GESCHRIEBENER SCHREI
Gott macht das Böse ohne Bosheit;
mit toten Vögeln und
in schneckenhafter Langsamkeit
beginnt er meine Statue.
Er repariert die Fassungen
des Meeres, seine Ilexstreifen
und sein granitenes System,
in das die immer gleichen Räder greifen.
Jetzt aber, stumpfes Gefieder,
verläßt du das Gefängnis
meiner Knochen und Glieder.
Verflucht, das ist zuviel!
Ich werde das Geheimnis entschlüsseln,
werde wissen um meiner Freunde Logis.
Jung zu sterben war jedem Verhängnis;
mein Gott, wohin brachtet Ihr sie?
Nachwort
„Wenn man mich fragte, was ich, sollte mein Haus brennen, hinaustragen würde“, schreibt Cocteau 1952 im Tagebuch eines Unbekannten, „so antwortete ich: das Feuer.“ Dieser Satz, brillant formuliert und überraschend in seiner Pointe, sagt mehr über den Autor aus als manche Schrift, die für oder gegen ihn verfaßt wurde. Das Feuer am Leben erhalten und weitertragen – nicht ein hemmungsloses, zerstörerisches Feuer, sondern jenen Brand, der die Menschen aus ihrer Trägheit aufrüttelt, sie zum Entdecken und Neuschöpfen anregt –, diese Aufgabe verlor er nie aus den Augen. Nur nicht in Selbstzufriedenheit verfallen, nicht stehenbleiben, nicht der Regel, der Konvention, dem festgefügten Schema dienen! Der Schriftsteller erklärte seinen Widerstand gegen Formen oder Grundsätze, die zu erstarren drohten, in jedem seiner Werke. Er betrachtete sich als einen Schöpfer der Unruhe, jener Unruhe, die nach seiner Meinung das künstlerische Schaffen erst ermöglicht.
Cocteaus Haltung als Mensch und Künstler ist wesentlich von diesem Gedanken bestimmt. So sympathisch seine Position aber vielleicht berühren mag, sie fordert gleichzeitig zum Widerspruch heraus. Der Autor stellte die Devise auf, man müsse „alle vierzehn Tage das Programm wechseln“, er machte die Spontaneität, das ständige Opponieren und Experimentieren zur Grundlage seines Wirkens. Ein unter solchen Voraussetzungen entstandenes Werk kann kein einheitliches Bild ergeben. Cocteau schuf zu viele, auf den Augenblick berechnete, schockierende, aber letztlich doch nicht überzeugende Arbeiten. Zu Unrecht allerdings kam er in den Ruf eines Zauberkünstlers und Taschenspielers. Hinter der Vielseitigkeit, der scheinbaren Leichtigkeit, mit der er seine Romane, Gedichte, Stücke schrieb, stand sein Streben nach Tiefe. Der Schriftsteller versuchte sie vor allem durch die Poesie zu erreichen, die er nicht nur auf die Lyrik beschränkt sah, sondern in allen Genres zu entdecken und anzuwenden wußte. Er selbst unterteilte sein Werk in lyrische, kritische und graphische Poesie, in Poesie des Romans, des Theaters und des Films.
Cocteau forderte, daß der Künstler außer einer ästhetischen auch eine moralische und soziale Verpflichtung erfüllen müsse. Dennoch ist er in seiner Huldigung an die Poesie, die seiner Auffassung nach nicht nur die Kunst, sondern auch die menschlichen Beziehungen revolutionieren sollte, in seiner extremen Forderung, dem poetischen Antrieb „schlafwandlerisch zu folgen“, der Gefahr des Ästhetizismus und eines L’art-pour-l’art-Standpunktes nicht immer entgangen. Aber sein Werk ist auf den Menschen gerichtet. Dieser Schriftsteller haßte alles, was den Menschen zum würdelosen Tier erniedrigt: skrupellose Geschäftemacherei und Bürokratie, Krieg und Faschismus. Er rannte fortwährend gegen die Normen einer Gesellschaft an, die ihn an der Entwicklung seiner Persönlichkeit hinderte. Er ergriff Partei, er machte wider Willen Politik, auch wenn er sich gegen alle Parteien aussprach und sich von jeglicher Politik fernhalten wollte. Da er den konsequenten Bruch mit dem Bürgertum, dem er entstammte, nie vollzog, da er die Widersprüche der ihn umgebenden Wirklichkeit nicht als Klassenauseinandersetzungen begriff, verfehlte sein Protest, sein anarchisches Aufbegehren oftmals das Ziel. So wurde er von eben jener Gesellschaft, gegen die er Sturm lief, als ihr „enfant terrible“ lächelnd geduldet. Wie widersprüchlich sich das Schaffen Cocteaus aber bisweilen auch darbieten mag, wie umstritten seine Ansichten und Werke sind, seine Bedeutung steht außer Zweifel. Sein Name ist aus der französischen Literatur, ja der gesamten kulturellen Entwicklung Frankreichs in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts nicht wegzudenken. Er war nicht nur Schriftsteller, er fühlte sich in fast allen Kunstgattungen zu Hause. Er schrieb Dramen, Gedichte, Romane, Reiseberichte, Essays und Künstlerporträts, er zeichnete, schuf Teppichmuster und Wandgemälde, konstruierte Plastiken aus Pfeifendraht, drehte Filme und trat als Schauspieler auf. Große Verdienste erwarb er sich als feinsinniger Kritiker, als unermüdlicher Anreger auf allen Gebieten der Kunst, als Entdecker und Förderer junger Begabungen, als Freund noch umstrittener Künstler. Seine Äußerungen über Strawinsky und Satie, über Picasso und Modigliani, über Apollinaire, Radiguet und viele andere legen davon beredtes Zeugnis ab.
