DIE SCHEUNE
1
Krähen taumeln im Sturm, nachmittags
ein Fensterfilm
vom Widerstand der beachtlichen Bäume
Anfang einer Handbewegung
einer Erkundung
2
Reste des Spiegel-Gedichts. Die Scheibe zerkratzt,
der abgeblätterte Rahmen, der den Zaun
ausbeult. Spur
durch ein Gedächtnis; die Fläche ward
leer, als im scharfen Frühjahr
die Schrift riß
3
aufsteigende Sätze
die entstehenden Geräusche werden verwendbar
leerglaufene Blockzeiten
Frost hat vernichtet das Efeugewächs
Frieden bewahrt der Friedhofsschnee
nie Trommler war der Regen
ein leichtes Gewehr
(…)
Die meisten seiner neuen Gedichte hat Jürgen Becker, und das ist an der Schreibweise dieses Autors nicht neu, im Sinne eines fortlaufenden Journals, einer poetischen Erzählung geschrieben, und das heißt, diese Gedichte sind weniger in vereinzelten Augenblicken entstanden, sondern in Schüben, in Phasen, die sich ausdehnen zu einem lyrischen Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist von lauter Widersprüchen bestimmt; das zeigen die sechs Kapitel des Buches mit ihren sehr unterschiedlichen Methoden und Techniken des Schreibens. Und diese Widersprüche gründen wiederum in den Gegensätzen der Erfahrungen und Bewußtseinslagen, der Eindrücke und Erinnerungen, der Beobachtungen und Imaginationen, die das Entstehen der Gedichte begleitet haben, ihnen vorangegangen sind. Vermittlungen finden statt in dem Maße, wie der Autor in seiner täglichen Existenz die Verschmelzungen von Stadträndern und umgebender Landschaft wahrnimmt, aber diese Vermittlungen sind nicht von harmonisierender Art. Verstörungen werden erkennbar; eine stille und traurige Wut spricht sich aus, wo der tägliche Lebensbereich von Menschen, die Landschaft, zwischen „Gläsernen Gebäuden“ und einer abgelegenen „Scheune“ planmäßig, gesetzmäßig zum ökologisch zerstörten und ökonomisch forcierten Ballungsraum verkommen ist. Indessen lassen die neuen Gedichte Jürgen Beckers alle ökologischen Klagen wiederum hinter sich. Offensiv wird eine Tendenz, die in den vorhergegangenen Schriften des Autors schon kenntlich geworden ist: die Tendenz zu einer sprachlichen Sur-Realisierung der wahrgenommenen Geschehnisse und Erscheinungen. Es ist ein deutlicher Veränderungs-Impuls, der hier die Wörter in den Bereich der Imagination steuert, und dabei werden Ressourcen von Bildern und Metaphern entdeckt, die die Möglichkeiten der Poesie zu erneuern verstehen. Die Suche nach dem „unbekannten Text“ macht eine Unruhe spürbar, die mit der Sehnsucht nach Stille und Zurückgezogenheit nach dem Unvertrauten, vielleicht auch bloß Vergessenen und Verschütteten verlangt. Spuren werden gesucht; Spuren, die ebenso konkret wie metaphorisch aus der Geschichte, den Legenden und Chroniken herausführen und im Schnee, in der Nacht verschwinden; Spuren, die sich schließlich in Wortbilder projizieren.
Odenthals Küste: so erklärt sich der Titel des Buches als Ergebnis einer Imagination. Wer die kleine rheinisch-bergische Gemeinde auf der Landkarte findet, findet in der Nähe kein Meer, keine Küste. Nur das prähistorische Gedächtnis weiß, daß vor Millionen von Jahren dort das Meer an eine Küste schlug, die der Autor, von seinem Fenster aus, in der gegenüberliegenden, auf dem Umschlagphoto von Rango Bohne sichtbaren „Küste der Wälder“ wiedererkennt.
Suhrkamp Verlag, Klappentext von Jürgen Becker, 1986
Den Klagenden schlägt keine Stunde mehr. Ihre Sprache, scheint es, ist ausgestorben; ihre großen, schweren Wörter, Wörter wie Liebe, Elena, Tod, Rettung, Glanz, Gestirn, in denen sich alles sammelt, was wir nicht als täglichen Wortbrei kauen, sind aus der Sprache verschwunden wie die Adler aus der Landschaft, vielleicht, weil sie wie diese Raum brauchen, Sprachräume für Unbehaustes und wildes Denken, weil sie nicht anspruchslos sind wie der vermeldete und versachlichte Kleinkram, das Mediale, das sich duckt und weiterspricht. Auch die Landschaft der Worte ist zersiedelt, eingemeindet, planiert; nur der Konjunktiv, die Umgehungsstraße der Grammatik, führt noch an den aufgegebenen Bedeutungen vorbei. Was für die Welt von gestern das Museum, ist für die lyrische Sprache der Kitsch, ein Reigen konservierter Ausdrücke in langsamem Verfall, die sich nur noch vorzeigen und nichts mehr bezeichnen.
Es ist ein schwarzes Verschwinden…
Wer aber begänne noch, von Untergängen redend, in solchem Ton? Wer ließe sich verletzen vom Pathos statt von der gepflegteren Umgangsform der Ironie? Und doch scheint es, als wollte Jürgen Becker es mit dieser Zeile versuchen:
Es ist ein schwarzes Verschwinden: so
fängt eine Satzfolge an, mit der sich
ein Landschaftsentwurf verbindet,
eine Skizze, vielleicht die Möglichkeit
einer Erscheinung im Konjunktiv
reden wir.
Reden wir im Konjunktiv: von Wörtern, Gedichten, die es geben könnte, um den lautlosen Schrecken und die unblutigen Katastrophen der Gegenwart einzufangen, zu benennen, wenn die Gratwanderung entlang des Kitsches gelänge, von Landschaftsentwürfen, Skizzen, vielleicht der Möglichkeit einer „Erscheinung“. Vielleicht auch vom Tod, vom Verschwinden.
Landschaft, durch die der Wind
schleudert, gleichgültig, ob einer noch
da ist. Es ist eine Stimme, die hat
diese Landschaft erfunden, nun
teilt sie mit: such
nicht nach mir, auch ich werde gehen.
Jürgen Becker ist auf der Suche nach Wörtern und Bildern, die für Erscheinungen stehen, nach Stimmen, die etwas mitteilen, das der „Sprichwörterwelt“ nicht geläufig ist. Odenthals Küste heißt der neue Gedichtband des Vierundfünfzigjährigen, nach Odenthal, einem kleinen Dorf im rheinisch-bergischen Land, von dem schon ein Gedicht aus der früheren Sammlung In der verbleibenden Zeit erzählt, und nach einer Küste, die dort vor Jahrmillionen lag, als ein prähistorisches Meer sich bis in diese Gegend erstreckte. „Aus dem Schatten“ tritt, wenn die Phantasie ihre Arbeit beginnt, „das vergessene Meer“, das nur in der sprachlichen Vorstellung wahrzunehmen ist.
Nein, was Becker in den besten Gedichten des Bandes andeutet, in einer sehr gegenständlichen Sprache ertastet, gehört nicht mehr ins Photoalbum, auch wenn Photographie und Film noch immer zu den Leitmetaphern seiner Lyrik zählen („Sommerfilm“ heißt eine der sechs Abteilungen des Buches); „die Küste der Wälder“ ist „entrückt auf einen unsichtbaren Stern“,und die rostigen Stufen auf den „Treppen der Villa Malaparte“ führen „ins Blau“, ins Unsichtbare, Namenlose, auch wenn es nur ein Himmel ist, der „auf den Bildern knistert“. Mehr und mehr löst sich Becker von der Tagebuchform seiner früheren Gedichte, dem Registrieren und Aufspüren selbst beiläufigster Eindrücke aus der betonierten Winter- und Schattenwelt Kölns und des Rheinlandes. Die neuen Verse verschließen sich immer stärker vor dem Terror der Kommunikation, des Verständlichseinmüssens, und vor dem „mörderischen Äther“, der die lauten Tatsachen verbreitet:
meine Arbeit bleibt leise; nicht spürbar machen
kann
will ich Transistorprogramme.
