MORT SUBITE
Und das ist eigentlich so: Eurydike schreitet vor dir
aaaaaher,
unermüdlich, denkt auch in diesem Traum nicht
aaaaadaran,
sich umzudrehen nach dir mit all deinen Gebrechen.
aaaaaLass
sie ruhig summen u singen. So immer tiefer u in
aaaaaimmer
andere Vorstädte gesogen: es ist Wald mit Häuserzeilen
endlos u Straßenzüge voller Feuer u sterbender Falter.
So zart in deiner Hand: anima mea. Und die Schwalben
fix, der Sommer zur Sau. Spielt auf schön brutal der Wind
zum Plastiktütentotentanz. Gewalt an allen Ecken. Hörst,
Eurydike, die Pfiffe, du? Du meinst, kein Wunder bei all
den Schutthalten u diesen Vetteln mit ihren unsäglich
fetten Gesäßen. Denn gegrölt in der Schlucht unten tief.
Du streitest es ab, es ist ein Wald, durch den ihr schreitet
aber, wo du nicht mehr die Bäume. Voller Schlangen
ein Wald, die sie alle im Takt zerquetscht, u du kommst,
wenn auch kopflos, aus diesem Traum nicht heraus.
Jean Kriers Gedichtband Herzens Lust Spiele zeigt den Dichter als ernsthaften Sprachspieler und virtuosen Arrangeur: Er strebt die Fusion zweier Unendlichkeiten an – die Fusion von Sprache und Ozean. Seine Gedichte, so schrieb Michael Braun, wirken in ihrer rhythmischen Bewegung und ihrer vokabulären Textur ebenso fluid wie die Wellen des Meeres.
poetenladen, Ankündigung
– Der Dichter Jean Krier und seine Rhapsodik der Sterblichkeit. –
Was für eine klägliche Figur er doch macht, unser einst so glanzvoller Dichterkönig Orpheus! Nichts mehr, so scheint es, ist geblieben von seiner alten Magie und Suggestionskraft, mit der er Tiere und Menschen zu bezaubern wusste. Wer heute noch wie der legendäre Sänger in Konkurrenz zu den Göttern tritt und zur Rettung seiner Geliebten in die Unterwelt abtaucht, kann nur scheitern. Denn was einmal als Unheilsgeschichte begann, das verschärft sich in der poetischen Wiederholung zum apokalyptischen Alptraum.
In der antiken Erzählung will der Musensohn Orpheus mit der überwältigenden Macht seines Gesangs die dem Tod geweihte Eurydike aus dem Hades wieder ans Licht der Oberwelt holen. Er geht der Geliebten voran, hat sie fast aus dem Hades herausgelotst, kann aber im entscheidenden Moment der Versuchung nicht widerstehen und tut das Verbotene: Er wendet sich nach seiner Geliebten um – das wird Eurydike zum Verhängnis, sie gerät endgültig in den Bann des Todes.
Der Dichter Jean Krier kehrt in seinem Gedicht „Mort subite“, einem der intensivsten Stücke seines Bandes Herzens Lust Spiele (2010), die antike Konstellation vollständig um: Nun ist es der körperlich und seelisch schwer versehrte Dichter, der seiner voranschreitenden Geliebten folgt – die ihrerseits keine Sekunde daran denkt, sich nach dem beschädigten Orpheus und all seinen „Gebrechen“ umzusehen. Der Dichter folgt der singenden Eurydike in düstere Vorstädte, in eine zerstörte Welt voller Schutthalden und „Straßenzügen voller Feuer u sterbender Falter“. Es ist, wie sich am Ende des Gedichts offenbart, ein böser Traumwald, bevölkert von Schlangen und Dämonen der Großstadt. Aus diesem heillosen Szenario gibt es kein Entrinnen.
Jean Kriers Abgesang auf Orpheus entfaltet in seiner Melodik und Motivik die schwarz gefärbte Klang- und Bilderwelt seiner jüngsten Dichtungen. Es ist eine Rhapsodik der Sterblichkeit, eine sinnlich-barocke und todesumwehte „Herzkammermusik“, die hier eine kunstvolle Form gefunden hat. Der 1949 geborene Jean Krier ist seit Jahren der einzige luxemburgische Schriftsteller, der in den deutschen Feuilletons wahrgenommen wird, freilich ohne dass man seinen literarischen Rang auch nur annähernd erkannt hätte.