Die Liebe zur Poesie, zur Kunst überhaupt wurde dem 1889 in Maisons-Laffitte (nahe Paris) geborenen Schriftsteller von Kind auf mitgeteilt. Er kam während der „Belle Epoque“ zur Welt, jener Zeit um die Jahrhundertwende, als der französische Imperialismus danach strebte, eine starke, auf dem internationalen Markt konkurrenzfähige Industrie aufzubauen, und das vor allem durch koloniale Expansion und intensiven Kapitalexport zu erreichen suchte. Der ständig wachsende Nationalismus und Chauvinismus, der sich unter anderem in der Dreyfusaffäre zeigte und in Literaten wie Barrès und Maurras seine Wortführer fand, war nur eines der auffälligsten ideologischen Anzeichen für die zunehmende Aggressivität dieses Systems. Mit der Beschwörung des Patriotismus sollte die Nation im Sinne der herrschenden Klasse zusammengeschweißt, sollten die realen Widersprüche aufgehoben werden. Doch hinter der Fassade äußerlicher Eintracht, unter der gleißenden Oberfläche industriellen Aufschwungs und technischen Fortschritts – in Paris fanden mehrere Weltausstellungen statt, wurden der Eiffelturm und die erste Metrolinie gebaut – brachen die Gegensätze auf. Die Arbeiter, schlechter bezahlt als ihre britischen und deutschen Kollegen, drängten in mächtigen Streikbewegungen auf Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. 1889 wurde unter Mitwirkung von Friedrich Engels die II. Internationale gegründet, die, ungeachtet ihrer weiteren Entwicklung, einen starken Aufschwung der Arbeiterklasse zur Folge hatte. So schloß sich 1895 das französische Proletariat in der CGT, dem ersten Gewerkschaftsbund des Landes, zusammen.
Der junge Jean Cocteau kam mit diesen Problemen freilich nicht in Berührung. Seine Familie, wohlhabende Bürger – Notare, Börsenmakler, Admirale –, dürfte kaum etwas von sozialer Not gespürt haben; sie hatte genügend Muße, sich durch unterschiedliche Liebhabereien das Leben angenehm zu gestalten. Künstlerische Interessen standen dabei hoch im Kurs. Sein Vater, den er frühzeitig verlor, malte, seine Mutter liebte das Theater, die Musik, seine Großeltern gingen den gleichen Neigungen nach, sammelten außerdem Kunstgegenstände und verfügten dabei, wie der Dichter bezeugt, über einen ausgewählten Geschmack. Daß Cocteau sich bereits als Schüler zeichnerisch und dichterisch versuchte und mit sechzehn Jahren seinen ersten Gedichtband veröffentlichte, kann deshalb nicht überraschen. Später dann verurteilte er diese ersten dilettantischen Übungen, wandte er sich gegen die Aufmerksamkeit, den Beifall, die ihnen zu Hause und in literarisch gebildeten Kreisen der „guten“ Gesellschaft entgegengebracht wurden.