Das lyrische Ich sucht Fluchtwege aus der Wirklichkeit, es verkapselt sich in sich selbst, ins Dunkel der Erinnerung – „ein Sack voller Bilder, / den ziehst du hinter dir her, in dein Hinterhaus, / in die lichtlosen Räume, um die Mitte herum / der einzigen Möglichkeit, der gnadenlosen Konzentration.“ Daß Becker um diese Konzentration, diese Mitte der „einzigen Möglichkeit“ immer noch ringt, daß seine Lyrik nicht am Ziel ist, kann man schon an der Unterschiedlichkeit der poetischen Techniken in den einzelnen Abteilungen des Bandes ablesen, die teils aus in sich abgeschlossenen, hermetischen Einzelstücken („Geländefahrt“, „Gläserne Gebäude“), teils aus assoziativen, wie eine einzige Gedankenkette ablaufenden Reihen („Die Scheune“) bestehen.
Diese kreisende, kaleidoskopartige Annäherung bewahrt Becker nicht vor Laxheiten wie der Wiese, die abschweift „wie eine Beschreibung“ oder der bemüht witzigen Etüde über die Seemannswelt: „Seehundsgesichter, / sie rauchen Torpedos; Altbauten, Clubs / getauscht gegen Felle und Chips. Der Erdteil / ist zu alt für den Blitzkrieg; Veilchen / aus China verschenken die Puffmütter / an die Matrosen“ und so fort. Aber dann gelingt sie doch einmal, die überraschende Fügung, die unvergleichliche Zeile:
Die Nacht platzt noch auf vielleicht gibt ein Stern zur Hälfte sein Licht ab
Nicht in den Beschreibungen, den Impressionen, sondern in den blitzartig aufleuchtenden Momenten äußerster Klarheit und sprachlicher Konzentration liegt die Stärke dieser Gedichte.
Die Epoche,
in der ich verschwinde, besteht
aus einem einzigen Augenblick, der sich dehnt,
überdehnt, unaushaltbar.
Das ist die tote, irreale Alltagszeit, die Krise der Erfahrung und des Gedächtnisses, der Becker manchmal mit lähmender Genauigkeit und kurzem metaphorischen Atem hinterherschreibt. Dann drängeln sich die Beobachtungen im Gedicht, ein poetischer Schnipsel sitzt am anderen, und die Titelzeilen, nacheinander gelesen, ergeben wieder ein beliebiges lyrisches Produkt:
Abends wildert noch einmal die Sonne
Nun schlängeln sich davon die Tulpen Nachmittags
Blaue Wiesen hinterläßt der Frost
Kehrt so der Winter zurück.
Jürgen Becker ist ein Routinier in der Kunst, zufällige Eindrücke und kleinste Geschehnisse aufzusammeln, lyrisch zu umklammern, aber wenn er, wie es gelegentlich in Odenthals Küste geschieht, die Details partout mit sinnbildlicher Bedeutung aufladen will, bekommen seine Pasticcio-Gedichte einen ungewollten Zug ins Ländlich-Idyllische, beinahe schon ins kritische Kunstgewerbe. „Die Schnecken saufen unser Bier und / sterben daran“: wohl bekomm’s.
Odenthals Küste: das ist die ins Gedicht gebannte Scheu vor den großen Wörtern und zugleich die Sehnsucht, sie wieder zu entdecken. Zwar bricht das Aufbegehren der lyrischen Reflexion gleich wieder ab, denn es ist „alles bekannt; es ist / ein Zitat: die imaginäre Schrift, die jetzt / übern Bildschirm huscht“. Aber die Unruhe, die untergründige Spannung hinter der beruhigten Oberfläche dieser Understatement-Poesie bleibt.
Die Resignation, die Beckers Verse ausströmen, geht nicht von den Dingen aus. Der Autor sieht sie in die Dinge hinein. Das macht diese Lyrik zum Gegenteil von Naturbeschwörung. Auch das Sommergedicht, die angestammte Form der Jubellyrik, atmet Winterstimmung; wer hier noch singt, hat nichts begriffen:
Die Kälte geht durch den Sommer.
Der singende Mann hat nichts begriffen;
er hört nicht auf und fällt nicht um.
Das Beil fliegt hoch, in den Bäum.
Das Schwierige gestern war eine Amsel.
Erst schlug die Uhr, dann schlug der Regen.
Wir hörten nichts und sagten nicht viel.
Fürs Feuer gedacht, das Gedächtnis, die Nacht.
„Fürs Feuer gedacht“: Vor Jahrmillionen lag bei Odenthal eine Küste. Vielleicht dauert es nicht ebenso lang, bis dort wieder ein Meer an die Ufer schlägt.
Der Kölner Autor Jürgen Becker hat in Odenthals Küste 91 Gedichte in der Art eines fortlaufenden Journals geschrieben. Sie erzählen die Geschichte der Wahrnehmung einer Landschaft. In ihr sucht der poetische Sprecher seine eigene Gegenwart. Wer die oft rasch und tendenziös hingeschriebenen Öko-Naturgedichte im Ohr hat, erkennt sofort den Unterschied. Dieser Autor hat sich der Landschaft ausgesetzt, sich mit Haut und Hirn in die Landschaft eingelassen. Er erinnert ihre Geschichte, erleidet ihre Zerstörung mit. Wahrnehmung, Gedächtnis, Kompassion gefügt in den Vers: die Möglichkeiten des Dichters.
Odenthal ist ein Ort im Bergischen Land. Einer mit prähistorischem Wissen weiß, daß dort vor Millionen Jahren das Meer an eine Küste schlug. Von seinem Fenster aus erkennt der Betrachter die Küste im gegenüberliegenden bewaldeten Höhenzug. Er ist ein einsamer und also geduldiger Betrachter. Er lebt mit dieser Landschaft. Etwas in ihm verändert sich mit den Veränderungen der Tageszeit, des Jahres, des Himmels. Etwas in ihm stirbt mit dieser Landschaft. Er beklagt die ausufernden Stadtränder, sieht den Rückzug, den Widerstand, die Zerstörung der Landschaft. Fast episch beschreibt der Autor seine Landschaft. Durch die Anschauung hindurch und durch den Bericht erscheinen Bewußtseins-Schichten des Betrachters. Der das Sterben einer Landschaft wahrnimmt, entwirft eine poetische. Über Abbild und Entwurf hinaus geschieht ein Drittes, die Symbiose von Sprecher, Angesprochenem, von Ich und Landschaft. Es ereignet sich etwas poetisch Dramatisches: die Geburt des wahren Bildes. Landschaft wird erinnert und gezeigt. Der Erinnernde atmet. Durch poetische Fensterbilder leuchtet Unendliches in den Raum. Die Bilder transzendieren.
Der Schluß der 91. Eintragung.
Ein schwieriger Weg; unsere Fahrspuren sind verschwunden
im Schneefeld, und mit den Spuren der Geländegeruch,
der mich so oft aus klimatisierten Systemen
zurückholt in diesen verzweifelt gehaltenen Landrest
den Besitz einer letzten Minderheit, die vielleicht überlebt
auf der Innenseite ihrer Imaginationen. Im sinkenden Licht
dieses Tages taucht eine Zuversicht auf, die frische Spur
meines Gehens, die aus dem Kreis der Verzögerungen
herausführt, an Zäunen vorbei auf Baumgruppen zu,
die von alten Hähern bewohnt sind. Im Rücken
die schützende Kette der Hügel; die Spur führt zurück
in eine begrenzte Umgebung, die sich geduldig
verhält und das Warten leichter macht als
die Vorschau aufs nächste Programm, das über die Sterne
in die verstummten Wohnungen zielt.
Die Läden knarren, und dieses Geräusch erzählt
vom absichtsvollen Alleinsein des nahen, entfernten Gehöfts.
