Jürgen Busche: Zu Peter Huchels Gedicht „Weihnachtslied“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Huchels Gedicht „Weihnachtslied“ aus Peter Huchel: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Band I. Die Gedichte. 

 

 

 

 

PETER HUCHEL

Weihnachtslied

O Jesu, was bist du lang ausgewesen,
o Jesu Christ!
Die sich den Pfennig im Schnee auflesen,
sie wissen nicht mehr, wo du bist.

Sie schreien, was hast du sie ganz vergessen,
sie schreien nach dir, o Jesu Christ!
Ach kann denn dein Blut, ach kann es ermessen,
was alles salzig und bitter ist?

Die Trän’ der Welt, den Herbst von Müttern,
spürst du das noch, o Jesuskind?
Und wie sie alle im Hungerhemd zittern
und krippennackt und elend sind!

O Jesu, was bist du lang ausgeblieben
und ließest die Kindlein irgendstraßfern.
Die hätten die Hände gern warm gerieben
im Winter an deinem Stern.

 

Wann kommt, der uns ist zugesagt?

Kinder warten zu Weihnachten auf das Christkind. Dieses Warten ist für viele die aufregendste, kaum auszuhaltende Phase des Fests. Sie warten auf den Augenblick der Bescherung. Die Tür geht auf, hinter der die Kerzen am Weihnachtsbaum schon angezündet sind. In ihrem Leuchten liegen unter dem Baum die Geschenke. Die Freude über die Geschenke steht stellvertretend für die Freude über die Geburt des Menschensohns: Gott hat seinen Sohn durch Maria der Welt als ein Kind geschenkt, das in die bitterste Armut hineingeboren wird.
Dieses Weihnachtslied beginnt mit dem kindlichen Warten. Ausgewesen sind gemeinhin die Erwachsenen, die Mutter, wenn sie spät heimkommt, später vielleicht, als sie wollte. Die Kinder warten daheim unruhig, wohl auch in kindlicher Sorge. Die Sorge ist um so größer, je weniger die Kinder in ihren Familien stabile Verhältnisse gewohnt sind. Dort, wo die Kinder zu Hause sind, von denen in diesem Gedicht die Rede ist, herrscht verzweifelte Armut, Hoffnungslosigkeit. Nichts anderes besagt das Bild vom Auflesen des Pfennigs im Schnee. Es ist der pure Hohn: Im Schnee – zumal im frisch gefallenen – versinkt der Pfennig sogleich und ist unsichtbar.
Peter Huchel schrieb dieses Gedicht 1931 für seine Weihnachtsgeschichte „Von den armen Kindern im Weihnachtsschnee“. Sie wurde in der Literarischen Welt veröffentlicht. Da wird von zwei Kindern erzählt, die am Heiligen Abend in einem märkischen Dorf – Huchels Heimat – von Tür zu Tür betteln gehen und, nachdem sie manche kärgliche Gabe erhalten haben, zuletzt in ein Haus kommen, in dem sie durch eine zufällig geöffnete Tür knapp einen Blick auf den schon in seinem Lichterglanz stehenden Weihnachtsbaum erhaschen können. Von dem Anblick überwältigt, beschließen sie, sogleich in den nahen Wald zu gehen, um in der Tannenschonung einen Baum wie diesen zu suchen. Den wollen sie dann heimbringen in die baufällige Hütte ihrer Eltern. Im Wald, bei einbrechender Dunkelheit, im dichter fallenden Schnee, kommen sie aber vom Wege ab und verirren sich. Sie erfrieren.
Jesus ist nicht nur lang ausgewesen, er ist ausgeblieben. Er hat die Kinder „irgendstraßfern“ liegen lassen. Dieses neugebildete Wort, das an die Gedichte der Else Lasker-Schüler denken läßt, erscheint bei Huchel so ähnlich schon in einem früheren Gedicht, „Der Kinderkreuzzug“:

Irgendstraßenher, irgendstraßenein
wollen sie auch gen Bethlehems Tor.

Die Armut der Kinder war Huchels Thema nicht nur, wenn es galt, etwas Anrührendes zu Weihnachten zu schreiben. Aber er empfand es natürlich so, daß Weihnachten das Fest ist, das den Christen vor Augen führt, daß ihr Glaube sich vor allem im Schicksal der Kinder bewähren muß. Da stößt die Symbolik des Heiligen Abends mit der Bescherung der Kinder an eine scharfe Grenze, dann nämlich, wenn die Armut, in der die Kinder aufwachsen, sie überhaupt kein Geschenk mehr sehen, keine liebende Bescherung mehr erwarten läßt. Ebendiese Verschränkung von Symbol und Nutzbarkeit des Gegenwärtigen zeigt der Dichter in den beiden Schlußzeilen des „Weihnachtslieds“: Die Kinder hätten sich „die Hände gern warm gerieben / im Winter an deinem Stern“.
So ist es ein polemischer Grundton, der das Gedicht auszeichnet. Zwar ist die Haltung, mit der Jesus Christus erwartet wird, eine nach alter Tradition adventliche. Aber hier geht es nicht ums Plätzchenbacken und Liedersingen – was sehr schön sein kann –, hier geht es um das, was ein altes Adventslied aus dem Jahr 1525 in den Versen ausspricht:

Aus hartem Weh die Menschheit klagt,
sie steht in großen Sorgen.
Wann kommt der uns ist zugesagt,
wie lang bleibt er verborgen?

Das ist die Situation, die Huchels Gedicht in der ersten Zeile beschwört: düsterer Advent. Aber das Gedicht ist überschrieben als „Weihnachtslied“. Weihnachten ist da, Jesus ist ausgeblieben, die Hoffnung der Kinder ist enttäuscht worden. Das muß man nicht als Kritik an der verkündenden Religion verstehen. Das ist zuerst eine Mahnung an die Welt, die reale Not der Kinder nicht zu übersehen und ihre Hoffnungen, die erfüllbar sind, wenn es darum geht, Hunger zu stillen und die Hände zu wärmen, nicht zu enttäuschen.

Jürgen Buscheaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2006

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