Der rebellische, der skandalumwitterte Jean Cocteau trat erst nach dieser Zeit, etwa um das Jahr 1913, hervor. Er selbst führt seine Wandlung auf mehrere große Begegnungen zurück: Strawinsky, Satie, Picasso; deutet aber auch an, daß ihn zuviel Umhegtsein, zuviel Komfort zum Ausbruch aus den gewohnten Bahnen bewegten. Von 1913 an – Strawinskys expressionistische „Frühlingsweihe“, die für ein auf äußerliche Harmonie eingestimmtes Publikum zum Ärgernis wurde, erregte ihn ungeheuer – suchte Cocteau nach neuen Maßstäben, wollte er die Kunst revolutionieren. Der aus allegorisch-satirischen Zeichnungen, Gedichten und Prosatexten montierte Potomak (1913) brachte seinen Abscheu gegenüber dem satten französischen Spießbürger zum Ausdruck. Er begann die Arbeit an einem Ballett, Parade, das in der Ausstattung Picassos und mit der Musik Eric Saties 1917 erstmalig zur Aufführung gelangte und beim Publikum Verwirrung und Empörung auslöste. Er war zum Ruhestörer geworden, zum „Kreisgangverhinderer“, als den er sich später immer wieder bezeichnete.
In dem Bestreben, die vom Bürgertum geheiligten Werte zu zerstören, traf sich Cocteau mit einer Reihe von Künstlern, die er in dieser Zeit kennenlernte: den Dichtern Apollinaire, Max Jacob und Paul Reverdy, dem Schriftsteller Blaise Cendrars, dem Maler Modigliani und dem Komponisten Eric Satie. Der rege geistige Austausch mit ihnen, zum Teil gemeinsam ausgeführte Arbeiten prägten das Gesichtsfeld des Dichters und vermittelten ihm starke Impulse für sein eigenes Schaffen. Er machte die Bekanntschaft Picassos, den er später als einen seiner großen Lehrmeister bezeichnete. In diesem bedeutenden Maler sollte er einen Freund finden, den er sein ganzes Leben lang bewunderte und dessen Kunst nicht ohne Einfluß auf seine ästhetischen Anschauungen blieb.
Obwohl es sich bei Cocteaus künstlerischen Versuchen um eine unausgegorene, ziellose Auflehnung handelte, kam er in derselben Zeit – dem ersten Weltkrieg – zu ersten Erkenntnissen über die gesellschaftliche Realität. Wie viele seiner Zeitgenossen zunächst bereit, den Krieg als Bruch mit seinem früheren Leben willkommen zu heißen, wurde er sehr schnell von diesen Illusionen geheilt. Davon zeugt zum Beispiel ein Manifest gegen den Chauvinismus, das er 1915 in der Zeitschrift Le Mot – er war deren Mitherausgeber – veröffentlichte. Den stärksten Einfluß auf seine Wandlung übten jedoch die eigenen Erfahrungen während des Krieges aus. Das Regiment von Marinesoldaten, dem er sich als Hilfssanitäter angeschlossen hatte, wurde völlig aufgerieben; er selbst entging dem Tod nur durch Zufall. Sein Freund, der Pilot Roland Garros, dem er 1915 eine Folge von Fliegergedichten, Le cap de Bonne-Espérance („Das Kap der Guten Hoffnung“), gewidmet hatte, verunglückte während eines Fluges tödlich. Den Schock, den Cocteau durch diese Ereignisse erlitt, gestaltete er in einem Poem, dem Discours du grand sommeil („Rede vom großen Schlaf“), sowie in dem Roman Thomas l’imposteur („Thomas der Schwindler“, 1923). Vor allem der Roman ist von Bedeutung. Er spiegelt in stilisierter Form Erlebnisse, wie sie Cocteau zum Teil selbst widerfahren waren. Eigenartig verspielt in seiner Grundidee, schildert er die Tragik des sympathischen Träumers, der das Schlachtengetümmel für ein freundliches Abenteuer hält und seinen Irrtum mit dem Leben bezahlen muß.