Eine heisere Stimme, die sich selbständig macht,
mich trifft und zur Heimkehr bereit macht und
die nächste Minute dehnt sich. Unendliches Gehen,
das eine fortgesetzte Beschreibung verspricht,
sonst nichts verlangt, keine Augenzeugen im Dunkel
Paul Konrad Kurz, Bayerischer Rundfunk, 31.12.1986
– Laudatio zum Bremer Literaturpreis 1987, gehalten am 26.1.1987. –
Wenn ich an Jürgen Becker denke, einen im Hochhaus des Deutschlandfunks in Köln arbeitenden Hörspiel-Redakteur, den ich weniger als einen – wie es so erschreckend heißt – „in den Medien“ arbeitenden Kollegen kenne, sondern als Verfasser von Gedichten und Prosa-Texten schätze, dann sehe ich einen nur wenig älteren Mann vor mir, der am Fenster steht. Scheinbar ruhig, aber aufgeregt wach. Wenn er die Augen zusammenkneift, dann nicht nur, weil ihm der Rauch der fast nie ausgehenden Zigarette um Wimpern und Lider streicht, mit der er sich – neben der Klimaanlage – die „oberen Luftwege“ reizt, von so intimen Organen wie Bronchien, Lungen ganz zu schweigen, sondern vor allem, weil er angestrengt nach draußen schaut.
Ich war einmal in seinem Büro, das so trostlos anonym ist wie all die Kabuffs, in denen zu arbeiten, womöglich gar zu denken die sogenannten modernen Architekten uns zumuten. Und ich habe mich gefragt, als Jürgen Becker mich vor seine Fensterfront führte: Ja, was sieht der Mann denn da? Ich sah das Übliche. Glasfassaden. Hochhäuser. Die Trostlosigkeit von Verwaltungsbauten, aus denen oben nicht der Rauch von Jürgen Beckers Zigarette quirlt, sondern der Dampf einer Klima-Anlage. Und die Beton- oder Metall-Klötze, die als – wie es so schön heißt – „Kunst am Bau“ auf die verkümmernden Rasenflecken im Schatten der Arbeits-Türme gewuchtet sind, verstärken nur den Eindruck von Elend. Und „Elend“, das gute alte Wort, heißt im Mittelhochdeutschen „ellende“, heißt – wie wir im Wörterbuch lesen können:
fremd, verbannt, unglücklich, jammervoll.
Aus solchem Elend, solchem Jammer – man kann es nicht deutlich genug sagen – kommen Jürgen Beckers Gedichte, kommen seine Prosa-Texte. Odenthal, wahrscheinlich ein unfruchtbar ödes Tal mit sauren Wiesen benennend, ist der Name eines Dorfes im Bergischen Land, in das sich der Dichter Jürgen Becker zurückzieht, wenn er lange genug aus dem Fenster des Kölner Hochhauses geschaut, Briefe unterschrieben, in Manuskripten geblättert und etwas ins Mikrophon gehustet hat. Und was macht dieser Becker in Odenthal? Wenn er nicht in der Hängematte döst, steht er auch in einem Bauernhaus am Fenster – und guckt. Und schaut. Und versucht, in seinem Kopf die auseinanderstrebenden Eindrücke zu ordnen. So entstehen Gedichte. […]
Wer nicht genau liest, wer die syntaktischen Kühnheiten des neuen Buches gar nicht wahrzunehmen bereit ist, sondern das 150-Seiten- Buch mit dem Daumen liest, um zu befinden: kenn’ ich schon – der bringt sich um wichtige Erkenntnis. Ich meine nicht einzelne Sätze, einzelne Verse, wie sie aus jedem Lyrik-Band zu pflücken wären. Ich meine den Anruf solcher Einsichten, die den Panzer aufbrechen, hinter dem wir alle uns verstecken, um dieses immer ärmer werdende Leben – durch unsere Schuld ärmere Leben – überhaupt zu ertragen. So lesen wir in dem neuen Buch von Jürgen Becker diese Klage: „Täglich geht verloren / ein Stückchen Nochnicht“ oder den erschreckenden, das Nachdenken fördernden Satz:
Zeitweise kommt
das Gedächtnis aus der Entfernung der Wörter zurück
Hier ist auf seine immer sanfte, aber versessen erbitterte Weise ein Aufklärer am Werk. Der pfeift auf die nur „schönen“ Verse. Er tränkt sie mit der Trauer seiner Erfahrung. Der hält aus. Der steht am Fenster. Der schaut. Der registriert die kleinsten Veränderungen seines Lebensraumes. Der „konserviert“, ein lyrisch treuer Konservator, ein wahrer Konservativer, einen Landstrich, den er kennt wie kein anderer. Was Grass sein Danzig-Langfuhr, was Walser sein Land um den Bodensee, das ist Jürgen Becker die Kölner Bucht, das ist ihm „OdenthaIs Küste“. […]
Rolf Michaelis, aus Wolfgang Emmerich (Hrsg.): „Bewundert viel und viel gescholten…“. Der Bremer Literaturpreis 1954–1998. Reden der Preisträger und andere Texte, edition die horen, 1999
– Dankrede zum Bremer Literaturpreis 1987, gehalten am 26.1.1987
Wäre nicht heute der Geburtstag des Dichters, in dessen Namen die Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung ihre Literaturpreise vergibt, es wäre doch wohl niemand in Bremen auf die Idee gekommen, den Termin dieser literarischen Veranstaltung auf den heutigen Tag zu legen, auf den Tag nach der Bundestagswahl. Welcher Partei auch Sie Ihre Stimme gegeben haben, der Ausgang der Wahl wird Sie an diesem Mittag sicher noch beschäftigen, mehr als die Vergabe eines Literaturpreises, als die Feier für einen Poeten.
Aber so geht das: Mit der Poesie werden auch ihre Feiern von den realen Ereignissen mitunter eingeholt; man kann noch so stur darauf beharren, daß die Poesie ihre eigene Realität stifte, die politische Realität bleibt niemals draußen; sie mischt sich ein noch in die stillste Stunde, in die entrückte Entstehungs-Zeit eines Gedichts.
„Das Gedicht ist nicht zeitlos“: So sagte es, hier in Bremen, Paul Celan, in seiner Dankesrede am 26. Januar 1958. Während ich an diesen Zeilen des Dankes schrieb, hörte ich wieder Schüsse fallen, draußen in der gegenüberliegenden Landschaft, die dem Gedichtband, den Sie mit Ihrem Preis auszeichnen, den Titel gegeben hat: Odenthals Küste. Die Schüsse in den Wäldern galten nicht Menschen, aber doch Karnickeln; Schüsse von Jägern, vergleichsweise harmlose also, Geräusche einer atavistischen Leidenschaft. Sie setzten in Gang, was so oft das Entstehen eines Gedichtes bestimmt, nämlich Assoziationen, Erinnerungen, Bewußtseinsvorgänge, die etwas vergegenwärtigen, was nicht unmittelbar hörbar, sichtbar, spürbar ist. Die Schüsse, die immerzu irgendwo auf der Welt abgegeben werden, und zwar auf Menschen, nicht auf Rebhühner, ich höre sie nicht, und sie lassen mich ruhig schlafen. Im Bewußtsein indessen werden sie kenntlich, diese Geräusche der Sprachlosigkeit, die das Signal dafür sind, daß wieder einmal keine Sprache hinreicht, um die Konflikte zwischen Menschen zu regeln.
Daß mir, dem Poeten, die Sprache für Gedichte geblieben ist, erscheint mir ebenso wunderbar wie absurd. Sie ist ja kein autonomes künstlerisches Material. Mein Kanzler benutzt sie für historische Vergleiche, mein Pfarrer für die Bergpredigt, mein Arbeitgeber, der Rundfunk, für die Balanceakte der Ausgewogenheit. Wozu Sprache dient und wessen sie fähig ist, sagen uns Kriegs- und Liebeserklärungen, Drohbriefe und Mietverträge, Parteiprogramme und Postkartengrüße.