Es ist das sattsam bekannte Problem mit der Selbstverblendung des deutschen Literaturbetriebs. Wer seinen Schreibort nicht in die Metropolen verlegt, sondern sich für die Peripherie entscheidet, wird mit dem Entzug öffentlicher Aufmerksamkeit bestraft. Jean Krier hat in den 1970er Jahren in Freiburg im Breisgau Germanistik und Anglistik studiert, bevor er in Zeitschriften und Anthologien seine langzeiligen Elegien zu publizieren begann. Er lebt und arbeitet bis heute im kleinen Großherzogtum. Es verwundert wenig, dass ein skrupulöser Autor wie Krier, der sich den hektischen Publikationsrhythmen des Literaturbetriebs verweigert und sehr lange und in äußerster Akribie an einem Gedichtband arbeitet, große Schwierigkeiten hat, einen Verlag zu finden, der sein Werk über einen längeren Zeitraum betreut.
Nach dreißig Jahren scheint er nun aber im Leipziger Poetenladen eine verlässliche Heimat gefunden zu haben. Die späte Würdigung seines Werks mit dem Adelbert von Chamisso-Preis der Robert Bosch-Stiftung, der ja an deutsch schreibende Autoren mit nicht-deutscher Herkunft verliehen wird, bestätigt eher seine literarische Randlage, als dass sie endlich aufgehoben würde.
Bereits in seinen ersten beiden Gedichtbänden hatte Jean Krier eine ganz eigene fluide Versbewegung entwickelt, die von der Technik der Langzeile lebt und darin äußerst reizvolle Mischungen aus erhabenen Anrufungen, Poesiezitaten, Redewendungen, rauen Textfragmenten und Wortfindlingen integriert.
Seit 1995 hat er vier Gedichtbände publiziert, wobei er in seinem jüngsten Band Herzens Lust Spiele, mit seinen Rückgriffen auf das Alte Testament und die Apokalypse des Johannes und den fatalistischen Verweisen auf Hölderlin, Benn, Büchner, John Ashbery und Michel Deguy eine Intensität des Vergänglichkeits-Gesangs erreicht hat wie kaum ein anderer Autor der Gegenwart.
In seinen formal so eigensinnigen wie suggestiven Gedichten wappnet sich Krier mit einer unversöhnlichen Desillusionierungskraft und einem scharfen Sarkasmus, um die desolate Lebenswelt unserer Gegenwart kenntlich zu machen. Der sprachliche Friede, erklärte Krier vor Jahren in einem Gespräch mit Joachim Sartorius, werde in seinen Versen verweigert, stattdessen bahne er sich über notwendige Dissonanzen einen Weg ins Heillose.
Freilich haben sich die thematischen und formästhetischen Schwerpunkte dieses Dichters im Laufe der Jahre verschoben. In seinen Gedichtbüchern Sehstücke (2002) und Gefundenes Fressen (2005) dominierten noch die Emphasen des Visuellen, die sinnlichen Wahrnehmungen in der Begegnung mit seinem Sehnsuchtsort, der Ile D’Ouessant an der bretonischen Küste. Es ist etwas Schwereloses in diesen älteren Gedichten, eine Fließbewegung, die aus maritimen Quellen kommt. Sie halten hartnäckig Kurs auf das Meer als absoluten Ort der Träume.
In seinen Sehstücken präsentiert sich Jean Krier als ein Autor, der mit seinen Gedichten eine Fusion von zwei Unendlichkeiten anstrebt – eine Fusion von Sprache und Ozean. Er schreibt Gedichte, die in ihrer rhythmischen Bewegung und ihrer vokabulären Textur ebenso fluid sein wollen wie die Wellen des Meeres. Die Landschaften der Ile D’Ouessant, die auch in seinem todesbesessenen Band Herzens Lust Spiele in einem eigenen Kapitel besungen werden, halten offenbar alle Ingredienzien des Utopischen bereit: die Weite, das unberechenbare Spiel des Windes, das Blau des Himmels und den „Schaum der Tage“, den Krier in einer Anspielung auf den anarchistischen Dichter Boris Vian heraufbeschwört.
In Kriers Gedichten überlagern sich deutsche und französische Sentenzen, eine poetische Gratwanderung auf der Sprachgrenze, die der Dichter in einer stetig verfeinerten Artifizialität absolviert. Die scheinbare Leichtigkeit der Naturbeschwörung stößt indes immer häufiger an die Grenzen einer grausamen politischen und anthropologischen Wirklichkeit. Auf schwelgerische Anrufungen des Meeres, wie sie besonders in den Sehstücken zur Geltung gebracht werden, folgen in immer bedrängenderen Bildern und immer dichterer Folge lyrische Evokationen des Todes.
