– Zu Hugo Balls Gedicht „Totentanz 2016“ aus Hugo Ball: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1. Gedichte. –
HUGO BALL
Totentanz 1916
So sterben wir, so sterben wir
Und sterben alle Tage
Weil es so gemütlich sich sterben lässt.
Morgens noch in Schlaf und Traum
Mittags schon dahin
Abends schon zu unterst im Grabe drin.
Die Schlacht ist unser Freudenhaus
Von Blut ist unsre Sonne
Tod ist unser Zeichen und Losungswort.
Kind und Weib verlassen wir:
Was gehen sie uns an!
Wenn man sich auf uns nur verlassen kann!
So morden wir, so morden wir
Und morden alle Tage
Unsere Kameraden im Totentanz.
Bruder, reck Dich auf vor mir!
Bruder, Deine Brust!
Bruder, der Du fallen und sterben musst.
Wir murren nicht, wir knurren nicht,
Wir schweigen alle Tage
Bis sich vom Gelenke das Hüftbein dreht.
Hart ist unsre Lagerstatt,
Trocken unser Brot,
Blutig und besudelt der liebe Gott.
Wir danken Dir, wir danken Dir,
Herr Kaiser für die Gnade,
Dass Du uns zum Sterben erkoren hast.
Schlafe Du, schlaf sanft und still,
Bis Dich auferweckt
Unser armer Leib, den der Rasen deckt.
An der Wiege des Dadaismus wird gesungen
Prolog
Das meiste über Hugo Ball ist gesagt, wenn man sagt, daß man ihn in der Pfalz nicht kennt. Man weiß von diesem Mann auch im übrigen Deutschland wenig, einfach weil man nichts von ihm wissen will – sollte da die Pfalz eine Ausnahme machen? Immerhin ist er dort geboren. In Pirmasens, der Schuhmetropole,…
Mit diesen lapidaren Sätzen beginnt Ernst Johann sein Porträt „Das meiste über Hugo Ball“, nachdem er zuvor „Alles über Liselotte“ erzählt hat, einer im Unterschied zum avantgardistischen Schriftsteller populären Pfälzer Prinzessin. Das Ball-Porträt findet sich in Ernst Johanns „launigem“ Erfolgsbuch Deutschland deine Pfälzer, einer „kritischen Liebeserklärung an das Land, wo Witz wie Wein wächst“ (Klappentext).
Johanns gewitztes Buch erschien 1971. Fünf Jahre zuvor war ich mit Hugo Ball zum ersten Mal in Berührung gekommen, aber ich hatte ihn nicht wahrgenommen, wiewohl ich von ihm mehr hätte wissen wollen – hätte man mich nur darauf aufmerksam gemacht, woher er kommt und wer er war. Pirmasens ist die Kreisstadt von Dahn. Am Dahner Otfried von Weißenburg-Gymnasium ging ich zur Schule. Kurz vor dem Abitur mussten wir eine Deutsch-Arbeit über die Biographie eines Dichters und drei seiner Romane schreiben. Ich wählte Hermann Hesse.126 Die biographischen Informationen besorgte ich mir aus der rororo-monographie von Bernhard Zeller. Darin begegnete mir Hugo Ball mehrfach und namentlich mit „seiner schönen Hesse-Biographie“127 – nur einen Verweis auf seinen Geburtsort Pirmasens gab es dort ebenso wenig wie weiterführende Hinweise etwa meines Deutschlehrers.
Erst ein halbes Menschenleben später bringt mich die Initiative von Michael Braun, dem Herausgeber dieses Bandes, zur intensiven Auseinandersetzung mit Hugo Ball. Einen von ihm geplanten Hugo-Ball-Abend in Dahn, eine Hommage an den „größten Dichter der Pfalz“,128 sollte ich zunächst nur mit der Kamera dokumentieren. Aber dieses Projekt zog mich immer tiefer in den Sog einer seither nur unvollständig gestillten Neugier an Leben und Werk von Hugo Ball und Emmy Ball-Hennings und das ihrer Freunde.
Mein Entschluss, in Dahn Hugo Balls „Totentanz 1916“ vorzutragen, zog – auch wegen der in dieser Gegend gelebten Kindheit und Jugend – unweigerlich eine seither in mir mäandernde Frage nach sich:
Wer weiß schon, wie viele Millionen Memos als Erinnerungspartikel, Bruchstücke von Texten, Gedichten, Liedern, von Melodie-Sequenzen, von Ausschnitten oder Collagen von Bildern in unserem Kopf und Körper stecken und in einem nicht schlüssig begründbaren Moment hochgespült werden, auftauchen und wieder versinken? Und dann kommt oft plötzlich vieles hoch und zu Bewusstsein, wenn es zur Sprache drängt und zur Sprache gebracht wird.