Die Sprache für mein Gedicht: Ist sie eine bessere, ist sie unschuldig und rein? Ich benutze dasselbe Repertoire wie der durchschnittliche Deutsche, der, nach wissenschaftlicher Erkenntnis, einem Satz nicht folgen kann, der mehr als 13 Wörter hat. Daß die Sprache meiner Gedichte „unbestechlich“ sei, ich lasse mir das von der Jury dieses Preises gerne nachsagen, jedoch, ich kenne da auch meine Skrupel. Sprache, nicht zuletzt die in lyrischer Redeweise sich äußernde, ist durchaus bestechlich, und zwar durch ihre Mittel selber. Wo folge ich nicht dem Sog der klangbaren Schönheit, wenn doch die Anzeige des Entsetzens angemessen wäre? Wann bestechen mich nicht die Möglichkeiten der Metapher und die Bewegungen des Rhythmus, wo die Angst nur ein hilfloses Stammeln hervorbringen möchte? Der Verführbarkeit von Menschen, an die Sprache sich wendet, geht die Verführbarkeit derer voraus, die Sprache herrichten, manipulieren, zum Beispiel in Form eines Gedichts.
Unsere Berufsehre verlangt, daß wir Dichter die Sprache genauer kennen und sensibler benutzen als Zeitgenossen, die täglich einfach so reden. Unser Anspruch geht so weit, daß wir uns für die Inhaber halten des sprachlichen Gewissens, der sprachlichen Moral. Aber wir wissen es auch am besten, wann wir mogeln, Hokuspokus treiben, wann wir lügen, und das heißt auch, in welche Fiktionen wir zu fliehen und mit welchen artistischen Tricks wir uns zu retten versuchen –: vor dem Gespenst des Verstummens.
In Wahrheit besitzt der Dichter die Sprache ja nicht, im Sinne eines Produktionsmittels, über das er jederzeit und souverän verfügen könnte. Mir geht es oft so, daß ich mir so ausdrucksfähig vorkomme wie ein Mensch, der noch gar nicht geboren ist. Schreiben heißt dann: die Sprache erst entdecken und mit ihrer Entdeckung eine Gestalt finden für das, was im Dunkel des Fühlens und Empfindens vor sich geht. Schreibend erst entdecke ich die Existenz meines Bewußtseins, die Mitteilungen meiner Sinne, den Inhalt meiner Erfahrungen. Und schreibend stoße ich auch irgendwann wieder an die Grenzen dessen, was Sprache benennen kann angesichts einer Realität, die immer weniger identisch erscheint mit dem Repertoire der Wörter und Sätze.
Vor allem, wenn es sich um eine Realität handelt, die zu erfassen nicht einmal unsere Sinne, unsere Erfahrungen ausreichen. Spätestens seit dem vergangenen Sommer wissen wir, daß etwas aus der Luft kommt, vor dem unsere Sinne uns nicht mehr zu warnen vermögen, was wir weder sehen und hören, noch riechen und schmecken können. Nur die Sprache der offiziellen Verlautbarungen hat uns erreicht, und sie hat lange abgewiegelt und uns getäuscht. Habe ich darauf mit einem Gedicht antworten können, und hätte es den Bruch mit jeder anderen Erfahrung, die Qualitäten einer furchtbaren Anonymität erkennbar machen können? „Der Begegnung mit dem Ungeheuren verschlägt es die Sprache“, so sagte es vor langem mein Kölner Kollege Albrecht Fabri. Aber es bedarf gar nicht fortwährend der Apokalypse, um vom Schweigen angehalten zu werden. Der Schock wartet an jeder Straßenecke, und wenn er ausbleibt, erscheint der Alltag wie ein Wunder. Indem wir, die Dichter, in jedem Fall weiterschreiben, gelingt es uns dennoch kaum, das Unvertraute in einen Bezug zu bringen zur Sprache, die wir alle kennen. Das Unvertraute, das so oft aus unseren Gedichten spricht, das ist nur die Rückseite des Vertrauten, der Abgrund im Alltag, das Vergessene in unserer Vergangenheit, das Verschüttete in der Erinnerung. Der „Unendlichkeitsanspruch“ des Gedichts, von dem Paul Celan am 26. Januar 1958 hier in Bremen sprach, er beginnt oft mit dem Nächstliegenden, das, genau besehen, eine erschreckende Dimension hat. Der Anspruch auf Unendlichkeit fordert das Hier und Jetzt heraus, diesen Augenblick mit seiner unendlichen Geschichte und seiner zu allem möglichen Zukunft. Die Poesie folgt diesem Anspruch, und das ist ein Weg, der an der Resignation vorbeizuführen hat, dieser stets lauernden Verführung zum Schweigen, und vorbei auch an der Hoffnung mit ihren gefährlichen Geschwistern, dem Bruder Leichtsinn und der Schwester Illusion. Indem Sie, in jedem Jahr, einen Dichter mit ihrem Preis auszeichnen, befreien Sie ihn von keiner Anstrengung, aus keinem Dilemma, aber Sie erinnern ihn daran, daß es auch eine Freude sein kann, mit Wörtern und Sätzen weiterzuleben.
Ich danke Ihnen.
Jürgen Becker, aus Wolfgang Emmerich (Hrsg.): „Bewundert viel und viel gescholten…“. Der Bremer Literaturpreis 1954–1998. Reden der Preisträger und andere Texte, edition die horen, 1999
– Über Jürgen Becker. –
I Ahrenshoop und Hamburg
Es war in Ahrenshoop an der Ostsee, wo ich Jürgen Becker zum ersten Mal traf, im Juni 1997. Nach der Lesung standen wir draußen vor dem „Kunsthaus“ und rauchten. Wir unterhielten uns über amerikanische Literatur, es ging um Donald Barthelme und um ein „international poetry festival“ in New York, die Nicolas Born zugeschriebene Abwandlung des Wortes in „international drinking festival“. Wir sprachen über den Sommer, das Wetter und die Reiseziele, ich sagte: „Irland, Dingletown…“ Ich glaube, Jürgen Becker erwiderte etwas wie:
Man kann ja nicht überall gewesen sein.
Dann fuhren wir zum Essen ins Nachbardorf, es gab Wildschwein vom Darß und „Lübzer Pils“. Ich erzählte, daß ich die Küsten-Wildschweine einmal nach Hiddensee hinüber hatte schwimmen sehen, mit steil aus dem Wasser stehenden Schnauzen. So, wie die Erwähnung von unbekannten, jedenfalls nicht selbst betretenen Orten das Gespräch zum Verebben bringen konnte, kam es umgedreht in Gang. Rügen, Hiddensee: wo gewohnt, was gesehen, wie verändert, trotzdem noch wie früher usw.
Wir fuhren über Panzerplattenwege durchs Hinterland des Darß, nah an der Boddenseite. Wenn ich Jürgen Beckers Gedichte heute lese, glaube ich, daß er das Wort Panzerplattenweg gern notiert hätte (wie Scherenfernrohr oder Meßtischblätter zwei seiner wiederkehrenden Lieblingsworte sind in den Gedichten). Ich glaube, daß es ihn interessiert hätte, daß Wege aus diesen konisch geformten Platten im Osten üblich waren für Verbindungen zwischen abgelegeneren Ortschaften. Wie ich Jürgen Beckers Gedichte heute kenne, glaube ich, daß er auch diese Gegend gern besprochen hätte: Vergleiche mit der Landschaft bei Prora, bei Greifswald, bei Stralsund, „der Anfang von einem Hineingehen in die Landschaft.“ Wir hätten aussteigen können, um uns die aus dem Stahlkorb hervorstehenden Eisen und die Prägungen in den Platten genauer anzusehen und darin etwas zu lesen von der Herkunft und dem Härtegrad des Betons, daneben die vom Regen gefüllten Mulden mit den Montierhaken am Grund und dem Ostseehimmel im Wasserspiegel:
Grosse, dann kleiner werdende Geographie.
