnen kann – und wenn man das Ohr an die Wand legt, hört man jemanden hinter der Wand husten, und dieser Jemand kann ein ganz anderer sein als erwartet oder erhofft. Modernität und Tradition schließen sich nicht aus. Es kann erfrischender sein, auf Horaz und Catull zurückzugreifen als auf Tristan Tzara. Bei Leuten, die sich selbst ausdrücklich als Avantgardisten bezeichnen, trifft man doch recht oft auf sehr doktrinäre Persönlichkeiten. Das Spiel mit der Tradition ist selbstverständlich – und im Angelsächsischen etwa ist es vollkommen normal. Jemandem wie John Ashbery – oder Paul Muldoon, der ja auch beim Festival war –, wird niemand unterstellen wollen, dass sie restaurative alte Formen benutzen möchten, und sie benutzen diese Form selbstredend und ganz natürlich. Was Muldoon gestern gelesen hat, war ein Pantum, zum Beispiel, eine Form, die auch von Oskar Pastior verwendet wurde. Du sagtest eben, dass diese alten Formen belastend seien, und das ist ein anderer Aspekt, zu dem man sich äußern muss. Zunächst einmal glaube ich, dass alle diese Formen ihren ganz eigenen Reiz haben; ich glaube in diesem Zusammenhang, dass es keine Einbuße, dass es im Gegenteil ein Verlust an Freiheit wäre, diese Formen nicht zu verwenden, wenn sie sich denn anbieten. Nebenbei: Ich verwende ja auch das, was man als „vers libre“ bezeichnet, der aber selbstverständlich keineswegs frei ist, sondern, wie Jorge Luis Borges einmal sagte, lediglich die schwerste Form von allen. Alles ist Form im Gedicht, das Gedicht ist Form, geformte Sprache. Die Sestine mit ihren Wiederholungen, die Villanelle mit der Wiederholung zweier Zeilen, auch das Sonett natürlich – sie alle haben also ihre besonderen Eigenschaften, die, wenn sie sich anbieten, nicht aus dogmatischen Gründen abgelehnt werden sollten. Und wenn wir über den Reim reden: Natürlich sind reine Reime in ihrer Anzahl begrenzt, und die Gefahr, wenn man sie benutzt, ist immer, dass man bei Herz und Schmerz, bei Haus und Maus landet, also im Klischee. Die Zahl der unreinen Reime hingegen ist unendlich. Das ist das eine. Und das zweite: Man kann den Reim so benutzen, dass er nicht eine zu erfüllende Formvorgabe ist, sondern ein kompositorisches Mittel. Man kann durch den Reim als sanften Zwang die Bilder des Gedichts, die Gedankengänge des Gedichts, in neue, ganz ungeahnte Richtungen sich bewegen lassen. Ich empfinde den Reim nicht als Einschränkung, sondern als Ansporn, das Gedicht zu entwickeln, als Motor, um ein Gedicht in eine ganz überraschende Bahn zu lenken. Das ist eigentlich unwiderstehlich, genau wie die alten Formen. Ich kann kurz den besagten John Ashbery zitieren, der mal genau dasselbe gefragt wurde: Warum tun Sie sich das an, warum schreiben Sie um Himmels willen Sestinen? Und er sagte sinngemäß, dass eine Sestine im Grunde genauso wäre, als würde man mit einem Fahrrad den Berg hinunterfahren, wobei aber nicht die Füße die Pedalen antreiben, sondern die Pedalen die Füße – und man weiß nicht, wo man am Schluss enden wird. Das ist das Aufregende an diesen alten Formen. Der Vorwurf ist natürlich sehr billig und leicht zu machen – dass etwas, das alt ist, per se reaktionär wäre. Aber das ist ein poetologischer Kurzschluss, ein Missverständnis, das von solchen Avantgardisten, die es im besten Sinne sind, permanent widerlegt wird.
Katkus: Ein sanfter Zwang, oder was hast du gesagt? Das gefällt mir. Gut, aber das Gedicht, wie auch alle literarische Texte, ist ja immer an die anderen gerichtet. In einem deiner Essays, den ich neulich gelesen habe, konstatierst du, dass Lyrik heute zu einem marginalen Genre geworden ist. Aber es scheint mir, dass du dies nicht bedauerst, sondern sogar zufrieden damit bist.