So erging es mir mit dem „Totentanz 1916“, aber so – vermute ich und will es im Folgenden nachzeichnen – ist er auch entstanden. Sich die Wirkung von Liedern vor Augen zu halten, wie sie Herta Müller so nachvollziehbar beschrieben hat, kann meinen Versuch der Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte verständlicher machen.129
Es muss im Herbst 2007 gewesen sein, als ich – in einer Buchhandlung stöbernd – auf Hugo Balls „Gedichte“130 gestoßen bin. Darin fand ich den „Totentanz 1916“ und das weckte in mir eine besondere Aufmerksamkeit. Denn ich empfand es seit einiger Zeit als Mangel, wie wenig ich über meine Großväter und ihre Lebenszeit im Ersten Weltkrieg weiß – mein Großvater Karl ist am Ende des Krieges an der Spanischen Grippe gestorben.
Ich hatte mich u.a. deshalb im Rahmen eines Ausstellungsprojekts131 auch mit Rosa Luxemburg auseinandergesetzt. Ihr Diktum von der „Freiheit des Andersdenkenden“ forderte sie durchaus auch für sich selbst. Dass sie ermordet werden konnte, so meine These, hing damit zusammen, dass sie, abgeschottet im Gefängnis, die tiefgehende Brutalisierung der Gesellschaft durch den Krieg emotional – trotz ihrer scharfsinnigen Analysen der Krisenlage – nicht recht zu erfassen in der Lage war, sonst hätte sie sich besser geschützt. Aber das nur am Rande.
Ich wusste zwar von der Kriegsgegnerschaft Hugo Balls, aber seine Konversion eines Militärmarsches in den „Totentanz 1916“ empfand ich – bei Vergegenwärtigung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse mitten im Ersten Weltkrieg – mutig und präzise in der Zielrichtung. Wurde doch mein Interesse durch die Erläuterung geweckt, die dem Text beigefügt war: „Vorlage war der sogenannte Dessauer Marsch (1705/06)“, der auch die Melodie für die gesungene Fassung lieferte.132
„So leben wir, so leben wir…“, das erinnerte mich an eine Landstreicherballade, die um das Jahr 1968 herum, zu Zeiten des Folklore-Festivals auf Burg Waldeck, en vogue war, von der ich allerdings Verszeilen in Erinnerung hatte, die sich mit denen eines anderen Liedes kreuzten.
Aus dem Text „So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage…“ war bei mir zwischenzeitlich der Text „So fahren wir, so fahren wir, so fahren wir alle Tage…“ geworden. Es lag an der Melodie und dem Rhythmus, dass dieses Lied mir oft in den Sinn kam, wenn ich im Auto saß und zu einer längeren Urlaubsreise startete. Mein Gesang kam jedoch über die ersten beiden Textzeilen nie hinaus.
Nun, das hatte ich alles vergessen. Erst im Gespräch mit Gerhard Deny – Monate später – wurde das Lied wieder hochgespült. Wir kamen auf Hugo Ball, mit dem er sich schon lange und intensiv befasst hatte. Da begrübelte ich den Gedanken, dass das Lied vielleicht damals von den Pirmasenser Liedermachern Hein & Oss Kröher gesungen wurde?
Als mich schließlich Michael Braun über die Planung des Hugo-Ball-Abends informierte, wuchs in mir nach und nach der Wunsch: Ich muss, ich will dieses Lied in Dahn vortragen, wenn die anderen Beteiligten einverstanden sind – auch wenn ich kein Musiker bin, meine Gitarrenkenntnis bescheiden und ich wenig Übung als Vortragender besitze.
Ich musste mich also kundig machen und so habe ich über eine Internet-Recherche schnell erfahren, dass es nicht Hein & Oss Kröher waren – die übrigens im Todesjahr von Hugo Ball 1927 als Zwillinge in Pirmasens geboren wurden –, sondern der Liedersänger Peter Rohland, der beeindruckt hatte: landstreicherballaden und lieder des françois villon heißt seine CD.
So habe ich meinen Erinnerungsmix schnell entschlüsselt: In meiner Nachempfindung hatten sich die Lieder „So leben wir…“ und „In dem kleinen Bückeburger Land“ in Text und Melodie untrennbar vermischt. Mir hatte der Text des zweiten Liedes besser gefallen. Aber die Melodie des leicht beschwingten Marsches hatte mich emotional mehr bewegt. Das war auch der Grund für die Verkürzung auf die paar Worte „So fahren wir, so fahren wir…“ und die weitere Textblockade.