Aber ich spreche schon aus der Leseerfahrung, damit bin ich zu schnell, und bevor ich mir weiter die Voraussetzungen eines Becker-Gedichts vorstelle, gehe ich einige Jahre zurück und erzähle, auf welche Weise mir Jürgen Beckers Schreiben zuerst begegnet ist. In Berlin, am Vorabend der deutschen Währungsunion im Sommer 1990, war ich bei der Dichterin Elke Erb zu Gast. Wir kamen darauf zu sprechen, was die neue Situation für einen Schriftsteller, der im Osten aufgewachsen ist, bedeutet. Genauer gesagt, kam die Frage auf, was wir gegebenenfalls nachzuholen hätten. Über dem Küchentisch, an dem wir saßen, hingen zwei Zeichnungen, Urwaldszenen, Elefanten mit Reitern; Elke Erb sagte: Was Du kennen solltest, sind die Traumdeutung C.G. Jungs und die Gedichte Jürgen Beckers. Einen Tag später, am ersten Tag der Währungsunion, fuhr ich nach Hamburg/Rothenbaum, wo wir eingeladen waren zu einem deutsch-deutschen Germanistentreffen, an dem diesmal auch „die jungen Leute“ teilnehmen sollten. Ich erinnere mich der qualvollen Situation, am Vormittag ohne ein gültiges Geld in Hamburg anzukommen. Die Reste meines „Begrüßungsgeldes“ – 100 DM hatte jeder Ostbürger nach Grenzöffnung gegen Vorlage seines Personalausweises einlösen können – waren längst aufgebraucht. Zu allem Unglück hatte ich die Anschrift (wie überhaupt alle „Konferenzunterlagen“) in Berlin zurückgelassen. In meinem Notizkalender fand ich die Telephonnummer eines Westkollegen, der, wie es im Vorfeld geheißen hatte, „für alle unsere Fragen und Probleme“ zuständig sein würde. Als wir uns trennten, erhielt ich noch einmal „Devisen“, gewissermaßen mein zweites „Begrüßungsgeld“ anläßlich meiner ersten wirklichen Reise über die ehemalige innerdeutsche Grenze. Unter anderem kaufte ich mir – und damit zurück zu Jürgen Becker – meinen ersten, im Titel seltsam treffenden Beckerband: Das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft (1988).
Ich erinnere mich, daß ich irritiert war von der lockeren Form dieses in fünf Abschnitte geteilten Großgedichts. Ich mochte lange Gedichte, das war es nicht, es war die Binnenstruktur, die Bauart des Poems. Ich dachte:
Ist das nicht zu unschlüssig, zu locker gemacht?
Die Tonart des Sprechens: mehr beiläufig, vieles klang so vor sich hin gesprochen, aus der gesprochenen Sprache, der alltäglichen Rede genommen, aus der das Alltägliche begleitenden Gedankenwelt und ihren sich wiederholenden Formeln. Wie gesagt, ich traf das Gedicht voraussetzungslos, ich meine, ohne Kenntnis früherer Becker-Texte, ohne Wissen um poetologische Grundsatzerklärungen, wie sie knapp dreißig Jahre vorher in „Gegen die Erhaltung des literarischen status quo“ gegeben und mit den frühen Texten („Ränder“, „Felder“, „Umgebungen“) umgesetzt worden waren. Ich las mich also unvorbereitet ein in das Gedicht, und langsam, sagen wir von da bis heute, fing ich an, mir Fragen zu stellen und einige Dinge zu verstehen.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa… täglich
die neuen Eindrücke; ein Langzeit-Gedicht, das
alle Korrespondenzen abgehört hat…? Der Ansatz,
das ist dieses Selbstgespräch, das sich auf
Tagebuchblätter verteilt, Zitate und Lageskizzen
bierdeckelweise mitnimmt; Bruchstücke abends am
Telefon, Gelegenheiten für Ansichtskarten und
ein paar Briefe…
aaaaaaaaaaaaadas schweigende Sprechen
im Kontakt mit den Heinkel-Piloten…
Zwischen den Terminen bei der Konferenz und den Spielen der Fußballweltmeisterschafts-Endrunde (als geschähe nicht genug auf einmal) fing ich an zu begreifen, warum es Elke Erb war, die auf Jürgen Becker hingewiesen hatte. Es betraf etwas, das ich bei Elke Erb unter Lebenstext verstanden hatte. Beckers Schreibweise war den „prozessual“ verfahrenden Texten Elke Erbs methodisch verwandt: sein Gedicht war ein die unmittelbaren und ferner liegenden Modalitäten des Schreibens fortschreitend integrierender Prozeß, eigene und fremde Stimmen wie Geschehnisse, Photos, Landkarten (immer dabei) sowie Einwürfe aus benachbarten Räumen, Post, Nachrichten, Wetterlage – und was sonst in den poetischen Einfallsbereich geriet. Ein Versuch, die „natürliche“ Disposition beim Schreiben ins Gedicht zu bringen. Die Offenheit der Struktur erlaubte dem Text, sich scheinbar selbst zu inszenieren, mit der Beobachtung seiner eigenen Bewegungen und Themen fortzufahren. In der Folge seiner Schritte wurden Wahrnehmungsverläufe und theoretisierende, mehr reflektierende Passagen synthetisiert. Becker inszenierte ein Tableau, auf dem das „Darüber-muß-man-Schweigen“ zur Sprache gebracht wurde. Und oft war das Sprechen als Vorgang, als Verlautbarung im eigentlichen Sinne, Ausgangspunkt des Gedichts. Der vor sich hin sprach, tat das zunächst einmal nur, um noch da zu sein. Eine nach dem Nächstliegenden, Einfachsten tastende Vergewisserung, mit der ein Text beginnen konnte und vorankam. Die Stimme gewinnt dabei eine induktive Rolle: erstmal was sprechen, dann hören wir weiter, ein „Sprechen, das nach den Wörtern sucht, die allesamt doch vorhanden sind“ (Becker). Entstand an dieser Stelle das „entspannte Feld“ zwischen Intuition und wachem Erinnern, kam das Gedicht in Gang.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaoder alles läuft schief
im Programm, das versäumt hat, die fehlenden Felder
deiner Erfahrung zu koordinieren. Das Fehlende, falls wir
darüber reden, liegt irgendwo vergessen herum; vielleicht
war einmal das Licht der Mondsichel so schwach, daß ich
die Tränen auf einem Gesicht hinterm Fenster nicht sah;
vielleicht hast du nicht bedacht, daß deine Reise
ein unerwartetes Ende nahm, weil früher und näher
als sonst der Kauz in der Mitte des Birnbaums
sich zeigte. Der Gang über’n Friedhof war sicher schön,
aber was es zu tun gab, betraf nicht die Suche nach etwas
Versäumtem; wir legten Buchstaben frei, säuberten Steine
und richteten die Hecke auf…
Für Becker steht nicht die Rekonstruktion des Vergangenen oder Gegebenen auf dem Spiel, sondern der endlos „fehlende Rest“, die Fähigkeit, Dinge ankommen zu lassen, wo und wie sie sich gerade präsentieren. Dabei ist das Erzählen als Gestus erhalten, oft ohne Instanz, im fließenden Wechsel der Perspektiven. Genau dafür steht die gelockerte Syntax mit ihren federleichten Gelenken, die immerzu Neuansätze, Rückführungen oder Richtungswechsel im Gedicht erlaubte – in dieser Offenheit und „Leichtigkeit“ der Becker-Gedichte hatte ich, wie gesagt, eine Leichtfertigkeit gesehen. Nach meiner damaligen Auffassung ging es mehr darum, sich zu wappnen, den eigenen Text „wasserdicht“ zu machen, zu verschließen gegen mögliche Fremdbestimmungen. Dazu konnte auf tradierte Formen zurückgegriffen werden, das Formale bezog von dort seinen Stellenwert. Ich nehme an, das Ganze entsprang letztlich einer alten Selbstbeschränkung, einer eher traurig zu nennenden Abgewandtheit von der uns umgebenden Wirklichkeit beim Schreiben, mit dem ich Mitte der achtziger Jahre begonnen hatte. Als Platzhalter in diesem Sinne und leicht zu belächeln aus heutiger Sicht, stand die kostbare, dunkelblaue Vorkriegsausgabe des Werkes von Stefan George auf dem Vertiko zwischen den beiden einzigen brauchbaren Sitzgelegenheiten meiner Hallenser Studentenwohnung. Beckers Grundsatzerklärung von 1963 möchte die Verbindlichkeiten der Gattung überhaupt zurückweisen. Sicher konnte das nur einem grundsätzlich anderen Kontext entspringen: einer offenen und sich gerade weiter öffnenden Gesellschaft, zu deren pluralistischem Gestus man ästhetisch beitragen konnte, was Sibylle Cramer in einer Rede zu Becker einmal den „demokratischen Normalfall von Kunst“ nannte. Es ist nicht abgemacht, ob und inwieweit Schreibweisen, ohnehin von Autor zu Autor anders veranlagt, mit solchen Kontexten reagieren; sicher ist, daß die Voraussetzungssysteme bis dahin denkbar verschieden waren.