Schon während des ersten Weltkrieges, der zu einer starken Erschütterung des kapitalistischen Systems führte, wandten sich viele Künstler gegen die überkommene bürgerliche Kultur, wobei ihrem Protest auch positive Werte zum Opfer fielen. Es entstanden Bewegungen wie der Dadaismus, der mit Mitteln des Schocks alle traditionellen Formen und Inhalte der Kunst zerstören wollte, und der Surrealismus, der die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Bewußtsein und Unterbewußtsein aufzuheben und mit den Mitteln der „automatischen Schreibweise“ neue Dimensionen für die Kunst zu erobern suchte. Diese Bewegungen fanden in Cocteau einen Mitstreiter, ohne daß er sich ihren Programmen bedingungslos unterwarf. Er trat für die eine oder andere Gruppierung ein, schloß sich jedoch weder in jenen Jahren noch später dauerhaft einer Richtung oder Schule an. Seine damaligen Ansichten über Kunst, vor allem über Musik, legte er in seiner Streitschrift Le coq et l’arlequin („Hahn und Harlekin“) nieder, die 1918 in den von Cocteau und Cendrars begründeten Editions de la Sirène erschien. In dieser Schrift forderte er für Frankreich eine neue, klassisch einfache Musik und wandte sich gegen die Nachahmung großer Musiker wie Wagner, Debussy und Strawinsky. Er unterstützte dagegen die „Gruppe der Sechs“, junge Komponisten (Auric, Honegger, Milhaud, Poulenc und andere), deren Ansichten den seinen ähnelten. In Zusammenarbeit mit ihnen schrieb er später mehrere satirisch-pantomimische Stücke. Für eine neue Ästhetik in Dichtung, Malerei und Musik, die sowohl gegen den Akademismus als auch gegen einen gewollten Modernismus zu Felde zog, setzte er sich auch mit publizistischen Mitteln ein, zum Beispiel in der Artikelserie Carte blanche („Freibrief“), die er 1919 für die Zeitschrift Paris-Midi verfaßte.
In diesen Jahren fand der Autor großen Anklang vor allem bei der bürgerlichen Jugend. Sein steter Widerspruchsgeist, das betont Extravagante seiner Ansichten, aber auch das Geheimnisvolle, rational nicht immer Faßbare seiner Verse, seiner Prosa faszinierten sie, schienen ihr in der krisenbehafteten Nachkriegsperiode einen geistigen Halt zu bieten. Cocteau suchte – etwa, in den Gedichtbänden Vocabulaire (1922) und Poésies (1920/23) – die Schönheit im banalen Alltag zu entdecken. Andere Werke waren tragisch eingestimmt – der 1923 publizierte Roman Le grand écart („Der große Sprung“) zum Beispiel hat das unglücklich endende erste Liebesabenteuer eines Primaners zum Inhalt – und kamen mit ihrer Aussage, der gesamten Atmosphäre, die sie wiedergaben, dem Wunsch bestimmter bürgerlicher Kreise entgegen, sich von der harten Wirklichkeit zu entfernen. Die Jugend verehrte den Schriftsteller aber auch, weil er sich nicht als Lehrender gab, vielmehr stets betonte daß er von ihr lernen wollte. Im Falle des um viele Jahre jüngeren Raymond Radiguet, den er in dieser Zeit kennenlernte, glaubte er sogar einen genialen Lehrmeister gefunden zu haben. Der frühreife Dichter, der mit nur zwanzig Jahren zwei sehr eigenständige, wenn aus heutiger Sicht auch etwas antiquiert wirkende Romane hinterließ, bestärkte ihn in seinen ästhetischen Auffassungen. Als Radiguet 1923 starb, bedeutete das für Cocteau einen schweren Schicksalsschlag; er verlor in ihm nicht nur einen Gleichgesinnten, sondern auch einen seiner engsten Freunde.
Doch schon in diesen Jahren, da Cocteau Anerkennung fand und sich als ein hochgebildeter, stilistisch versierter Schriftsteller erwies, werden seine Grenzen deutlich sichtbar. Sie zeigen sich in dem Bestreben, den Künstler zum Maß aller Dinge zu machen, im Zuschnitt der Werke auf ein Publikum, das ins „Mysterium“ des künstlerischen Schaffens eingeweiht war. Der Autor erwartete alles vom genialen Individualisten, vom Einzelkönner. Seine Herkunft, der aristokratische Lebensstil, den er von zu Hause übernommen hatte, versperrten ihm den Blick für eine gesellschaftliche Orientierung der Kunst. Er fand aus all diesen Gründen keinen Zugang zu den progressiven Bewegungen der zwanziger Jahre, sondern versuchte, einen Balanceakt über den Parteien auszuführen. Vieles von seinen damaligen Gedanken erscheint heute blaß und überholt. Mancher literarische Versuch trug Tagescharakter und konnte nicht überdauern. Auf der anderen Seite verhalfen ihm sein Drang zur Klarheit, sein Wille, den Menschen innerlich zu erheben, seine warme, aus dem Herzen kommende Stimme aber zu Werken, die in der französischen Literatur auch heute noch Bestand haben.