Peter Rohland sang also 50 Jahre nach der Umdichtung des Dessauer Marsches durch Hugo Ball – höchstwahrscheinlich in Unkenntnis der Rezeptionsgeschichte und trotz aller liedermacher-kritischen Reflektion – ungebrochen die Version einer lustigen „Landstreicherballade“133
Ein Lexikon von 1906 beschreibt den „Dessauer Marsch“ („So leben wir etc.“ ) als volkstümliche Marschmelodie, benannt nach dem Fürsten Leopold von Dessau, der „nach der Schlacht bei Cassano im Lager von Treviglio 1705 an einer Prozessionsmelodie solchen Gefallen fand, daß er seiner Musikbande befahl, dieselbe für einen Marsch zu benutzen“.
Der vor allem zum Präsentieren bestimmte Dessauer Marsch war einer der in der Hauptstadt des Deutschen Reiches am meisten gespielten preußischen Armeemärsche aber sicher auch in der damals – der Kindheitszeit Hugo Balls – fast noch puren Kasernenstadt Pirmasens auf dem „Exercierplatz“.134 In Kontinuität ohne jeden Bruch spielten ihn alle Militärkapellen aller deutscher Armeen und spielen ihn heute noch – etwa beim Großen Zapfenstreich.
Nachdem ich all das recherchiert hatte, besorgte ich mir die Briefe von Hugo Ball, und fand darin etwas zur Sommerfrische der Familie Ball in Petersbächel in der Nähe von Dahn und ganz dicht an der deutsch-französischen (pfälzisch-elsässischen) Grenze gelegen. Ich bin begeistert, die Briefe sind in einer wunderbaren, emotional authentischen Sprache geschrieben.
Aber ich musste auch zu meiner Überraschung in den Literaturangaben des Briefbandes lesen, dass mein Vorhaben, Hintergründe und Zusammenhänge zum „Totentanz 1916“ zu recherchieren, schon 1982 in hervorragender Weise in der Antrittsvorlesung von Gerhard Schaub an der Universität Trier vollzogen worden war.135 Allerdings stellten sich mir im Nachvollzug der Arbeit von Schaub und beim Versuch, Hugo Balls Weg zum „Totentanz 1916“ zu verstehen, viele weitergehende Fragen. Deren Klärung – auch wenn sie mir oft nur annäherungsweise gelang – erfordert eine sehr detaillierte Wiedergabe der Quellen. Eine ähnlich verdienstvoll umfassende Biographie Hugo Balls wie die zu Emmy Ball-Hennings Lebensgeschichte von Bärbel Reetz136 gibt es bisher nicht.
Zur Vorgeschichte bis zur Emigration nach Zürich 1915
1910–914 war alles für mich Theater: das Leben, die Menschen, die Liebe, die Moral. Das Theater bedeutete mir: Die unfassbare Freiheit.137
Mai, Juni, Juli 1914: Die Pläne, Projekte und Vorhaben Hugo Balls kumulieren und verdichten sich. Sie scheinen zu einem absehbaren Erfolg in der Welt der Literatur und des Theaters zu führen. Sie versprechen eine gewisse finanzielle Sicherheit und – endlich – die lang ersehnte Anerkennung der von seiner beruflichen Entwicklung enttäuschten Eltern.
In seinen Briefen – vor allem an seine Schwester Maria Hildebrand und seinen Cousin August Hofmann138 – berichtet er von seinen Vorhaben und Hoffnungen in einer Weise, die den Schock und die Enttäuschungen deutlicher werden lassen, die das Kriegs-Gemetzel in ihm auslösen.
Die nachfolgende kleine Zitaten-Collage veranschaulicht die riesengroße Hoffnung, die sich kurz vor dem Krieg in ihm aufgebaut hat, – und die ersten emotionalen Reaktionen danach:
Mein hiesiger Protest gegen die Massenkonfiskation der Aktion… gegen den Zensor und den Staatsanwalt geht es. Das Buch heißt die Konfiszierten und wird eine Anthologie von ungefähr 30 Schriftstellern bringen, die konfisziert oder verboten waren… die gesamte Literatur, soweit sie Aktivität im Leibe hat. Vorrede von Mir und Klabund.