Wagner: Es ist ja offensichtlich, dass die Lyrik kein Massenmedium ist. Dass Gedichte eine relativ überschaubare Zahl von Lesern haben, ist klar; andererseits glaube ich schon, dass das nichts als ein Vermittlungsproblem sein könnte. Ich versuche also durchaus mir einzureden, dass die Lyrik im Grunde jeden angeht, dass es tatsächlich ein großes Publikum für Lyrik gibt im deutschsprachigen Raum. Mag sein, dass das nichts als eine Hoffnung ist, vielleicht auch der Versuch einer „self fulfilling prophecy“ meinerseits. Andererseits meine ich unbedingt, dass Lyrik prinzipiell alle angeht, ich bin sicher, dass Gedichte ein großes Publikum verdienen und dass das Publikum irgendwo dort draußen ist und bloß noch nichts davon weiß. Tatsache aber ist, dass die Lyrik, gerade auch was die Verlagspolitik angeht, kein geliebtes Kind ist. Der DuMont-Verlag etwa hat soeben seine wunderbare Lyrikreihe eingestellt. Die großen Verlage neigen dazu, so wirkt es jedenfalls, die Lyrik mit zwei Fingern anzufassen. Ich frage mich manchmal, was passieren würde, wenn man tatsächlich einmal Lyrik publik machen und bewerben würde; was geschähe, wenn ein Gedichtband bei den einschlägigen Literatursendungen im Fernsehen besprochen würde? Ob sich da nicht doch plötzlich Leute fänden, die sagen, „Moment mal – das könnte doch durchaus etwas mit mir zu tun haben, ich probiere es einfach mal“. Mich würde sehr interessieren, was bei einem solchen Experiment herauskäme – das nicht stattfinden wird, weil man ein grundsätzliches Desinteresse an Lyrik und damit ihre Belanglosigkeit unterstellt. Viele Leute mögen tatsächlich noch mit diesen alten Vorurteilen zu kämpfen haben, die man ja teils schon in der Schule mitbekam – angefangen mit der klassischen Frage: „Was will uns der Dichter damit sagen?“ Wo Lyrik nur als eine Formel betrachtet wird, in der das X fehlt, und das X ist dann Abtreibungspolitik oder Liebe oder was auch immer, wird Lyrik natürlich auf eine Art und Weise vereinfacht, die nicht attraktiv sein kann. Dass Lyrik andererseits schwierig ist – nun ja, wie bei vielem, das Genuss bringt, muss man wissen, was Lyrik ist, muss man sich damit auseinandersetzen und erst einmal hineinfinden. Das ist mit dem Autofahren aber ganz genauso. All das sind Vorurteile, die beseitigt werden könnten, wenn man es richtig vermittelte. Es gab – und damit sind wir wieder beim Anfang – in den letzten Jahren schon die Tendenz, zumindest bei Lesungen junger Lyriker in Berlin, dass sich ein großes Publikum einfand, gerade auch Zuhörer unseres Alters. Das scheint mir schon dafür zu sprechen, dass die Lyrik nicht vollkommen aus der Mode ist, dass sich im Gegenteil ein größeres Publikum finden lassen könnte.
Katkus: Man muss dazu sagen, dass sich vor zehn, fünfzehn Jahren eine Renaissance der Lyrik in Deutschland ereignet hat. Und du bist einer der Vertreter dieser Generation, die sehr unterschiedliche und interessante Stimmen hat.