Bei einem Geist, der nach absoluter Reinheit des Ausdrucks strebte, konnte die sehr konkrete Beschäftigung mit klassischen Werken der Vergangenheit nicht ausbleiben. Bereits 1924 hatte Cocteau eine veränderte Fassung von Shakespeares Romeo und Julia vorgelegt, neben verschiedenen anderen Arbeiten gestaltete er nun die Sophokles-Dramen Antigone und Ödipus neu und drängte sie dabei auf einen Akt zusammen. Er wollte sie wie den Vogel Phönix aus der Asche steigen lassen, sie modernisieren, doch war die Verjüngungskur wohl zu radikal. Das Ergebnis jedenfalls kann nicht überzeugen. Ein großer Wurf gelang ihm dagegen mit dem 1926 erstmals auf geführten Stück Orphée („Orpheus“), das surrealistische Züge trägt, aber auch eine Satire auf den Surrealismus ist, das den Tod zu entmystifizieren und das Jenseits zu vermenschlichen sucht. Die Geschichte des Dichters Orpheus, der mit Hilfe des Glaser-Engels Heurtebise seine Frau Eurydike aus dem Land des ewigen Schweigens zurückholt und sie wieder verliert, nimmt ganz nebenbei die französische Polizeibürokratie aufs Korn und endet mit einem Bekenntnis zum Diesseits sowie zur Poesie. Auch das 1932 entstandene Schauspiel La machine infernale („Die Höllenmaschine“), das den tragischen Lebensweg des Thebenkönigs Ödipus erneut und diesmal tiefgründiger gestaltet, ist ein reifes Werk des Autors. Cocteau wollte wohl vor allem die Abhängigkeit des Menschen von einem blindwütigen Schicksal zeigen, aber Ödipus, in die teuflische Maschinerie verstrickt, die die Götter für ihn ausgedacht haben, wächst andererseits zu menschlicher Größe empor, als er die Wahrheit erkennt. Zunächst ein beschränkter Herrscher, wird er nun, indem er sich in das Notwendige schickt, zum Beherrscher der nichtverschuldeten Beschränkungen.
Das Thema schicksalhafter Verstrickung, mit dem sich Cocteau mehrfach – unter anderem auch in dem 1929 erschienenen Roman Les enfants terribles („Die schrecklichen Kinder“) – befaßte, kam nicht von ungefähr. Der hochsensible Dichter hatte bereits durch den ersten Weltkrieg viele Freunde verloren; nach dem Tod Radiguets fühlte er sich stark vereinsamt und gab, da er unter neuralgischen Schmerzen litt, der Versuchung des Opiums nach. Zwei Entziehungskuren befreiten ihn von dem Gift, lösten aber nicht die Probleme, mit denen er sich herumschlug. Er suchte nach Aufklärung über den Menschen und seine Bestimmung, tat es jedoch nicht, indem er ihn mit seiner Umwelt, der geschichtlichen Situation in Beziehung setzte, in der er sich befand, sondern indem er in sein Innerstes vorzudringen hoffte. Neue, vielfach verschlüsselte, orakelhafte Gedichte entstanden („Opéra“, 1925/27), Bemerkungen über den Maler De Chirico („Essai de critique indirecte“, „Versuche“, 1928/32) zeigten seinen Wunsch, das Ungreifbare im Künstler aufzuspüren. In dieser Krisenzeit verband sich der Dichter auch dem katholischen Glauben enger, in dem er ja erzogen war („Lettre à Jacques Maritain“, „Brief an Jacques Maritain“, 1926). Doch behielt Cocteau gegenüber den kirchlichen Dogmen stets eine eigenständige Position. Er wandte sich gegen die „Lauen“, vertrat die Ansicht, daß Gott „Schweigen oder Kühnheiten“ erforderte. Er wollte einen intelligenten Gott, er wünschte, ihm „die Klugheit zurückzugeben, die sonst dem Teufel zugeschrieben wird“. Später dann, in der „Schwierigkeit zu sein“, sprach er von seiner Scheu vor der Kirche, die ihn Jeanne d’Arc zutreibe. Er wollte sich nicht von der Religion reglementieren, „mit Grenzpfählen umschließen“ lassen.
