Jan Wagner: Zu Georg Trakls Gedichtreihe der „Rosenkranzlieder“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Trakls Gedicht „Rosenkranzlieder“. –

 

 

 

 

GEORG TRAKL

Rosenkranzlieder

An die Schwester

Wo du gehst wird Herbst und Abend,
Blaues Wild, das unter Bäumen tönt,
Einsamer Weiher am Abend.

Leise der Flug der Vögel tönt,
Die Schwermut über deinen Augenbogen.
Dein schmales Lächeln tönt.

Gott hat deine Lider verbogen.
Sterne suchen nachts, Karfreitagskind,
Deinen Stirnenbogen.

Nähe des Todes

2. Fassung

O der Abend, der in die finsteren Dörfer der Kindheit geht.
Der Weiher unter den Weiden
füllt sich mit den verpesteten Seufzern der Schwermut.

O der Wald, der leise die braunen Augen senkt,
Da aus des Einsamen knöchernen Händen
Der Purpur seiner verzückten Tage hinsinkt.

O die Nähe des Todes. Laß uns beten.
In dieser Nacht lösen auf lauen Kissen
Vergilbt von Weihrauch sich der Liebenden schmächtige
Glieder.

Amen

Verwestes gleitend durch die morsche Stube;
Schatten an gelben Tapeten; in dunklen Spiegeln wölbt
Sich unserer Hände elfenbeinerne Traurigkeit.

Braune Perlen rinnen durch die erstorbenen Finger.
In der Stille
Tun sich eines Engels blaue Mahnaugen auf.

Blau ist auch der Abend;
Die Stunde unseres Absterbens, Azraels Schatten,
Der ein braunes Gärtchen verdunkelt.

Georg Trakl

 

Rinnende Perlen

– Georg Trakls „Rosenkranzlieder“. –

Wie fragil dieser Sohn eines Eisenhändlers war, und mit welchem Feingefühl er die Silben, Wörter, Zeilen zu setzen verstand, die, um so viel flüchtiger als das väterliche Material, seiner Existenz Halt geben sollten… Besonders robust strukturiert wirken drei kurze Gedichte, die Trakl im Winter der Jahre 1912 und 1913 in Salzburg zu Papier brachte und die erst im März desselben Jahres unter dem Titel „Rosenkranzlieder“ zusammengefaßt wurden – auch wenn Zeilenzahl und Strophenbau so auf einander abgestimmt sind, die drei Stücke sich derart zu einander fügen, daß man kaum glauben mag, sie wären nicht von vornherein als Sequenz konzipiert worden. Hervorgegangen sind sie aus dem langen und fruchtbaren Fragment “Lange lauscht der Mönch dem sterbenden Vogel am Waldsaum<, und es ist, wie so oft, aufschlußreich, den Prozeß der Komposition nachzuvollziehen – besonders im ersten Teil, der sich wie viele Gedichte Trakls der schmerzlich und über alle Maßen geliebten Schwester widmet: In einer frühen Fassung waren die „verbogenen Lider“ noch ein Attribut Ophelias, die auch („Schön ist Opheliens Wahnsinn“) ausdrücklich genannt wurde. Zudem lautete der Titel dieses ersten Teils zunächst noch .An meine Sehwesten, nicht so viel nüchterner „An die Schwester“, verwies der Ausruf „Wie krank bist du geworden“ noch direkter auf die vier Jahre jüngere Gretl, deren Gesundheit, wie wir wissen, oft angegriffen war – „ich habe einen schweren Fieberanfall hinter mir und leide an einer Nierenerkrankung die mir die rasendsten Schmerzen verursachte schreibt sie im Jahr der „Rosenkranzlieder“ ihrem Bruder, und schließt:

ich bin so krank daß ich mich kaum bewegen kann.

All die Spuren des eigenen Lebens werden im Laufe der Arbeit verwischt, verschwinden, ganz im Sinne der knappen poetologischen Aussage, die wir in einem Brief Trakls an den Freund Buschbeck finden: „Es ist“, schreibt der Dichter da über ein umgearbeitetes Werk, „so viel besser als das ursprüngliche als es nun unpersönlich ist, und zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten.“
Dieser Prozeß findet auch in den „Rosenkranzliedern“ statt, wie man ohnehin auf viele Elemente trifft, die dem Leser aus anderen Traklschen Gedichten bekannt sind, auf seine typische Farbgebung etwa, auf Wild, Abend, Wald und Schwermut; und wie die Anziehungskraft der Schwester wird auch jene Charles Baudelaires spürbar. Dessen Gedichte verehrte Trakl, der des Französischen mächtig war – jedenfalls scheint auch in den „Rosenkranzliedern“ der Weihrauch direkt aus den baudelaireschen Versen herüberzuwehen, leuchtet der Purpur so satt wie bei dem großen Wahlverwandten. Zuguterletzt sind es die religiösen Motive und Bezüge, die sofort vertraut wirken – neben dem Weihrauch und dem titelgebenden Rosenkranz der Engel, das Gebet, Amen und „Karfreitagskind“ und nicht zuletzt Gott selbst –, wobei Religiosität,Verfall und Erotik hier noch stärker miteinander verwoben scheinen als anderswo:

O die Nähe des Todes. Laß uns beten.
In dieser Nacht lösen auflauen Kissen
Vergilbt von Weihrauch sich der Liebenden schmächtige Glieder.