Wagner: Ja, es gibt sehr viele und sehr unterschiedliche Dichter, denen übrigens auch diese schon besprochene Kluft zwischen der sogenannten Tradition und der sogenannten Avantgarde nichts bedeutet. Alle Lyriker, die jetzt schreiben, setzen sich ganz automatisch sowohl mit der Wiener Gruppe als auch mit der Lyrik des achtzehnten Jahrhunderts auseinander, glaube ich. Es ist selbstverständlich, dass man alles aufgreift und sich zunutze macht. Wirklich, es gibt sehr viele reizvolle junge Lyriker im Moment, die meines Erachtens mehr Gehör finden könnten und sollten. Dass die großen Verlage, von den Ausnahmen wie Hanser, Suhrkamp und dem Berlin Verlag abgesehen, weniger Lyrik machen, öffnet den Raum für junge Verlage. Man könnte etwa auf einen Verlag wie kookbooks aus Berlin hinweisen, der eine ganze Reihe dieser jungen Autoren – Ron Winkler, Uljana Wolf, Hendrik Jackson, Monika Rinck, Steffen Popp – angenommen und veröffentlicht hat und diese Lücke nutzt. Sie führen den großen Verlagen vor, was möglich ist mit Lyrik, dass sie sich verkaufen lässt und man zudem noch eine gute Presse bekommt. Seit zwei Jahren erscheint jedenfalls kein Feuilleton, ohne den kookbooks Verlag zu erwähnen.
Katkus: Viele jüngere Dichter bekennen sich heute nicht nur zur gegenwärtigen Popkultur, sondern benutzen auch ihre Motive in ihren Texten. Der Grund dafür, scheint mir, ist klar: Man will größere Nähe zum allgemeinen Publikum haben, niemand will arrogant und unverständlich im Elfenbeinturm der Hochkultur verweilen. Aber denkst du nicht, dass die Literatur so zu einem Anbeter der Königin Popkultur wird (die, nebenbei bemerkt, diese Anbetung überhaupt nicht wahrnimmt) und dabei ihr Wesen, ihr Anderssein zu verlieren riskiert? Mit anderen Worten: Ist der Lyrik nicht doch ein gewisser Aristokratismus eigen?
Wagner: Ich bin mir nicht sicher, ob der Ausdruck Aristokratismus es trifft, weil er ja erstens etwas Herausgehobenes impliziert als auch eine gewisse Arroganz – während die Lyrik bekanntlich seit geraumer Zeit eine Nische bewohnt, die gut eingerichtet sein mag, aber trotzdem eine Nische bleibt; sie ist also in keiner Position, um den Diskurs oder das literarische Leben zu beherrschen. Andererseits steht sie außerhalb der Verwertungskette, was literarisch nur ein Vorteil sein kann und einen Druck durch den Markt gar nicht erst aufkommen lässt. Ich vermute, dass jeder Lyriker, so marginalisiert er in seiner Tätigkeit auch sein mag, daran glaubt, dass Lyrik für jeden da ist, da sein sollte, im Grunde jeder ein lyrisches Grundbedürfnis hat. Da die Reize des Gedichts im bislang so nicht Gesehenen, so nicht Gesagten liegen, da das Ungewohnte Mühe machen kann, gilt Lyrik als schwer – Enzensberger sprach einmal vom „schwierigen Vergnügen der Poesie“. Sie würde also tatsächlich ihr Wesen einbüßen, wenn sie auf diese für sie notwendige Schwierigkeit verzichten würde, das ist sicher richtig. Das Aufgreifen von Gewöhnlichem, Banalem und Gegenwärtigem ist dabei ja trotzdem möglich, ja notwendig – nur eben mit den Mitteln des Gedichts.
Katkus: Albert Camus meinte einmal, dass der wahre Aristokratismus das Stellen hoher Anforderungen an sich selbst ist. So meinte ich es auch. Das entspricht wohl dem, was du über die „Schwierigkeit“ sagst.
Wagner: Ja. Und vielleicht ist es die größte Schwierigkeit, diese hohen Anforderungen im fertigen Gedicht nicht sichtbar werden zu lassen, zu verbergen, es leichthändig, nicht bemüht, natürlich wirken zu lassen. Es gibt einen Satz von Robert Frost, den ich mir einmal notiert habe und der mir gefällt:
In literature it is our business to give people the thing that will make them say, „Oh yes I know what you mean.“ It is never to tell them something they don’t know, but something they know and hadn’t thought of saying. It must be something they recognize.
(…)
Katkus: Nicht nur viele deiner Gedichte nehmen Bezug auf den angloamerikanischen Raum; auch in diesem Gespräch zitierst du oft englischsprachige Autoren. Was genau hat dich an Autoren wie Dylan Thomas oder W.H. Auden angezogen? Was war es, das du in deiner eigenen Tradition vermisst und dort gefunden hast?