1930 veröffentlichte Jean Cocteau einen weiteren Einakter, La voix humaine („Die geliebte Stimme“). Dieses Stück – die Rolle der verlassenen Frau wurde durch Edith Piaf hervorragend interpretiert – trug viel zur Popularität des Dichters in seinem Land bei. Obwohl nur einen privaten Konflikt darstellend, berührt es auch heute noch durch seine Leidenschaftlichkeit. Gleichfalls 1930 drehte der Schriftsteller seinen ersten Film, Le sang d’un poète („Das Blut eines Dichters“). Er hatte sich schon lange zur Kinematographie, „der zehnten Muse“, wie er sagte, hingezogen gefühlt. Hier eröffneten sich ihm ganz neue Möglichkeiten, die er unbedingt auszuschöpfen gedachte. Er betrachtete den Film als ein Kollektivwerk, das einen Gegenpol zum literarischen Selbstgespräch darstellte; er wollte ihn wieder seiner Eigengesetzlichkeit, der Bildsprache, zuführen, denn das Kino war nach seiner Meinung zu einer bloßen Nachahmung des Theaters herabgesunken. Er tat das freilich schon bei diesem ersten großen Versuch auf seine eigene, sehr subjektive Weise. Er schuf „einen realistischen Dokumentarfilm, der von irrealen Vorgängen handelt“. Der Gegenstand des Films, die Suche des Poeten nach seiner Wahrheit, wurde nicht in einer festgefügten Fabel, sondern in einer suggestiven Bildfolge gestaltet. Auch hier suchte Cocteau – wie in einigen bereits erwähnten Werken –, den Menschen von Innen her zu fassen, betrachtete ihn als von den sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen unabhängig. Erneut zeigt sich die Verstrickung des Dichters in Problemen, die weit ab von den Europa mehr und mehr bedrohenden Vorgängen lagen.
Und doch waren es diese Vorgänge – der in diesen Jahren heraufziehende Faschismus –, die Cocteau wie so manchen bürgerlichen Autor zwangen, aus einer zum Teil selbstgewählten Isolierung herauszutreten. Davon zeugt vor allem ein Reisebericht, der, 1936 erstmals publiziert, die meisten anderen Werke des Schriftstellers aus jenen Jahren überragt. Dabei war dieser Bericht mit dem Titel „Mon premier voyage“ („Meine Reise um die Welt in 80 Tagen“) eigentlich ein Nebenprodukt. Auf Grund einer Wette mit der Zeitschrift Paris-Soir folgte der Autor jener Route, die Jules Verne einst beschrieben hatte. Da er den von Verne aufgestellten Zeitplan einhalten mußte, konnte er die jeweiligen Länder nur kurz besuchen. Dennoch gewann er auf dieser Reise wesentliche Eindrücke. Er bekam ein Bild vom Faschismus in Italien und Japan, der seinen Abscheu erregte; in seiner Schilderung der USA wendet er sich nachdrücklich gegen den seelenlosen technischen Perfektionismus. Das Buch enthält aber auch andere bemerkenswerte Passagen, zum Beispiel die Wiedergabe jener unerwarteten Begegnung mit dem von ihm verehrten Charlie Chaplin. Wieder in Paris, schrieb er für die linksstehende Zeitschrift Ce Soir eine Reihe von Artikeln, in der er diesmal auch auf politische Probleme einging. Er richtete seine Kritik immer mehr nicht nur gegen künstlerische, sondern auch gegen gesellschaftliche Rückständigkeit. Er verfaßte 1938 sein berühmtes Theaterstück Les parents terribles („Nein, diese Eltern!“), das er als „eine Attacke gegen die Unordnung eines dekadenten Bürgertums“ betrachtete, und wandte sich 1939 in seinem Schauspiel La machine à écrire („Die Schreibmaschine“) gegen eine heuchlerische, muffige Provinzbourgeoisie. Obgleich diese Stücke wegen ihrer konstruierten Handlung und ihres Boulevardcharakters heute überholt sind, erregten sie seinerzeit Aufsehen und wurden vom Publikum als sozialkritisch empfunden. Auch in dem allegorischen Gedicht „L’incendie“ („Die Brandstiftung“, 1938), worin er „Nürnbergs Unheilbringer“ für den sich abzeichnenden Weltenbrand verantwortlich macht, schlugen sich Cocteaus politische Erkenntnisse nieder. Schließlich enthielt La fin du Potomak („Das Ende des Potomak“, 1939), ein von ihm als Roman bezeichnetes Buch, die Vision einer grauenhaften Weltzerstörung.