Im ersten und stärksten Kapitel des Bandes Gefundenes Fressen, der Motive einer existenziellen Selbstbesinnung versammelt, ist es der Tod der Eltern, der das lyrische Ich im „Schaum der Tage“ aufschrecken lässt. Vor der Kulisse des unendlichen Meeres tauchen in kleinen Erinnerungsblitzen die Gestalten der Mutter und des Vaters auf.
So auch im Gedicht „Sind Schäume“:
Wäre Mattigkeit danach und sanfter langer Schlaf.
Aber Totengelage am Strand u alte schlaffe Haut.
Der Vater kam immer nach Haus. Kein Stein
auf dem andern. Aber Schweiß. Zum Überlaufen
in der Scheune hinten das Fass. Mutter u Mutter
schöpften schwitzend u keuchend. Totengelage
von der Dämmerung bis. Als wäre noch Herbst
und die Blätter fielen von ganz. Und einer, der
holte die Kastanien aus dem Feuer. Plötzlich
steht er auf der Düne oben, sieht sich, wie er oben
da steht und wie er sich oben da stehen sieht.
In den Reisebildern dieses Bandes scheint sich das Ich nach einer Überfahrt übers Mittelmeer ganz in Schwärmerei zu verlieren. Ein Gedicht über Tunesien beginnt so:
So ist Gott groß aber an solchem Tag, wo der Himmel
so tief oben wie das Meer und ein Nachmittag ist.
Aber wer genau hinschaut, der wird der düsteren Unterströmung auch in jenen Gedichten gewahr, die die tunesischen Glücksversprechen in sich einströmen lassen.
In Jean Kriers Gedichten werden immer verstörende Signale gesetzt, die auf die Ankunft des Schrecklichen deuten:
Der Tod ist heiß u weiß,
die Verstorbenen wollen ans Licht.
Wer nach dem Gang durchs tunesische Paradies am Ende des Textes angekommen ist, wird jäh mit der Datierung des Gedichts an den „heißen und weißen Tod“ erinnert. „Tunesien an Ostern“, heißt es da, und man darf das als Fingerzeig auf den El Kaida-Anschlag im tunesischen Djscherba lesen, der im April 2002 alle exotischen Blütenträume des Westens platzen ließ.
Diese subtile Verflechtung des Naturschönen mit dem politisch Schrecklichen oder biographisch Traumatischen kann man auch in den Herzens Lust Spielen beobachten. Hier ist das im Titel aufgerufene Herz nicht mehr die übliche Chiffre für die Passionen und Emotionen eines liebeshungrigen Ich, sondern primär ein verletzliches Organ, das ein in den Grundfesten erschüttertes Ich mit der Todesnähe konfrontiert.
Das Buch beginnt als emphatisches Gespräch mit den Toten, die von den politischen Barbareien des 20. Jahrhunderts verschlungen wurden, und weitet sich dann aus – in dem für Krier so typischen elliptischen Stil – zu einer universalen Todes-Reflexion, in der das Ich die großen Dichterkollegen der Moderne anruft, „um Ordnungen zu schaffen jenseits der Toten, / die aus dem Boden sich auflösen locker u dir in die Wirklichkeit treten“.
In einem eigenen Kapitel werden die Klinikerfahrungen des lyrischen Subjekts beschworen, dem das „beigepasste Herz“ von der Zerbrechlichkeit des Leibes und des Lebens zeugt. Oft flattern hier unheilvolle Engel mit schwarzen Flügeln durch die Verse, das Weltgefühl des versehrten Ich wird geprägt durch Becketts Fin de partie – ein „Endspiel“, das bis in die eigene Finalitätsgewissheit durchschlägt.
So entwirft Jean Krier immer wieder in blendenden Bildern von Schrecken und Schmerz Passionsgeschichten, in denen sich die Erfahrungen mit seiner schweren Herzkrankheit mit biblischen Visionen mischen:
Und das ist Heimkehr in diesen glänzenden Saal, wo
die Kinder mit großen Augen am Tisch u in den Betten
die Toten mit ihren Kanülen und Schläuchen. Den Mantel
ablegen u nackt sein, wo Musik sonst erklang. Die Tür
öffnen u da seltsam ineinander verschobene Gegenden,
wo der schrecklichste der Schrecken oder du endlich,
mein Engel: wie du mich aus dem Hafenbecken, wie
ich blutete an Händen und Füßen. Sieh meine Narben
u hör.