Wagner: Was mich von Anfang an an der modernen englischen und amerikanischen Lyrik begeistert hat, war das Fehlen von lyrischem Pathos, eine gewisse Leichtigkeit, dazu eine Alltagsnähe, die ich so in der deutschen Lyrik bis dahin nicht kennengelernt hatte. Das war allerdings nach einer Phase, in der ich vor allem die Frühexpressionisten gelesen hatte, van Hoddis und Trakl, Georg Heym und auch Benn. Und dann wandte ich mich dieser anderen Tradition zu, beispielsweise William Carlos Williams, der etwas ganz anderes machte. Er wurde ja immer wieder gefragt, wo er seine Sprache hernehme, und seine Antwort lautete: Aus dem Munde polnischer Mütter – also aus dem Munde seiner Patientinnen in Rutherford, New Jersey. Er war schon rein berufsbedingt immer ganz nah an diesem Alltäglichen dran, einer, der nicht nur einen „Red Wheel Barrow“ beschreibt, die Hühner auf der Stange, sondern dessen Sprache sich ganz eng an die Alltagsprache anlehnt. Dort fand sich also etwas, was deutsche Lyrik für mich bis dahin nicht hatte. Bei Auden auf der anderen Seite war es die Art und Weise, wie er Tradition und Zeitgenössisches in Einklang bringt. Auden ist ja einer derjenigen, die Sestinen schreiben, der auch das Sonett wiederbelebt hat, beziehungsweise der die lange Tradition des Sonetts in England weitergeführt hat, aber auf eine neue Art. Einer, der auch mit dem Reim, mit dem Halbreim spielt, der mit ganz leichter Hand Tradition und Gegenwart verbindet. Das fand ich und finde ich nach wie vor famos; Auden ist immer noch einer der ganz wichtigen Autoren für mich.
Katkus: Wir haben schon über die Form gesprochen. Aber für einen Schriftsteller kommt eines vor der Form: die Sprache. Gottfried Benn hat einmal über seine Faszination für die Sprache gesprochen, insbesondere, glaube ich zu erinnern, für das Substantiv. Fühlst du auch Ähnliches? Seit wann? Denkst du beim Schreiben und beim Übersetzen über die Eigenschaften, Vorteile und Nachteile deiner Sprache nach? Wenn ich, zum Beispiel, aus dem Deutschen übersetze, so bin ich manchmal neidisch auf diese Geräumigkeit, auf die Lakonie des Deutschen, wohingegen das Litauische mir als die barocke, manchmal sogar rokokohafte Sprache erscheint.
Wagner: Ja, für Benn waren es die Substantive: „Worte, Worte – Substantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug“, schreibt er in einem Essay. Aber nicht nur: Auch für das „Blau“, das Adjektiv blau, hatte er ein starkes Faible, weil es ihm als „Südwort“ schlechthin galt. Natürlich: Die Liebe zur Sprache, ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, den Vertracktheiten, nicht zuletzt zum klanglichen Reichtum, geht allem voraus – hinsichtlich der eigenen und, mit dem Blick und dem Ohr des Nichtmuttersprachlers, auch hinsichtlich der fremden Sprachen, bei mir also vor allem des Englischen. Mir geht es in dieser Beziehung wie dir: Das Goutieren der eigenen Sprache, die Sprachverliebtheit, die Sprachvernarrtheit, und das Bewundern oder auch Beneiden der anderen Sprache wird einem beim Übersetzen am deutlichsten – die unerschöpflichen Möglichkeiten, die das Zusammensetzen eben jener Substantive im Deutschen etwa bietet, auf der anderen Seite der kolloquiale Reichtum des Englischen, der sich ins Deutsche oft nur mühsam retten lässt.
Katkus: Bist du jetzt verliebt in ein konkretes Wort (oder in Wörter, Reime)? Gibt es etwas, das sich dir jetzt auf der Zunge dreht, wie man auf litauisch sagt?