… Schwesterchen, da sind sehr grosse Dinge am Spiel…139
Das Leben hier ist grandios und überstürzt mich mit Eindrücken und Neuem. Ich sprach bis jetzt mit Kerr, Pfemfert, Herwarth Walden, A.R. Meyer, Rubiner, Blei, Else Hadwiger… Walden macht die grossen expressionistischen und futuristischen Ausstellungen.140
Schade, die Berliner Zeit geht zu Ende… Berlin ist wundervoll, ein Taumel.141
Und nun ist Krieg:
Gestern stellte ich mich als Kriegsfreiwilliger. Die Theater sind heute polizeilich geschlossen worden… Kunst? Das ist nun alles aus und lächerlich geworden. In alle Winde zersprengt. Das hat alles nun keinen Sinn mehr. Ich kann Dir gar nicht sagen wie mir zu mut ist. Und man sieht ja noch gar nicht die Folgen ab.142
II. Dazu kommt dass ich absolut mittellos bin… Mir graust vor der Zukunft. Der Krieg ist das Einzige was mich noch reizt. Schade, auch das wird nur eine halbe Sache sein.143
„Scheissbande!“144 „Bachmairs Ableben – je nun. Er ist gefallen für eine – „Idee“. Hoppla. Schrieb ich Dir, dass Leybold gefallen ist? Schon im September. – Und so gehen die Tage hin. Moratorium auch im Geistigen. „Freiheitskriege“ des Tiers état. Ich möchte irgend jemandem etwas Unflätiges ins Gesicht – Na!“145
Der Weg zum Kriegsgegner
Als ich meinen Vortrag in Dahn vorbereitete, versuchte ich mir den Lebensweg Hugo Balls hin zum emigrierenden Dissidenten – als Individuum innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung146 – mittels Peter Nettls Nacherzählung der Geschichte der SPD (in seiner Biographie Rosa Luxemburgs) verständlich zu machen.147 Die mutige und avantgardistische Haltung Hugo Balls gerade auf politischer Ebene wird im Vergleich zur zunächst zögerlichen, dann opportunistischen Position der Mehrheits-Sozialdemokratie (z.B. gegenüber den Kriegskrediten) umso deutlicher. „Der apokalyptische Umriss des Krieges trat gleich zu Beginn hervor. Dies irae, dies illa (der 4. August).“148 Dieser rätselhafte Hinweis Hugo Balls auf seine Wahrnehmung und sein Empfinden bei Kriegsbeginn, lässt sich schwer entschlüsseln. Wenn er sich nicht auf das äußere Ereignis bezieht, so hat es vielleicht mit seiner familiären und freundschaftlichen Gebundenheit zu tun. Wir wissen vom Druck, den seine Mutter auf ihn ausübte, um ihn in den Krieg zu schicken – dazu später mehr – und wir wissen, dass seine beiden Freunde Hans Leybold und Klabund vehemente Befürworter des Kriegsdienstes waren. Welchen Einfluss sie auf alles, was mit Balls Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen, zu tun haben, lässt sich schwer klären.149
Nur soviel: Seine Flucht aus der Zeit beginnt er mit dem Satz:
So stellten sich 1913 Welt und Gesellschaft dar: das Leben ist völlig verstrickt und gekettet.
Um gleich darauf ganz lapidar fortzufahren:
Man möchte doch gerne verstehen, begreifen. Was jetzt losgebrochen ist, das ist die gesamte Maschinerie und der Teufel selber. Bis in die letzte Grundveste ist alles ins Wanken geraten.150
Hugo Ball meldet sich „gemeinsam mit Klabund erstmalig am 6. August“151 (und wiederholt?)152 „als Kriegsfreiwilliger beim 1. Schweren Reiterregiment“,153 wird aber zu seinem Leidwesen zurückgestellt.
Vom 29. August bis zum 1. September 1914 reiste Hugo Ball an die lothringische Front, um einen „lieben Verwundeten zu besuchen.“154 Wie ein Kriegsberichterstatter protokollierte Ball seine Eindrücke, ohne kritische Anmerkungen oder Kommentare.
In Dieuze brachte man einen schwerverwundeten Dragoner, Kopfschuss, mit blauem Gesicht und hervorgequollenen Augen, den man spät in der Nacht am Waldrand noch gefunden hatte. Man brachte ihn unter in einem mit Stroh bedeckten Schuppen, wo er auf allen vieren zwischen Toten und Verwundeten unstät umherkroch, als die Laterne des Arztes ihn suchte. Die amputierten Arme und Beine sollen unten auf einem Lazaretthof haufenweise gelegen haben, bis man endlich Zeit fand, sie zu begraben. Gräßlich sei in der Schlacht das Aufschreien und Hilferufen der von den heißen Geschossen Getroffenen gewesen…
Tote Pferde am Wegrand, zerschossene Bäume geben der Landschaft mitten im Sonnenschein etwas winterlich Oedes… Man schlachtete, kochte ab, Pferde standen gruppenweise, Ochsen im Joch: Ein Biwakleben wie auf Bildern vom 30jährigen Krieg…