Mitunter entsteht der Eindruck, dass diese daseinsbitteren Gedichte die Apokalypse bereits hinter sich haben, denn auch das „Endspiel“, respektive das „Ende vom Lied“ wird verabschiedet:
Lass schnauben, lass Totentanzbeine dann schwingen
– das ist das Ende vom Lied vom Ende der Zeit.
Finalitäten also, soweit das Auge reicht? In einem Petrarca-Gedicht des Bandes Sehstücke hat sich das lyrische Ich Jean Kriers dereinst für „resistent“ und „renitent“ erklärt, ein markanter Hinweis auf die Beharrlichkeit eines Poeten, der in bösem Fatalismus die Lage des Menschengeschlechts besichtigt. In einem Merkmalkatalog für Dichter des 21. Jahrhunderts sind diese beiden Widerständigkeiten Jean Kriers jedenfalls als Primärtugenden einzutragen: Resistenz und Renitenz.
Michael Braun, die horen, Heft 241, 1. Quartal 2011
Wer frische Luft atmen will, braucht Jean Kriers neues Buch Herzens Lust Spiele. So etwas hat man hierzulande noch nicht gelesen. Besser gesagt: So etwas liest man hierzulande nicht. Kein Wunder – der deutschsprachige Dichter lebt in Luxemburg. Dabei sind seine Texte gar nicht so froh und sorglos und dennoch strahlen sie bei aller Ernsthaftigkeit eine unbeschwerte, lebensbejahende Fröhlichkeit aus. Diese Fröhlichkeit ist fragil und aus vielen authentisch anmutenden Krisen gewachsen.
Sprachlich gesehen werden kunstfertig Wortfindlinge, Textsplitter, Zitatsprengsel und Satzstummel aus allen möglichen Kontexten zu einer völlig neuartigen Textur verwoben. Jean Kriers Sprache wirkt jedoch nicht nur recycelt: Alles, was er findet, wird auf äußerst reizvolle Art eingebaut, verwertet und eingearbeitet in einen erfrischenden Sprach-Kosmos, bei dessen unerwarteten Schwenks einem die Spucke wegbleibt. Krier baut aus dem vorgefundenen Wortmaterial immer Sinnreiches und Unerhörtes. Der Autor geniert sich nicht, alles herzunehmen, was (un-)heilig ist; da wird sogar hin und wieder der Tonfall des Alten und Neuen Testamentes gesampelt. Alltägliches neben Tabuisiertem, Globales wie Privates wird zusammen mit politisch Hochbrisantem und historisch Heiklem – ohne (wie es heute üblich ist) soundso viele Filter durchlaufen zu haben und politisch bis zur Inhaltslosigkeit korrigiert worden zu sein – lakonisch bei den Hörnern gepackt und nonchalant zu Papier gebracht.
„Ich lebe doch – sonst wäre nicht Welt, u muss / noch hinaus zu den Toten, sie zu wecken u wenden, / die im Viehwaggon da, dass sie mal andersrum / u ab in die Fabrik oder gleich in den Ofen u / leichtbeschwingt durch den Schornstein, sonst wär / die andere Welt (…)“ schreibt Krier gleich im allerersten Gedicht seines Bandes mit dem Titel „Une incroyable façon de nous faire mourir“ (Eine unglaubliche Art, uns sterben zu lassen), bezogen auf ein Zitat von Michel Déguy. Etliche französische und lateinische Einschübe erscheinen zunächst als etwas irritierend, aber bremsen den Lesefluss nicht wirklich ab: Sie sind ein Kann, niemals ein Muss. Obiger Text endet mit der lakonischen Verszeile:
Wie gut u leicht haben ohne Welt die Toten doch reden.
Genau das fasziniert immer wieder an diesem Buch: Mit welcher Leichtigkeit derlei tiefsinnig Absurdes einfach hingeschrieben wird, was doch inhaltlich ein kleiner Eklat ist.
Das Aufschichten und Montieren von Sprachmaterial geht über ein bloßes Sampling weit hinaus, da infolge der Textmontage auch immer wieder der syntaktische und semantische Fluss gebrochen wird. Hierin ist Jean Krier aufregend kühn, ungeheuer konsequent, mitunter eiskalt und radikal. Er weicht der Ästhetik des Ekligen gerade nicht aus, sondern zeigt hochbrisante Inhalte.