Wagner: Im Deutschen liegt es auf der Zunge und im Englischen befindet es sich ganz vorne auf der „tip of the tongue“ – hier fangen wir ja schon an, Spaß zu haben im Zwischensprachlichen. Ich habe, glaube ich, kein Wort, das mich dauerhaft so berauscht wie Benn sein „Blau“, die Leidenschaften und Interessen ändern sich Tag für Tag, was mir im Grunde so ganz gut gefällt – ohne dass alles Eingang in ein Gedicht fände, was wohl leider auch für den Halbreim „Uppsala“ auf „Obstsalat“ gilt. Was mich momentan beschäftigt, ist sowohl das Auge der eigentlich ja blinden Kartoffel (also der Punkt, an dem der neue Spross erscheint, der im deutschen „Auge“ genannt wird) sowie die Assoziationsmöglichkeiten des Wortes „Mangel“, das sowohl die wäscheglättende Maschine meint als auch die Armut, das Nichtvorhandensein von etwas.
Katkus: In deinem Druskininkai-Essay hast du von dem Fernrohr erzählt, das dein geliebtes Spielzeug in der Kindheit war. Tatsächlich ist eine genaue, tele- oder mikroskopische Beobachtung der Gegenstände eine schöne Eigenschaft deiner Texte. Woher kommt diese Fähigkeit? Kannst du deine Lehrer in dieser „Schule des Sehens“, laut einem deutschen Dichter, nennen? Sind es Schriftsteller, Maler, Filmregisseure oder vielleicht Wissenschaftler?
Wagner: Einen einzelnen Künstler, eine einzelne Person zu nennen ist unmöglich, aber generell, da es sich ja um ein lyrisches Sehen handelt, kann ich sagen, dass es sich bei den Lehrern nie um Wissenschaftler, seltener um Regisseure und Maler gehandelt haben dürfte – vielmehr immer um Dichter. Der Blick auf das Detail, das genaue Betrachten des Unscheinbaren, das Umdeuten vermeintlicher Belanglosigkeiten, dessen, was man so oft übersieht, ist ja in jedem Gedicht unverzichtbar – oder jedenfalls in dem Gedicht, das mir idealerweise vorschwebt, und ganz sicher in den Gedichten der Autoren, die ich immer bewundert habe und die ich zu meinen Lehrern zählen würde. Insofern glaube ich, dass dieser mikroskopische Blick notwendigerweise miterlernt, miterlesen wird bei der Beschäftigung mit Vorbildern.
Katkus: Ein wichtiger Code nicht nur in deinem letzten Buch scheint das Kulinarische zu sein. Du schreibst über die eingelegten Gurken, über das Vorbereiten einer Champignon-Speise, und natürlich gibt es auch die Achtzehn Pasteten. Woher kommt das? Bist du ein Schlemmer? Oder ist diese Verarbeitung des Nichtessbaren zum Essbaren, zumal Köstlichen, eine Metapher des lyrischen Schreibens?
Wagner: Was die Champignons, die eingelegten Gurken oder auch andere kulinarische Gegenstände, etwa Teebeutel und ähnliches angeht – auch die gehören eben zu den Details, die zwar verspeist und benutzt, aber nur selten betrachtet werden, die zwar in aller Munde, aber kaum beäugt sind – und denen man gerade deshalb, weil jeder sie zu kennen glaubt, ganz neue und unerwartete Seiten abgewinnen kann. Sie sind vollkommen alltäglich und dabei doch, jedenfalls in lyrischer Hinsicht, unverbraucht, das heißt, symbolisch und metaphorisch unbefleckt. Das reizt mich an ihnen: Das Unscheinbare und Allgegenwärtige bei gleichzeitiger poetischer Unschuld. Ein Schlemmer bin ich nicht, höchstens ein Augenschlemmer. Im Falle der Pasteten war es ja ein Zitat von Pepys, das die alten Themen Essen und Liebe auf ganz neue Art variierte – und deshalb dazu einlud, das auszubauen, achtzehn Pastetengerichte als Ausgangspunkt für Pastetengedichte zu nehmen. Die Nähe der Wörter „Gedicht“ und „Gericht“ scheint mir nun übrigens doch einen Zusammenhang zwischen Schlemmen und Schreiben nahezulegen.