Von Domevre, einem ziemlich grossen und stattlichen Dorf, stehen nur noch die Umfassungsmauern. Durch leere Fensterhöhlen scheint der blaue Himmel. Kein Hund ist zu sehen, kein Bewohner, keine Katze, kein lebendes Wesen… Die Soldaten erzählen uns: Jedes Haus, aus dem Schüsse fallen, wird angezündet, wer herauskommt, wird erschossen…155
Wie Hugo Ball verschafft sich Karl Liebknecht einen eigenen Eindruck vom Krieg:
Eine Reise an die Westfront, die er im Oktober als Reichstagsabgeordneter unternahm brachte ihn anscheinend endgültig zu der Überzeugung, daß ein paar vorsichtige Protestbriefe nicht genügten. Im November begann er in der Reichstagsfraktion mit der Propaganda für die Ablehnung der nächsten Kriegskreditvorlage… Aber als es am 2. Dezember zur Abstimmung kam, war er der einzige, der die Parteidisziplin und den Burgfrieden brach und gegen die Kredite stimmte156
In der Silvesternacht 1914/15 „demonstrieren wir auf unsere Weise gegen den Krieg“: Vom Balkon einer Berliner Wohnung brüllt Hugo Ball seine Neujahrsbotschaft: „A bas la guerre!“ und veranstaltete am 12.2.1915 zusammen mit Richard Huelsenbeck eine „Gedenkfeier für die gefallenen Dichter. Man wollte die Notiz nicht bringen, weil darin auch einem Franzosen gedacht war.“157
Die auf dieser kaum kaschierten Anti-Kriegsveranstaltung158 von Ball vorgetragene „Totenrede“ auf Hans Leybold sowie das „Literarische Manitest“, das er mit Huelsenbeck verbreitet, sind Dokumente „literarischer Trauerarbeit“ nach dem Verlust seines Freundes, die Ball „zu seiner eigenen Therapie“159 verfasste, so Gerhard Schaub in „Dada avant la lettre“ – „und die Konzeption des Dadaismus ereignete sich wenn man sie denn auf Monat und Jahr datieren will – im Februar 1915 in Berlin.“160
Nach Emmy Hennings Ankunft in Berlin, mit der er seither zusammenlebt, schreibt er seiner Schwester:
In Zürich soll viel internationales Leben sein… dass ich im Sommer… für einige 14 Tage in Zürich bin… Seit gestern ist Emmy Hennings wieder hier. Sie kommt – aus dem Gefängnis.161
Und fünf Tage später:
… nur noch auf politischem Wege können die Dinge durchgesetzt werden, die wichtiger sind als alle Politik. Ich lebe ganz und ausschließlich in sozialistischer Natur. Ich denke Dinge, die an Radikalität vieles übertreffen, was man bis jetzt vorgebracht hat. Meine lange Zurückhaltung, mein langes Ausserhalbstehen hat mir einige Vorteile gebracht.
Insbesondere interessiert mich alles was Russland angeht. Von dort erhoffe und erträume ich mir eine Befreiung und einen Umsturz, wie er sich nur mit der französischen Befreiung von 1789 vergleichen läßt… Dieser Krieg ist ein Kabinettskrieg, ein Regierungskrieg. Dagegen stellen wird sich eines Tags das gesamte geistige und ökonomische Proletariat. Diese ungeheure Brutalität, mit der alle Humanität, Menschlichkeit, alle Bildung und Kultur heute wider besseres Wissen unterdrückt werden, wird sich rächen. Es ist ein Grund absoluter Verzweiflung an allem, was uns Jungen heute Fortschritt, Kultur, Menschentum heisst, wenn sie sich nicht rächt. Na, inzwischen wird man sich – weitermorden.162
In einem ausführlichen Brief an Käthe Brodnitz vom 9. April 1915163 legt Hugo Ball seine missliche Lage in Berlin dar: gerade bei der Illustrierten Zeit im Bild „(endlich) als ,Redakteur‘ eingestellt“ zu sein, ohne von der ,Gage‘ ,auf Dauer‘ leben zu können“: „Also werde ich demnächst kündigen“. Nach einem grundlegenden Zerwürfnis mit dem Herausgeber der Aktion im Kontext der „Gedächtnisfeier“164 war dort eine Fortsetzung seiner Publikationsarbeit undenkbar. Und „… es ist unmöglich und naiv jetzt wirken zu wollen.“ Schließlich kündigt er an, am 1. Juni nach Zürich abzureisen, vorausgesetzt er finde finanzielle Unterstützung, um die er auch bittet.
Zur Inkubations- und Entstehungszeit des „Totentanzes 1916“
In diesem Brief (April 1915!!) berichtet Ball, er sei „nicht ,Jäger‘ geworden (trotzdem ich bereits die Kriegbeorderung hatte)“ – ein Rätsel,165 das ich nicht klären konnte, das aber mit der Entstehung des „Totentanzes“ ganz eng verbunden ist und bei meiner Recherche einen Stolperstein166 darstellte, über den ich zu etwas anderen Ergebnissen komme, als ich sie in den mir zugänglichen Veröffentlichungen vorfinde.