Trotz der Warnungen der fortschrittlichen Kräfte vor dem Faschismus trieb die dritte Französische Republik unter der haltlosen Führung ihrer bürgerlichen Regierungen dem Untergang entgegen. Waren besonders die Kommunisten schon vor der militärischen Niederlage des Landes Repressalien unterworfen, so sahen sich nach der Besetzung Nordfrankreichs durch deutsche Truppen und der Bildung der Pétain-Regierung alle progressiven und demokratischen Schichten Verfolgungen ausgesetzt. Auch Cocteau, der bereits früher wegen „Nein, diese Eltern!“ Schwierigkeiten bekommen hatte, mußte sich gegen heftige Angriffe verteidigen. 1941 wurden das erwähnte Stück sowie „Die Schreibmaschine“ verboten; er war gezwungen, Paris zu verlassen, und zog sich vorübergehend in das noch unbesetzte Südfrankreich zurück. Jean Marais, der zu seinen engsten Freunden gehörte und in beiden Stücken eine Hauptrolle gespielt hatte, mußte sich gleichfalls vor dem Zugriff der Okkupanten verbergen.
Jean Cocteau versuchte, seine Eigenständigkeit in einer feindlichen, aus den Fugen geratenen Welt zu behaupten. Er fand nicht wie die Dichter Eluard oder Aragon, denen er freundschaftlich verbunden blieb, zur Résistance, bewies aber in verschiedenen Situationen persönlichen Mut. So wurde er eines Tages auf den Champs-Elysées zu Boden geschlagen, weil er sich weigerte, die Fahne einer faschistischen Vereinigung zu grüßen. Cocteau wollte, die Barbarei verachtend, der Kultur ein Obdach gewähren. Um „einem Alptraum zu entrinnen“, dem „unflätigen Pöbelstil faschistischer Zeitungen entgegenzutreten“, verfaßte er für die Zeitschrift Comoedia eine Reihe anspruchsvoller Theaterkritiken, die später unter dem Titel Le foyer des artistes („Die Heimstatt der Künstler“, 1947) erschienen. Er schrieb schwer zugängliche, allegorische – Gedichte, arbeitete an einem klassischen Versdrama, Renaud et Armide („Reinhold und Amida“, 1943), befaßte sich in dem Film L’eternel retour („Der ewige Bann“, 1943) mit dem Tristan-und-Isolde-Thema. Sein Widerstandssinn äußerte sich, indem er sich bemühte, dem Geist eine Insel zu schaffen. Das darbende und kämpfende Volk Frankreichs erreichte er mit diesen hochstilisierten Werken allerdings nicht.
Mit Kriegsende begann für den Dichter die letzte große Etappe seines Schaffens. Er drehte 1945 seinen berühmten Film La belle et la bête („Die Schöne und das Tier“) ein poetisches Märchen, das die Verwandlung eines schrecklichen Ungeheuers durch ein liebendes ,Mädchen schildert, und bereitete ein neues Drama, L’aigle à deux têtes („Der Doppeladler“, 1946) zur Aufführung vor. Weitere Gedichte und kritische Texte entstanden, vor allem aber suchte sich Cocteau in einigen essayistischen Büchern über die eigene Position klarzuwerden. In den Bänden La difficulté d’être („Die Schwierigkeit zu sein“, 1947), Journal d’un inconnu („Tagebuch eines Unbekannten“, 1952) und Le démarche d’un poète („Lebensweg eines Dichters“, 1953) bemühte sich, seine Person von verschiedenen Seiten her zu fassen, den Wahrheitsgehalt der Argumente seiner Widersacher zu prüfen, verteidigte er seine Art, zu leben und künstlerisch zu wirken. Er meditierte über Themen, die ihm von jeher am Herzen lagen: die Jugend, die Freundschaft, das Lachen, das Unsichtbare, den Tod. Er berichtete erneut über Personen die ihm nahestanden und die er im Verlauf seines Lebens verloren hatte. Mehr und mehr Raum nahm jetzt – zweifellos auch durch Krankheiten verstärkt – der Gedanke ein, falsch oder gar nicht verstanden zu werden. Gerade hier aber zeigte sich das Fragliche eines introvertierten, lediglich in der Kunst einen Ausgleich suchenden Standpunktes. Freilich muß man Cocteau zugute halten, daß er seine Persönlichkeit inmitten kapitalistischer Geschäftigkeit, „einer Verschwörung des Lärms“, wie er sich ausdrückte, mit aller Kraft bewahren wollte. Daher der selbstgewählte Status des „einsamen Wanderers“, der die Grenzen dieses Poeten zeigt. Daher aber auch sein offenes Bekenntnis: „Ich bin glücklich“, denn „ich liebe die Menschen.“