Vielleicht konnte es für diese erste Lektüre kein verwirrenderes Umfeld geben als meine Hamburger Konferenz. Ich stand noch mit einem Beitrag zum „Strukturalismus“ im Programm, was die Westkollegen zu interessieren schien. Aber ich hatte mich kurzfristig zu einer Änderung des Themas entschlossen und sprach über die Literatur der jüngeren Generation im Osten. Die westdeutschen Professoren wußten nicht viel darüber, vielleicht war das auch nicht so interessant wie Strukturalismus. Im Gegenzug wußten die ostdeutschen Professoren noch nicht, wer Botho Strauß ist, obwohl doch zum Beispiel Der junge Mann im Aufbau-Verlag erschienen war.
Wir wurden sehr freundlich aufgenommen in Hamburg. Aus heutiger Sicht ist mir noch deutlicher als damals, daß dabei auf beiden Seiten die Neugier dominierte. Man fragte sich, was die anderen Deutschen für Leute sind, und das war schließlich noch interessanter als Strukturalismus. Deutschland wurde Fußball-Weltmeister, und für mich blieb Hamburg meine einzige germanistische Großkonferenz, wozu wahrscheinlich auch das „Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ seinen stillen Beitrag leistete.
2 Raumdenken und eigenes Früher
Neben den Irritationen und Schwierigkeiten, die zu dieser Geschichte des Lesens gehören, gab es die Dinge, die mich sofort für die Gedichte einnahmen. Zunächst das Orte-Lesen: Oostende, Oderbruch, Paulinzella, Erfurt, Jüterbog, Wiepersdorf, Niederer Fläming, Berlin, belgische Küste, Zella-Mehlis, Putbus usw. Es ist Beckers Methode, einen Ort zu „legen“ im Gedicht und an diesem Ort aus dem Gedächtnis der Landschaft zu lesen, die Verräumlichung der Geschichte „vor Ort“, wo das Gedächtnis der Landschaft und die Erinnerungen des Betrachters sich befragen und zur Sprache kommen.
Am Ort werden die Präferenzen der Zeit-Ordnung aufgehoben im Nebeneinander des Erinnerten und Sichtbaren. Becker hat, um dieses Nebeneinander darzustellen, das Narrative so weit aufgelöst, daß Sequenzen aus den verschiedenen Zeitebenen sich im ständigen Wechsel mühelos ablösen und aneinanderfügen. Die oft mehrseitigen Gedichte sind dafür gebaut: durchlässig, beiläufig im Tonfall, zwanglos im Fortgang.
Zum Beispiel „Dressels Garten“ aus „Foxtrott im Erfurter Stadion“: Erfurt-Ost, das Treppenhaus der Kindheit. Harte, aber auch weiche Schnitte zwischen den Sequenzen: „Aber wohin dann“ oder „Nur, wie geht es weiter?“ sind die bei Becker typischen rhetorischen Atempausen für den Richtungswechsel und den Bild-Nachschub beim Übergang in andere Räume und Zeiten:
Offen
steht eine Haustür, und Sonnenlicht liegt
auf den Kacheln, den Stufen hinauf ins Verdunkelte
des Flurs…
Man kann hineingehen in diese Gedichte, sie öffnen den Raum, und sie führen zu den Orten, an denen etwas erzählt wird oder wo, wie es heißt, man sich etwas erzählt. Man steht im Treppenhaus der eigenen Kindheit, unter der Treppe, und lauscht den Schritten der Heimkehrer, nachmittags nach der Arbeit. Aus den Ecken schimmert bläulich Zyankali, Rattengift. Ein paar Rillengläser, ein Bollerwagen, ein Stapel Volkswacht für die nächste Altpapiersammlung, und ganz hinten im Dunkel, wo die Unterseite der Treppenschräge und der Kellerboden sich berühren, sind die Schätze versteckt, tote Vögel und die vertrockneten Kastanien der letzten Saison. Dann kommt Herr S., der obere Nachbar mit den schweren, links wie rechts betonten Schritten, auf jedem Treppenabsatz stößt er die Atemluft zwischen den Zähnen hervor. Dann Frau D., die immer vor sich hin gemurmelt hat und dann Aranka, der wir als Kinder heimlich nachgegangen waren, wegen der Gerüchte, die ihre O-Beine betrafen, ein paar schäbige Bemerkungen nur, die unsere erotischen Phantasien aufs Äußerste reizten.
Das Treppenhaus gehört zu den magischen Orten der Kindheit, Jürgen Becker hat es aufgeschlossen. Zu diesen Orten mit „Portalfunktion“ für das Erzählen gehört auch noch dieses Beispiel – der Ofen. Das Erinnern in der Erzählung vom „Fehlenden Rest“ geht immer wieder vom Ofen aus. Wenn der Ofen ins Bild rückt, wird er zum Medium fürs Eintauchen in die Geschichte. Wer mit Ofenheizung aufgewachsen ist, hat Feuer gemacht. Er ist mit den Substanzen vertraut, mit Holz, Kohle, Asche, er kennt die Beschaffenheit des Brennmaterials, den Geruch des Kohlendioxyds, die Färbungen der Glut und die Hitze, die dem Gesicht am Ofenloch entgegenschlägt; er weiß, wie Glut aussehen muß, bevor die Ofentür geschlossen wird, er kennt den Zeitpunkt, und er weiß, was „Ofenwärme“ bedeutet. Am Ofen, im Treppenhaus, am Zaun, im Hof, am Schlagbaum, im Stall, auf dem Bahnsteig voller Flüchtlinge – Beckers Werk sammelt Orte, sie bilden ein privates Verzeichnis der aussterbenden Anlässe, sich zu erinnern. Sicher könnte man auch heute von diesen Dingen schreiben, doch der Fiktion fehlte die affektive Färbung der Erfahrung, die Anlaßfarbe des Erinnerns.
Zu dunkel
der Korridor, in dem der Besucher steht, der immer nur
träumte, in den Jahrzehnten vor diesem Oktober, er sei
wieder da im Treppenhaus seiner Kindheit.
Das Bei-sich-selber-Sein im Dunkel, im Versteck unter der Treppe und zugleich draußen in den Geräuschen, Satzfetzen, Schritten, unter den Namen abmontierter Klingelschilder und in den Gerüchen – die Beschaffenheit dieses gegenwärtig-vergangenen Echoraums ist ein Modell für Beckers Wahrnehmungswelt im Gedicht.
3 „nie hört die Nachkriegszeit auf“
Gib her, ein Blättchen, Tabak, den Filter; nie
hört die Nachkriegszeit auf. Der Tau, die Kälte am Morgen,
so beginnt der September, der September
der Zitate.
Du verstehst… oder bist du
zu jung? Dann kannst du jetzt zusehn, wie
Geschichte sich fortsetzt beim Selberdrehen, genau
die alte Technik.