Ausgangspunkt für die Datierung der Entstehung des „Totentanzes“ ist ein Brief von Hugo Ball an Emmy Hennings.167 Denn die Zeit, in der die beiden 1915 in der Schoffelgasse wohnten (also Juli und August 1915), ist – nach Schaubs bislang unangefochtener These – „die Entstehungszeit des ,Totentanzes 1916‘“.168 Es ist die Zeit, in der sie aus Angst – vor Verhaftung und Abschiebung wegen Fahnenflucht?169 – nach Genf geflohen waren.170 Ball hatte bei der Anmeldung einen gefälschten Pass vorgelegt. Nach der Rückkehr aus Genf wurde er dafür zu 14 Tagen Haft verurteilt.
Allerdings spielt diese Angst noch bis in den Oktober 1915 hinein weiterhin eine große Rolle.171 „Beide hatten wir Fieberanfälle und schmerzhafte Schwächezustände, waren aber sehr darauf bedacht, nur nicht vor Zeugen zusammenzubrechen und in ein Krankenhaus eingeliefert zu werden, da wir nach unserer Genesung nur die Ausweisung zu befürchten hatten.
Die Kriegsbeorderung traf ein, der Ball nicht nachkommen konnte, und die er in den See versenkte und damit befanden wir uns im Exil, in einem Gefängnis, in dem wir zunächst nicht vor- und rückwärts wußten. Von einer vernünftigen geistigen Arbeit konnte nicht die Rede sein.“172
Erst am 20.10.1915, so Ball in seinem Tagebuch, hat er seine „ Kriegsbeorderung“ im „ Zürichsee versenkt“ und hat, wie er grandios symbolisch verdichtet, das „Eiserne Kreuz“ nicht auf der Brust, sondern „auf dem Rücken“ zu tragen.173 Und am 26.10.1915 schreibt er seiner Schwester:
Macht Euch keine Sorge. Es ist alles in bester Ordnung. Ich habe Aufenthaltsbewilligung bis 1920.174
Wenig später im November tauchte seine Mutter unerwartet bei einem Auftritt in Basel auf, wovon Emmy Hennings sehr eindrücklich berichtet,175 und versucht ihn, zur Rückkehr nach Deutschland und an die Front zu bewegen. Wohl kurz darauf schreibt er seiner Schwester:
Ihr zuhause wisst von mir nicht viel. Man muss sich wohl ganz ablösen von der Familie, um ein eigenes Leben zu führen.176
Am 3.11.1915 notiert er:
Wie zerfahren alles ist und aussichtslos? Was soll daraus werden?177
Schon Anfang Oktober schreibt er:
Der Mensch hat aber viele Ichs, wie die Zwiebel viele Schalen hat. Auf ein Ich mehr oder weniger kommt es nicht an. Der Kern ist immer noch Schale genug.178
Später wird er sagen, „es ist das, was man Persönlichkeitsentwicklung nennt, um das es sich beim Dadaismus drehte“,179 und:
Mensch werden ist eine Kunst. (Novalis).180
Die literarischen Arbeiten zu Beginn des Exils
Die Ankunft in Zürich war für das Paar Hennings-Ball ein – man kann es nur so drastisch sagen – harter Aufschlag. Die mitgebrachten finanziellen Mittel waren rasch verbraucht,181 die erhoffte Publikationsmöglichkeit in der Zeitschrift Mistral obsolet, ein Anknüpfen an ein Netz Gleichgesinnter in der literarischen Welt äußerst schwierig, der letzte – auch finanziell wichtige – (Not)Anker wurde der Kreis der Anarchisten um den Zürcher Arzt Dr. Fritz Brupbacher. Dieser ermöglichte mit dem Revoluzzer und später der neuen Tribüne überhaupt den Zugang zur Veröffentlichung von Texten in der Schweiz und leistete finanzielle Unterstützung, was aber eine harte und über die Monate hin drohende Hungersnot im Hause Ball nur lindern konnte.
So blieb die Veröffentlichung des Essays „Die junge Literatur in Deutschland“182 am 14. August 1915, dem Tag der Verhaftung Hugo Balls, im Revoluzzer über Monate hinweg seine einzige Publikation. In einer scharfsinnigen Analyse deutet sich darin die Metamorphose vom Literaten zum Politiker Ball an:
Der Kampf, den die junge Literatur in Deutschland heute zu führen hat, geht um Bildung einer oppositionellen Partei. Opposition gegen die hier wie in keinem Lande allmächtige Bourgeoisie; Opposition gegen den krassen Materialismus in Leben, Kunst, Politik, Presse; Opposition gegen die offizielle Oppositionspartei (die Sozialdemokratie).