Katkus: Kaum jemand spricht ja heute von der Inspiration oder schreibt Gedichte an die Muse. An deren Stelle tritt die Arbeit, die Produktion. Wie ist es bei dir: hast du einen festen Arbeitsrhythmus? Gibt es Rituale, die dich ins Schreiben einstimmen? Oder kommt die Idee des Gedichts schnell und unerwartet?
Wagner: Die kleinen Blitze der Inspiration kennt ja jeder, auch wenn Musen und Pegasus heute nur noch mit ironischem Zwinkern erwähnt werden – und sei es nur, um den unsäglichen und noch immer weit verbreiteten Dichterklischees zu entkommen, sich abzugrenzen davon. Jeder kennt ja, trotz alledem, das unverhoffte Geschenk, den Einfall, von dem man nicht weiß, wo er herkommt – selbstverständlich auch Nichtlyriker. Aber der eine Geistesblitz, das kühne Bild, ist ja noch kein Gedicht – sondern wird zu einem, indem man abwägt und schleift, das unverhoffte Geschenk als Ausgangspunkt nimmt und bearbeitet – und, was ich für genau so erwähnenswert halte, im Fall der Fälle auch darauf verzichtet, diesen beglückenden Einfall zu benutzen, ihn also am Schluss wieder aus dem Gedicht streicht, wenn sich dieses in eine ganz andere Richtung entwickelt hat. Verzicht ist ja auch eine Tugend in diesem Arbeitsprozess. Umberto Eco schrieb einmal, dass Genie aus zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpiration bestehen. Auch Benns „Marburger Rede“ – „ein Gedicht wird gemacht“ – ist sehr heilsam, wenn es um das so oft bemühte Bild vom verträumten Genie geht. Also: Eine Idee kann schnell und unerwartet kommen, ist damit aber noch kein Gedicht; und durch die Arbeit, die Vertiefung in die Arbeit, können wiederum unerwartete Ideen entstehen. Das Ganze ist, finde ich jedenfalls, ein sehr kurioser Prozess, eine Wechselwirkung aus bewusstem Arbeiten und Zufall – Zufall im Sinne von „mir fällt etwas zu“. Aber vielleicht siehst du das ganz anders? In deinem Essay über ein „Buch“ sprichst du über den Erregungszustand beim Schreiben, über den Rausch – aber der schließt die Arbeit, die kühle Konstruktion andererseits ja nicht aus. Was den Arbeitsrhythmus angeht: Die Zeiten wechseln, je nach Dringlichkeit und Gelegenheit, und es fiele mir schwer, feste Arbeitsstunden festzulegen (wie das andererseits beim Übersetzen und Schreiben von Essays sehr wohl möglich ist). Die Rituale dabei sind vermutlich denen anderer Lyriker sehr ähnlich – und beschränken sich auf die immergleiche Sorte Notizbuch und den Lieblingsstift.
Ostragehege, Heft 54, 2009
JAN WAGNER
Pasteten
Ich sitze in meinem
Arbeitszimmer fresse
Dichtung fresse und fresse
und kann nicht aufhören
zu fressen.
Ich kippe vom Stuhl
Und kann mich nicht rühren
Und was der Clou ist
ich höre meinem Bauch zu.
Peter Wawerzinek
Denis Scheck trifft Jan Wagner in Druckfrisch.
Jan Wagner liest bei faustkultur.
Poetry Crossings: Jan Wagner, Monika Rinck, Alistair Noon und Adrian Nichols lesen im Studio Niculescu am 15.4.2011 ausgewählte Gedichte und übersetzen sich gegenseitig.
Salon Holofernes – mit Jan Wagner. Judith Holofernes spricht mit Künstlern über das Kunstmachen.
Ein Gedicht und sein Autor: Ursula Krechel und Jan Wagner am 17.7.2013 im Literarischem Colloquium Berlin moderiert von Sabine Küchler.
Jan Wagner liest in der Installation Reassuring Synthesis von Kate Terry aus seinem neuen Gedichtband Australien im smallspace, Berlin.
Schreibe einen Kommentar