Leichten Fußes am Waldrand u Zärtlichkeit, ach wie
junges Grün, während im Haus, wo
ein Mann, Schlag u Geschrei. Im Flur
Erbrochenes u Blut, an den Wänden
obszönes Geschmier. So tobt es mit mir
durch mein Hirn.
Kriers Dichtung ist außergewöhnlich, originell und eigenwillig und nimmt zu keinem Zeitpunkt irgendein Blatt vor den Mund. Sie konstatiert sehr deutlich, dass letztlich nichts konstatierfähig ist.
Kaum zu ertragen zwischen
Vögeln u Flut die Spannung dieser Musik. Diese gottverdammte Geige.
Un talent absolument fou im Sitzen, Warten, Furzen. Bist du aber bereit
zu dieser Opposition?
Stellenweise bekommen die Texte etwas Irres und fast Hysterisches, sind zwischendurch provokativ und bewusst blasphemisch und scheren sich gar nicht um allzu zart besaitete Leser, wenn sie in „uralte Schmerzensspalten“ langen.
Ganz langsam wachsen nun Wunde
und Welt mir wieder zu.
Die Texte sind stets so feinsinnig und vielfältig, dass sie immer noch einige Nebenbedeutungen in der Hinterhand haben, die man selbst bei mehrfacher Lektüre längst nicht alle entdeckt hat.
Kriers Gedichte zeigen schonungslos auf, was geht und vergeht. Sie sind dabei selten larmoyant und nie melancholisch; immer kontert stattdessen eine heitere, gewitzte Selbstironie. Die Texte sprechen ihre Inhalte aus, sagen direkt, was sie meinen und behalten dabei immer noch ein Geheimnis für sich. Redewendungen aus dem alltäglichen Gebrauch werden umgekehrt und verfremdet. Hier wird solide und mehrschichtig orchestriert. Hier wird überraschend virtuos gedichtet. Hier werden Konflikte benannt, hier werden sogar Utopien verschnitten und ad absurdum geführt.
Zur Hölle mit der Freiheit: Schreien sie, sobald in der Sprache kocht das Meer
u müdes Abwinken, die Träume suchen das Weite,
wo Dunkles aufgehoben gut u Ausscheidungen nicht
der frühen Jahre überzeugen, obwohl auf der Straße
Boris hüpft u singt u klacken die Absätze der Frauen.
Du spürst, wie der alte Stein an der Schläfe pulst.
Postutopisch lebt sich’s besser. Die lyrische Stimme bei Krier ist sarkastisch und gleichzeitig anrührend ehrlich. Utopien sind passé. Die Stimmungslagen wechseln schnell, „obschon du doch frei bist, / neue Konstellationen zu schaffen u hinter jeder Tür / unter Anrufung des Herrn dein Süppchen zu kochen“. So finden sich auch Anklänge und Zitate aus der Apokalypse – dem Ende des Neuen Testamentes. Doch auch die Apokalypse haben die Texte schon hinter sich und so möchte man eigens das Wort postapokalyptisch erfinden – da sie von Endzeitgedichten (mit ihrem entsprechenden Sound) weit entfernt sind.
Lass schnauben, lass Totentanzbeine dann schwingen
– das ist das Ende vom Lied vom Ende der Zeit.
„Seh dir, Engel, für immer nach. Bring vor dem Eingriff, / dem letzten, bitte, die Flaschen noch zum Container“, lesen wir am Ende eines Gedichts mit dem witzigen Titel „In der Dezembergegend“. Hier schreibt ein 60-jähriger Dichter, mit einem lakonisch-bitteren und ebenso heillos gut gelaunten Blick auf das Leben. Die lyrische Stimme hat so vieles schon hinter sich, dass es eine Freude ist. Es ist überhaupt erstaunlich, was diese Gedichte alles schon hinter sich haben! Allzu jugendliche Hoffnungen, die meisten Lebens-, Beziehungs- und Sinnkrisen, den (altersbedingten?) Frust im Bett, den 60. Geburtstag, den Glauben an die Politik, an das eigene Glück, das Trauern um die eigene Vergänglichkeit, den Glauben an Gott, an die katholische Kirche und die verbesserbare Welt. Nein! Die Dinge liegen, wie sie liegen, die Welt ist, wie sie ist. Jean Kriers Dichtung ist hierin postpathetisch, postsemantisch, postsyntaktisch… und so könnte man noch eine ganze Reihe höchst erfrischender Post-Komposita erfinden. Fazit: So etwas liest man hierzulande (noch) nicht. Weil hierzulande keiner so etwas schreibt.