Der Krieg hat eine Annäherung der intellektuellen Elemente zu den proletarischen eingeleitet. Die Gemeinsamkeit liegt in der Opposition gegen den Krieg, gegen den Patriotismus. Der Krieg hat darüber hinaus aber auch die ökonomische Deklassierung der Intelligenz angebahnt, eine Tatsache, von der noch manches zu erwarten ist. Der junge Literat bürgerlicher Herkunft findet heute keinen Boden und kein Publikum mehr. Irgendwie empfindet er in Lebensfragen realer, radikaler als je.183
Der Essay muss schon vor der Flucht nach Genf geschrieben worden sein. Aber der Positionswechsel,184 dass es nicht mehr ,nur‘ um Literatur geht, sondern um politisches Eingreifen, war sicher eine Voraussetzung für das Entstehen des Agitationstextes „Totentanz“ und damit durchaus ein Indiz dafür, dass der Text in dieser Zeit entstanden sein mag. Ein weiteres Indiz ist eine sarkastische Tagebuchnotiz, die das maschinen- und fabrikmäßige „So sterben wir, so sterben wir, so sterben wir alle Tage“ kommentiert.185 „So sterben wir“: die erste Soldatenreihe fällt, „so sterben wir“, die zweite Reihe fällt, „so sterben wir alle Tage“, die dritte fällt und am nächsten Tag bis hin zu unabsehbaren Tagen folgen Reihe für Reihe in den Tod.
Und dieser Krieg ist ihm, wie eine Karte an August Hofmann aus Zürich belegt, bis hin zur brennenden Sorge um dessen überleben ganz nah.186
Allerdings und das ist meine These, die ich im weiteren versuche zu belegen, kann dies zwar eine erste Variante, muss aber nicht die endgültige Fassung des „Totentanz 1916“ gewesen sein, die Emmy in der Schoffelgasse gesungen hat. Vielleicht gab es zunächst nur eine oder zwei vielleicht auch drei Strophen, aber der Titel und das Zentralmotiv können auch erst später hinzugekommen sein.
Wofür vieles spricht – nicht zuletzt das Titel-Supplement „1916“ sowie das Veröffentlichungsdatum fast ein halbes Jahr später. Denn was spricht dagegen, dass ein im Sommer fertig gestelltes und abgeschlossenes Werk nicht relativ zeitnah zur Entstehung veröffentlicht wurde – wie es Ball ja auch mit dem Gedicht „Einer Verdammten“187 in dieser Zeit gemacht hat?
Ich kann hier nur einige Indizien dafür aufführen, dass das Werk erst nach oder während des Aufenthaltes in Basel im November denkbar ist.
Die kopf- und ausweglose Flucht nach Genf, Polizei- und Militärspitzel, Denunziation,188 Gefängnishaft und die Unklarheit bezüglich seiner Einberufung bzw. seiner Aufenthaltsgenehmigung, die materielle Notlage, die ersten großen Auseinandersetzungen in der noch jungen Beziehung des Paares, und dann das dichte Zusammenleben mit dem Artistenensemble vor allem in Basel, waren für Ball eine Zeit, in der er immer wieder mit seinen Erfahrungen seit Beginn des Krieges konfrontiert wurde und die ihn in seine tiefste Krise führten. Eine Krise, die viele Schichten („Zwiebelschalen“) umfasste. Auf dem Weg aus der Krise hat er gelernt:
In einer Zeit wie der unsern, in der Menschen täglich von ungeheuerlichsten Dingen bestürmt werden, ohne sich über die Eindrücke Rechenschaft geben zu können, in solcher Zeit wird das ästhetische Produzieren zur Diät.189
18.9. Der Zusammenbruch nimmt ungeheure Dimensionen an. Auch auf das alte idealistische Deutschland wird man sich nicht mehr berufen können, also völlig ohne Boden sein … Diese ganze Zivilisation war zuletzt nur noch Schein.190
Und Anfang Oktober „die Welt hat einen anderen Aspekt. Ich wohne in der Grauen Gasse und heisse Géry. Auf dem Theater nennt man das Verwandlung, Umbau.“ Im Varieté Maxim191 verdienen Ball nun und Emmy bis Dezember 1915 den Lebensunterhalt.
Das Leben pulsiert hier frischer und ungebundener, weil man keine Hemmungen kennt. Aber welch ein Leben ist es.192
Sein Alltag: Die Reflexionen zu „Drogen“193 sind genauso wenig rein theoretischer Natur wie die Assoziationen zum „Totenkopf“.194
Man soll sich hüten, Zeit und Gesellschaft bei ihrem wirklichen Namen zu nennen. Man soll hindurchgehen wie durch einen bösen Traum.195
Der Aufenthalt in der Schweiz:
Es ist ein Grössenwahn, aber ich nehme mitunter die ganze Geschichte, als sei sie für mich arrangiert.196
Er fühlt sich, wie Daniel in der Löwengrube.