An einem ersten September begann der zweite Weltkrieg. Die Kriegs- und Nachkriegszeit zwischen 1939 und 1947 hat Jürgen Becker in Thüringen verbracht. In den Büchern der neunziger Jahre dominieren die Erinnerungen an diese Zeit. Die Gedichte haben eine ruhige, gelassene Gangart, jedes Detail entfaltet seinen Raum. Stoff liefern die zahlreichen Reisen, die Becker nach der Grenzöffnung 1989 in seine ostdeutsche Kindheitslandschaft unternommen hat. Indem Becker den Vorgang der Vergegenwärtigung des Vergangenen selbst zum Gegenstand seines Schreibens macht, hat man das Gefühl, den Fortgang der Gedichte „auf Augenhöhe“ zu begleiten. Kein späteres Wissen über Geschichte hat diese Gedichte angeregt, die Geschichtserfahrung wird auf ihren authentischen Wahrnehmungs- und Erinnerungsgrund zurückgeführt:
… die Zeit hält nicht still
wie ein altes Modell, das sich in Ruhe
beobachten läßt. Das Laub auf den Wiesen, wenn
nachts der Wind hindurchfährt, treibt langsam
und träge weiter, und man vergißt es so bald wie
das Geräusch einer Ideologie. Die Reste
muß man vernichten…
Jürgen Becker gehört zu den „weißen Jahrgängen“, den Jahrgängen zwischen den Rekrutierungsschüben der Wehrmacht und der Bundeswehr bzw. der Nationalen Volksarmee, zu der man noch Ende der fünfziger Jahre nur als Freiwilliger kam. „Zu jung für die Front, waren sie doch alt genug, um nicht nur von der Diktatur geprägt zu werden, sondern auch noch in ihre politisch-militärische Vorsozialisierung einbezogen zu werden.“ (Paul Nolte) Unvermindert ist die Kraft der Bilder aus der Zeit als „Pimpf“ mit Fahrtenmesser, Halstuch und „Jugendfilmstunde“ – sie spielen für die späteren Texte eine immer größere Rolle, in denen Becker Bewußtseinszustände des kindlichen Kriegs- und Nachkriegserlebens aufruft:
Vom hellen Strand der Saale
kamen die ersten Ansichtskarten; die Stellung
um Leuna herum. Xenophon in grün gestrichenen Baracken,
halt ja den Laden zusammen daheim: ,Senftleben
im Tor, halbrechts Winne Herz‘; ansonsten leeres Theater
die Mitteldeutsche Kampfbahn, in der Gespenster
die Runden zogen und Ilse Werner Foxtrotts pfiff
im Lautsprecher über der Eisbahn.
Wieder ist es der konkrete Ort, an dem die Geschichte und ihr Raum entstehen, die Stellung um Leuna, wo die ersten und letzten Jahrgänge der Nachkriegszeit sich begegnen: die grün gestrichenen Baracken, in denen wir tatsächlich – knapp vierzig Jahre nach der Zeit, die das Gedicht anspricht – wohnten während unseres Grundwehrdienstes, im sogenannten Alten Objekt, das früher Wehrmachtskaserne gewesen war, dann Gefangenenlager, dann Flüchtlingslager, schließlich NVA und nach dem Mauerfall „Gewerbepark“ – inzwischen bankrott. Die Baracken sind abgerissen und nur der alte Munitionsbunker steht noch, den zu sprengen schon die Rote Armee vergeblich versucht hatte.
Es passierte genug, aber nicht das Erwartete, höchstens
das Befürchtete; einmal kam die Frage auf, ob täglich
die Zeitung die Fortsetzung für den Roman schrieb… und
was der Flakhelfer verriet mit seinem Gedicht,
in dem sich Buna reimte auf Leuna.
In Beckers Gedichten geht es um das Gewordensein der Landschaft in der Geschichte, historische Zäsuren als Umwälzungen von Biographien und Landstrichen, ihr Bild verändert sich, am deutlichsten in Kriegszeiten: Städte und Dörfer verschwinden oder überleben, völlig verändert, Grenzen werden verschoben oder gezogen. Das Gedächtnis der Landschaft und das Erinnern des Betrachters fragen sich ab, Orte-Lesen und Raum-Denken kommen zusammen für jene „vorläufige deutsche Nachkriegs-Topographie“, wie sie Jürgen Becker uns vor Augen stellt.
Vielleicht auch
beginnt der Entwurf einer Landschaft, deren Teile
aus Erinnerungen und Sehnsucht schon lange
vorhanden sind; man kann sie nur nicht
benutzen, denn der Krieg geht immer noch
weiter, obschon so viele Kinder und Kindeskinder
den Krieg nicht mehr kennen.
Die Passage aus „Das englische Fenster“ (1990) erinnerte mich an einen gemeinsamen Abend im Kölner Literaturhaus. Joachim Sartorius und ich lasen Gedichte, und Jürgen Becker las eine Art phantastische Geschichte, die er für diesen Anlaß vorbereitet hatte, eine imaginäre Begegnung der drei Autoren unter Gefechtsbedingungen:
Mir kommt aber die Erinnerung an albtraumhafte Szenarien, an die Vorstellung vom Eintreten des sogenannten Ernstfalles… Da hätte dann der Kollege aus dem Thüringischen, in seiner NVA-Uniform, plötzlich als Feind vor meiner Haustür stehen können. Die Attrappen des Manövers wären dann auf einmal keine fiktive Realität mehr gewesen, und es hätten Gefechtsbedingungen gegolten, unter denen ein Gedicht nicht mehr viel zu sagen hat. Es wäre auch vorstellbar gewesen, daß sich Joachim Sartorius im Haus befunden hätte, als Flüchtling, der, entkommen aus dem von der Roten Armee eroberten Westberlin, sich ins Rheinland hätte durchschlagen können, ins Bergische, in ein kleines Gehöft, das Flüchtlinge noch aus dem Zweiten Weltkrieg kennt. Mit seinem Auftrag, das abseits gelegene Haus zu durchsuchen, wäre der NVA-Soldat Seiler vielleicht auf einen Schreibtisch, ein paar Bücherregale gestoßen; vielleicht… hätte er dann seine Kalaschnikow in die Ecke gestellt, aus dem Brotbeutel einen Band mit Huchel-Gedichten, vielleicht ein paar Manuskript-Blätter hervorgezogen, und vielleicht hätten wir dann zu dritt um den Tisch gesessen, ein Gespräch über Lesen und Schreiben angefangen und so, unter der unmerklich entstehenden, sanften Befehlsgewalt der Poesie, für einen Moment den Krieg beendet.
Mit Ironie, aber ohne die Ernsthaftigkeit seines Anliegens zu untergraben, erzählte Becker hier etwas über sein eigenes Schreiben. Daß die späten Becker-Texte, in denen das Kriegsthema dominiert, auf eigene Erinnerungen gründen und daß sie diesen Gedanken von einer „unmerklich entstehenden, sanften Befehlsgewalt der Poesie“ mitführen, unterscheidet sie von den sich mehrenden Gedichten mit Kriegsthematik in meiner Generation. „Aus Erfahrung“ wird bei Becker der Stoff anders behandelt, nicht vordergründig vom Materialwert her, als reizvolle Ästhetisierungsvorlage. W.G. Sebald hat in seinem Essay „Luftkrieg und Literatur“ zu Recht auf das Problem der literarischen Darstellung von Kriegswirklichkeit hingewiesen und ein Fragezeichen gesetzt hinter den „dynamischen Sprachaktionismus“, mit dem etwa Arno Schmidt („Aus dem Leben eines Fauns“) versucht hatte, das Schauspiel der Zerstörung nach einem Luftangriff sprachartistisch zu erfassen. Sebalds Einwand resultiert nicht aus einer moralisierenden oder sprachkonservativen Einstellung, sie meint den „Bastler“, der mit dem Wirkungspotential des Destruktiven und unter dem Schild des „Avantgardistischen“ Texte fügt, die vielleicht viel präsentieren, aber wenig vergegenwärtigen. Ambitioniertheit scheint sich gerade beim Kriegsthema zu rächen, das Material wird schnell spröde, aufdringlich, man ist verstimmt. Beckers Schreibweise erinnert daran, wie wir in der Geschichte stehen, bevor sie in die späteren, reflektierten Formen gegossen ist. Und genau das macht die besondere Wirkung aus: der Schmerz über Verluste, die Bitterkeit, auch Freude – all das taucht scheinbar beiläufig, absichtslos und unvermittelt in den Gedichten auf, anläßlich einer Postkarte, einer Schubkarre, einer vergessenen Zigarettenmarke. Es sind die normalen und konkreten Dinge, an denen die Geschichte für einen Moment lesbar wird, in einer augenblicklich treffgenauen, nicht wiederholbaren Konstellationen von Vergangenheit und Gegenwart.