Es wird Zeit,
den Fisch in die Sonne zu werfen. On s’amuse bien ici.
Kristoffer Cornils: Eine Vielzahl von Rissen behauptet
fixpoetry.com, 13.8.2011
NACHRICHT IN NACHT
I
jean krier ist tot ich wusste nichts davon
es ist ein winter in dem eulen näherrücken
ich war schon früh ins bett gegangen
die harte kälte macht sehr anfällig für schlaf
doch las noch in dem band krierscher gedichte
am morgen eingetroffen freudenmeister mir
las mit dem sparflämmlein der taschenlampe
nur so dringt dunkelheit ihr licht wie ihrs gebührt
ins zimmer und blätterte danach im frischen
sammelband der dichter fand hinten jene zeilen
nachricht in nacht es ging so schnell ich konnt
nichts tun der name krier sprang um auf krieg
ich hielt die ohren zu aufschrie ich nahm neu wahr
das bild von einem kind gemalt zurückgelassen
angepinnt vis à vis vom bett rotschwarz gefleckt
sirenenknäuel mit ihren lauten aufgescheuchten linien
II
die eulen aufgerückt in baumlöchern felsspalten
ums haus sehn wir die köpfe der huuhkajas
die aus dem hofkreis nicht herausfinden an stirn
und schläfen ährenschmuck krächzende huuhkajas
jean krier ist tot wie hätte ich ruhig schlafen können
ich musste in der nacht oft raus und öffnete dabei
die außentür weil mir geträumt hatte was ist
was eine trauer ist a grief betrat die offene holztreppe
den mitleidssockel hab in das fahle tal gelauscht und
hoch zum wald fühlte mich eisig und windig und
wahr fast dreißig kältegrade krieg führt der winter
mit dem märz will sich gebiete dazugewinnen
in eismulden hocken die tiere verlieren ihr leben still
ab und zu schreie die echos werfen welche gefrieren
die kerze hing an der wäscheleine leitlaterne durch
nacht stärker schien sie als die fitzlichen sterne
da fühlte ich fest dass es erst greinen doch später
grünen würde im mai und aus jean kriers
gedichten sprosse trieben winkende hände die blätter
III
das nordlicht erschien floss überraschend herab und
tobte wie ein migräneanfall der den himmelsschädel
unter krämpfen reinigt zu guter letzt durchsichtig
macht das licht war erst weiß und lila gebändert
farbe der einkehr des leidens schnelles changieren
lammzahmes ziehen und eine taube glitt herab aus
schierem grün jean krier war schon entrückt und
aufgebahrt im all auf einer art behelfstrage man
meinte ein kreuzstab seis auf dem krier lag aber nicht
beileibe eine sommerliege oder ausgehängte tür
mit einem runddach über kopf und brust aus
schleierigem stoff wie der von stubenwagen wie
das schattenspendende netzgewölke des sommers
erst schiens er lebe nicht es ging jedoch nur
um des schlafes bruder mit geschlossenen augen ruhen
ein weinen war zu hören kämpfte sich durch die stille
und ähnlich rhythmischem und unterdrücktem lachen
das aufkreischt eilends abgedunkelt wird
jean krier ruf ich und alle schmerzgeschöpfe
welche ihr er prophezeite er sah voraus aber wohin
und gerettet wohin die einsamkeit nur
potenziert eine autarke passion und fehlten denn
des schiffleins ruder und jetzt wo das nordlicht
allmählich erlischt hier in dem hofkreis die huuhkajas
sitzen mit ihrem ährenkranz dem schmuck- und
ehrenkleid der eulen zerbricht der bannkreis
ja sie fliegen sich bald frei
die stimmen lassen sich will sagen tausende von
kilometern hören nur wenn man neben ihnen ist
wirken sie seltsam zurückgenommen wie erstickt
bub o bub1 o trauergeister weichet nicht und singet
Dorothea Grünzweig
Jürgen Ritte: Laudatio auf Jean Krier zum Adelbert von Chamisso-Preis 2011 am 16. März 2011 in München gehalten.
Jean Krier liest aus Herzens Lust Spiel.
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