In den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens – der Dichter starb 1963 in Milly-la-Forêt (Seine-et-Oise), wo er ein Haus erworben hatte – unternahm Cocteau noch einige zum Teil ausgedehnte Reisen. Er besuchte ein zweites Mal die USA und fand seine früheren kritischen Eindrücke bestätigt (Lettre aux Américains, „Der goldene Vorhang“, 1949). Er begleitete eine Theatertruppe, die während einer Tournee seine Stücke aufführte nach Ägypten, in die Türkei und nach Griechenland (Maalesh, 1949) und hielt sich für kurze Zeit in Spanien auf (La corrida du premier mai, „Die Corrida vom 1. Mai“, 1957). Er verfilmte die meisten seiner Theaterstücke – das Orpheusthema regte ihn sogar zweimal zur Gestaltung an – und schrieb neue Gedichtbände, die ein poetisches Resümee seiner Lebenserfahrung enthielten: Le chiffre sept („Die Zahl sieben“, 1952), Clair-obscur („Helldunkel“, 1954), Le requiem („Das Requiem“, 1962). Er entwarf einen Wandteppich, stellte seine Gemälde und seine keramischen Arbeiten aus, gestaltete das Innere von Kapellen und malte Fresken für eine Pariser Ausstellung. Einen Höhepunkt erreichte sein Schaffen nochmals mit dem Drama Bacchus (1951), jenem zu Beginn des 16. Jahrhunderts spielenden Stück, in dem die gesellschaftlichen Gegensätze, die zutiefst antagonistischen Standpunkte seiner Helden aufeinanderprallen. Cocteau erklärte, daß er in diesem Stück „die harte Güte“ „der weichen Güte“ entgegensetzen wollte, daß Hans, der Herzog, der Kardinal, Lothar, Christine alle „gut“ seien, daß er lediglich zu zeigen gedachte, in welch „schrecklicher Einsamkeit junge Menschen leben, die sich nur sich selbst verpflichtet fühlen“. Dieser Versuch sich in junge Menschen einzufühlen und der Vermittlung der Aussöhnung unterschiedlicher Parteien zu dienen, ist dem Autor aber unter der Hand zur scharfen Anklage gegen den Feudalismus geworden, sei er nun auf Luther oder den Papst eingeschworen. Cocteau gibt zwar dem Vertreter der römischen Kirche, dem Kardinal, das letzte Wort, doch die gesamte vorangegangene Handlung weist den Plebejer Hans als den moralischen Sieger aus. Die Geschichte, vom Dichter sonst eigentlich nur als Dekor benutzt, setzt sich in diesem Schauspiel kraftvoll in Szene.
Jean Cocteau wurde vierundsiebzig Jahre alt. Als er starb sah sich der einstige skandalumwitterte Avantgardist, der Verfechter höchster Stilisierung und klassischer Einfachheit, der Widersacher jeglichen „Ringelreihens“ in der Kunst mit den höchsten Ehren bedacht. Er hatte zahllose Preise für seine Filme und seine literarischen Werke erhalten, er war zum Mitglied der Belgischen und der Französischen Akademie gewählt, zum Ehrendoktor der Oxforder Universität ernannt worden. Er war berühmt, er wußte es, und doch fühlte er sich allein. Er sprach von der „schrecklichen Einsamkeit“, der „Seelenkrankheit“, die die Dichtung für den Poeten bedeute, und führte sie auf „die Hast, den Egozentrismus seiner Epoche“ zurück. Er verfügte über ungewöhnliche künstlerische Fähigkeiten und vermochte doch nicht, diese Einsamkeit zu bezwingen. Seine Herkunft und Erziehung, das Milieu, in dem er sich bewegte, die gesamte, den Individualismus preisende und das Individuum sich selbst überlassende bürgerliche Gesellschaft hatten Jean Cocteau in einen Kreislauf gedrängt, den er trotz seines Programms, stets aus der Reihe zu tanzen, nicht zu sprengen wußte.
Klaus Möckel, Nachwort, aus Jean Cocteau: Prosa, Verlag Volk und Welt, 1971
Egloff Schwaiger spricht in München mit dem französischen Dichter Jean Cocteau: Jean Cocteau über sein Selbstverständnis als Dichter. BR Retro Gespräche und Interviews 9.2.1962
Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope
Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram 1 & 2 + IMDb + Kalliope + Internet Archive
Porträtgalerie: akg-images + gettyimages + IMAGO + Keystone SDA
Jacques Barsac: Jean Cocteau. Der Dokumentarfilm wurde am 23.10.1996 erstmals in Frankreich gesendet.
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