Man hat von Trakls „negativer Religiosität“ gesprochen, von seinem fast inbrünstigen Festhalten am Spirituellen unter einem entleerten Himmel; wirklich sind „Offenbarung und Untergang“, wie Trakl ein berühmtes spätes Prosastück überschrieb, auch hier untrennbar. Das letzte Wort des dritten Teils und damit der „Rosenkranzlieder“ überhaupt lautet „verdunkelt“, und es ist der Schatten „Azraels“, der dieses Dunkel wirft – eines Engels des Todes, der allerdings weder in der Bibel noch in anderen religiösen Hauptschriften geführt wird und damit weniger offizieller denn obskurer Natur ist.
Mit welcher Präzision Trakl seine Motive umsetzt, erkennt, wer die Form der .Rosenkranzlieder: etwas genauer betrachtet. Die alles beherrschende Zahl ist die Drei: Die „Rosenkranzlieder“ bestehen aus drei Teilen mit jeweils drei Strophen, die ihrerseits aus drei Zeilen bestehen, zwar nicht gereimt, aber dennoch mit Macht an Dante erinnernd, der die Terzine in seiner Divina Comedia zum bestimmenden Formprinzip erhob und somit in jeder einzelnen Strophe die Trinität beschwor – die eben auch beim Beten des Rosenkranzes, noch vor dem apostolischen Glaubensbekenntnis, angerufen wird: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Zählt man die drei Untertitel der Sequenz („An die Sehwesten“, „Nähe des Todes“ und „Amen“) zu den jeweils drei ihnen zugeteilten Strophen hinzu, so gelangt man zur Zahl Zehn, die wiederum der Anordnung des Rosenkranzes entspricht, sind doch dessen fünfzig Perlen in Abschnitte von jeweils zehn Perlen gegliedert.
Die drei „Rosenkranzlieder“ sind, das zeigt schon eine flüchtige Lektüre, mit größter Umsicht verknüpft, durch Wörter, die entweder in allen drei Teilen wiederholt werden („Abend“ und „Augen“, dazu die „Schwermut“, die allerdings im dritten Teil durch die „Traurigkeit“ vertreten wird) oder zumindest in zwei der drei Teile auftauchen („einsam“, „Weiher“, „Hände“): ein Übriges tun die Traklschen Farben und deren mehrfache Nennung für die stabile Fügung der Verse, gerade beim dominierenden Blau („Blaues Wild“, „blaue Mohnaugen“, „Blau ist auch der Abend“) und Braun („braune Augen“, „braunes Gärtchen“ und „braune Perlen“). Paul Celan, ein lebenslanger Leser von Trakls Gedichten, unterstrich in der Ausgabe, die ihm 1950 ein Freund zum dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, all diese Farbwörter mit Bleistift und notierte sie noch einmal gewissenhaft am Rand der Seite.
Noch erstaunlicher, ja ein regelrechtes Kabinettstück ist es, daß im zweiten Teil, also in „Nähe des Todes“, die Perlen des Rosenkranzes sogar im Schriftbild auftauchen: Trakl wählt den perlenhaften Vokal „O“, der schon im Titel und im ersten Teil so prägend für die Harmonie des Ganzen war, und stellt ihn, als Großbuchstaben, an den Beginn jeder der drei reimlosen Terzinen: „O der Abend“, „O der Wald“, „O die Nähe des Todes“ lesen wir und sehen dergestalt die Perlen vor uns durch die Zeilen gleiten – die dann im dritten Teil, nachdem sie in Form und Schriftbild so subtil eingeführt worden waren, erstmals direkt erwähnt werden:

Braune Perlen rinnen durch die erstorbenen Finger.

Das ist von unaufdringlicher Meisterschaft.
„Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum. Benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui, Iesus. Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus nune et in hora mortis nostrae. Amen“ („Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“) – so lautet der Text des Ave Maria, der beim Beten des Rosenkranzes so oft zu wiederholen ist. Mit dem „Amen“ schließt auch Trakl, der dem dritten seiner Gedichte diesen Titel gibt, doch stößt man noch auf ein weiteres Echo: denn Trakl greift die Wendung „in der Stunde unseres Todes“ auf, die erst seit Papst Pius V offiziell als Zusatz zum Ave Maria gelten durfte, wenn auch nicht wörtlich, nur fast wörtlich:

Blau ist auch der Abend;
Die Stunde unseres Absterbens, Azraels Schatten,
Der ein braunes Gärtchen verdunkelt.

Kann es ein bloßer Zufall sein, daß Trakl den „Tod“ des christlichen Gebetstextes durch das sonderbar anmutende Wort „Absterben“ ersetzt? Kein Zweifel, das „Sterben“ ist darin enthalten und mit ihm der Tod. Doch tut man gut daran, sich auch der zweiten lexikalischen Bedeutung des Wortes „absterben“ zu entsinnen, das eben nicht nur „sterben“, sondern auch „verlieren“ und vor allem „entsagen“ heißen kann, was im Wörterbuch der Brüder Grimm durch Zitate von Kant („der neue mensch, indem er dem alten abstirbt“) und Martin Opitz („ein weiser mann / stirbt ab der sterblichkeit“) belegt wird. Der Tod, der zugleich ein Entsagen, das Entsagen, das auch ein Sterben ist: So kunstvoll läßt Trakl seine Liebenden mit diesem einen nuancenreichen Wort in einem noch schmerzlicheren Licht erscheinen – und, wer weiß, auch die Schwester, die nach dem Tod des Bruders, als sie schon längst mit Arthur Langen verheiratet war, dessen Brief an Ludwig von Ficker nur zwei knappe Sätze hinzufügte:

Furchtbar ist der Tod meines Bruders. Gott gebe mir bald die Erlösung auf die ich harre.

Drei Jahre später, im November 1917, nahm sie sich das Leben. 

Jan Wagner, aus Mirko Bonné und Tom Schulz (Hrsg.): TRAKL und wir. Fünfzig Blicke in einen Opal, Stiftung Lyrik Kabinett, 2014

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