Von den Kriegserfahrungen des Kindes ist Beckers literarisches Vorgehen, sein „Hineingehen in die Landschaft“, von Beginn an geprägt. Beckers Landschaften sind Manövergebiet und sein Schreiben ist ein Landschafts-Manöver. Der ehemalige Obergefreite Heinrich Böll war der einzige, der das bereits in einem Kommentar zu Beckers erstem aufsehenerregenden Text „Felder“ (1964) herausgestellt hatte:
Der Titel ist malerisch, er könnte auch, wandelte man ihn in ,Planquadrate‘ um, der Landvermessersprache entnommen oder strategischen Ursprungs sein. (…) Jedes einzelne Feld wird experimentierend betreten, abgemessen und mit recht unterschiedlichen Frachten belegt oder Truppen besetzt.
4
Für das während unserer Fahrt auf Panzerplattenwegen über den Darß imaginierte Becker-Gedicht sehe ich drei Voraussetzungen:
Erstens einen Ort als Medium des Gedichts, wo es seinen Raum erfindet.
Zweitens eine wie auch immer gelagerte Kenntnis des Ortes von früher. Die Imagination braucht einen Anhalts- und Ausgangspunkt in der eigenen Geschichte, mit dem der Ort aufgesucht wird. Das Gedicht benötigt diese authentische Ausgangslage, nur dann ist es „verbürgt“ und nicht beliebig, nur so behauptet es einen Sinn vor der endlosen Fülle des theoretisch Möglichen.
Drittens den Vorgang des Erinnerns, vor und zurück, bis in die Gegenwart, die auch „historisch“ erlebt wird, weil sie im Gedicht teilnimmt an der Geschichte des Ortes. Und nur das Erinnern ans eigene Früher, geht es zwanzig oder fünfzig Jahre zurück, baut um seine historisch kurze Spanne jenes starke, magnetisierende Feld, mit dem das Erzählen auch im weiteren orts- und zeitfremden Raum seine Notwendigkeit und seine Aura behält. Das Erinnern ans eigene Früher autorisiert den Zugang zur Geschichte. Eine Literaten-Generation, die mehr oder weniger selbstgefällig berichtet, nichts erlebt zu haben, legt die Frage nach der Beschaffenheit dieses „eigenen Früher“ nahe. Gern möchte man sagen: Wie auch immer – dieses „eigene Früher“ steht, sobald es nur Erfahrung geworden ist, mit der Geschichte und den Geschichten der Vorzeit in Verbindung. Nach Jürgen Beckers Erzähler im „Fehlenden Rest“ ist das nichts als ein frommer Wunsch:
Die Nachgeborenen (…) bewegen sich in Räumen, in denen der Geruch der Geschichte verweht ist.
Es war, wie gesagt, an der Ostsee, auf dem Darß, wo ich Jürgen Becker das erste Mal traf. Schon vor dem Abendbrot hatte man Korn serviert. Das Gespräch ging gut. Beim Wildschwein-Essen wurde nicht gesprochen. Nach dem Essen kamen neue Getränke, und Jürgen Becker bot Zigaretten an aus einer der blau-weißen Schachteln „Gitane“, die zu ihm gehören wie der anschließende Satz:
Und jetzt, Seiler, wie ging es weiter?
Lutz Seiler, Text + Kritik, Heft 159, 2003
DOCH GUT WAR
aaaaazu atmen, aus
& ein ging die atmung im gipsschiff
der lampe, wir hatten
ihr dunkles, mechanisches licht, wir hatten alpaka
am ascher, die nägel, verrissen
& einsam wie crusoe im schiefer, tief
im radio schlief das radiokind mit
aaaaaröhren & relais, die es allein
für sich begriff, ein tacken wie
von grossen schiffen, blinken, etwas
aaaaazwischen abends aus, dann still
& leise wieder ein: allein
aaaaaim dunkeln kamen
die später unauffindbaren frequenzen, lokale
frequenzen des alterns, verschwundene
aaaaadörfer &
ihr schwaches chromosomen-strichwerk auf
aaden skalen – ich
Sah crusoe, meinen vater; er
aaaaaging in die taufe, die schläfen im holz
aaaaakehrte er heim, so lachte
ein mann mit strahlender hand, sein rauschen, sein
aaknacken, sie hören
Wie alles so endet, verrutscht, zwei
aabeine die küste das weiche
aascheiteln der füsse im schritt
für Jürgen Becker
Lutz Seiler
Heinrich Vormweg: Ein Poet in seinen Umgebungen
NRW literarisch, Heft 5, 1992
Walter Hinck: Vielleicht das letzte Glänzen: Sinfonien, Radiostimmen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.1992
Sabine Küchler: Die Entdeckung des „multiplen“ Ich
Der Tagesspiegel, 10.7.1992
Wolfgang Schirmacher: Geräusche, Gerüche und Signale
Rheinische Post, 8.7.1997
Armin Ayren: Die Wirklichkeit als Sprache
Stuttgarter Zeitung, 10.7.2002
Nico Bleutge: Erinnerungsreise
Süddeutsche Zeitung, 10.7.2002
Hannes Hintermeier: Der Landschaftsmaler
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.2002
Beatrix Langner: Selbstporträts mit dem Rücken zum Betrachter
Neue Zürcher Zeitung, 10.7.2002
Jochen Schimmang: Ockerfarben in Deutschland
Frankfurter Rundschau, 10.7.2002
Cornelia Geissler: Mit dem Rücken sieht man schlecht
Frankfurter Rundschau, 10.7.2012
Norbert Hummelt: Leise landen die Abendmaschinen
Neue Zürcher Zeitung, 10.7.2012
Lothar Schröder: Autor Jürgen Becker wird 80
Rheinische Post, 10.7.2012
Gisela Schwarz: Jürgen Becker wird 80 Jahre alt
Kölner Stadt-Anzeiger, 10.7.2012
Frank Olbert: In diesen neuen alten Gegenden
Kölner Stadt-Anzeiger, 10.7.2017
Peter Mohr: Prosa als fehlender Rest
literaturkritik.de, Juli 2022
Martin Oehlen: Jürgen Becker – zwei Bücher zum 90. Geburtstag: „Fast täglich hört eine Epoche auf“
Frankfurter Rundschau, 7.7.2022
Jens Kirsten: „eine Landschaft aus Erinnerungen und Imaginationen“
Palmbaum, Heft 75, 2022
„eine Landschaft aus Erinnerungen und Imaginationen“ – Der Dichter Jürgen Becker im Gespräch mit Wolfgang Haak und Jens Kirsten
Radio Lotte, 5.7.2022
Nico Bleutge: Der riesige Rest
Süddeutsche Zeitung, 8.7.2022
Michael Hametner: Jürgen Becker: „Ich habe nicht viel Phantasie“
der Freitag, 9.7.2022
Hans-Dieter Schütt: Das siehst du nie wieder!
nd, 8.7.2022
Michael Braun: Der große Lyriker Jürgen Becker wird 90 Jahre alt
Die Rheinpfalz, 8.7.2022
Gregor Dotzauer: Die Schatten des früher Gesagten
Der Tagesspiegel, 9.7.2022
Joachim Dicks: Jürgen Becker zum 90. Geburtstag
NDR, 10.7.2022
Thomas Geiger: Zeitmitschriften in Lyrik und manchmal auch Prosa
Berliner Zeitung, 8.7.2022
Herbert Wiesner: Von Altlasten und künftigen Katastrophen
Die Welt, 10.7.2022
Jürgen Becker: „Da wagt einer, mich zu verreißen? Das muss ich aber genauer wissen.“
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