Wenn ich jetzt abermals flüchten wollte, wohin sollte ich gehen? Die Schweiz ist ein Vogelkäfig, umgeben von brüllenden Löwen.197
Und am 17. Oktober:
Mit aller mir zu Gebote stehenden Leidenschaft bin ich bemüht, mir gewisse Wege und Möglichkeiten (so z.B. Karriere, Erfolg, eine bürgerliche Existenz u. dgl.) völlig und für alle Zeiten zu verlegen.198
Man muss sich die lyrischen Gefühle abgewöhnen. Es ist taktlos, in solcher Zeit mit Empfindungen zu prunken.199
Die französische Literatur, die er nun liest und in Übersetzung publiziert, ist nicht mehr so sehr poetischer Natur. Es sind politische Texte:
Mit dem wirtschaftlichen Komplott des Krieges machte mich Delaisi (,La guerre qui vient‘) bekannt. Ich verstehe jetzt, weshalb das kleine Land Belgien allen Parteien so wichtig war. Für Deutschland bedeutete Antwerpen einen neuen kürzeren Weg zum Weltmeer…200
Am 8.10. publiziert Ball zunächst die Übersetzung des Schlusskapitels „Die Klage von Reims“ des Buches Nous et Eux des französischen Essayisten André Suarès,201 dann eine Rezension dieses Buches202 und schließlich am 5. November „Das wahre Gesicht“203 – allesamt Texte, die Deutschlands gnadenloser Selbstgerechtigkeit einen Spiegel vorhalten und deren Veröffentlichung in Deutschland zu diesem Zeitpunkt undenkbar gewesen wären. Sie werden Auftakt des jahrelangen Versuchs, sich Klarheit über Ursache und Schuldfrage für diesen Krieg zu verschaffen.
Unter welchen Bedingungen und wie Hugo Ball sich von dieser Frage bedrängt sah, schildert Emmy Ball-Hennings in einem höchst eindringlichen Bericht aus der Basler Zeit:
Unser Malariakönig liegt, wenn er sich nicht gesund fühlt, zwischen uns, und über den Schlafenden hinweg reicht mir Hugo, was er geschrieben hat, denn wir können nicht existieren, wenn wir nachts nicht ein wenig lesen oder schreiben können. Es ist mir aber ein Rätsel, daß Hugo soviel Sammlung aufbringt, seine wissenschaftlichen Interessen zu pflegen und zu notieren. Manchmal meint Hugo, es sei unsere Schuld, unsere Absicht gewesen, in dieses Milieu zu kommen… „Wir hätten vor Jahren besser acht geben sollen, auch auf die deutsche Geschichte… Wir haben soviel versäumt… Das hätten wir nicht dürfen…“204
Emmy Hennings berichtet von „Befremdungen“, von denen Hugo Ball heimgesucht wurde.
Es waren Zustände, die sich auch physisch bemerkbar machten. Er verfiel in eine Starre, die etwa einige Minuten währte.
Das hat sie in Basel zum ersten Mal bemerkt. Später häuften sie sich. Dabei „empfand er so viele Fremdheiten in sich, daß er sich als Gefäß vieler in Agonie befindlicher Seelen wähnte und über Belebungsversuche sann.“205
Am 6.11. berichtet er – wie weiter oben erwähnt:
Der apokalyptische Umriss des Krieges trat gleich zu Beginn hervor. Dies irae, dies illa (4. August).206
Und dann seine Rückschlüsse und Einsichten: „Kunst, Philosophie, Musik, Religion: alle höheren Bestrebungen sind intellektualisiert, vernünftig geworden. Der Krieg hat wenigstens dem Teufel zu einem befreienden Ausdruck verholfen und der Teufel gehört nicht mehr zur rationalistischen, sondern zur mythologischen Sphäre. Das indifferente Kohabitieren der Gegensätze von Gut und Böse hat aufgehört. Spinoza und Hegel sind überwunden. Niemand scheint es noch zu bemerken.207
Sich so weit wie möglich aus der Zeit entfernen, um sie zu überblicken.208
Der Dandy muss unaufhörlich danach trachten, erhaben zu sein. Ein grosser Mensch sein und ein Heiliger für sich selbst: Das einzig Wichtige. Tagtäglich der grösste Mensch sein wollen. / Ein transzendentes Leben führen.209
Der Totentanz – ein politisches Zeitgedicht
Nun „in der zweiten Hälfte des Jahres 1915, nach einer längeren Phase der lyrischen Unproduktivität“ – so Gerhard Schaub – hat Ball „wieder eine Reihe von Gedichten und Liedern verfasst und zwar vor allem – wenn nicht ausschließlich – politische Zeitgedichte.“210
„Sprachlich und formal sind diese um 1916 entstandenen Gedichte viel konventioneller geworden, das Anliegen des Autors, seine Distanzierung vom Krieg, sollte eindeutig hervortreten. Wieviel Wert auf Verständlichkeit Ball hier legt, zeigt am deutlichsten das Gedicht „Einer Verdammten“, in dem er literarisch völlig unverschlüsselt auf den Fall einer Frau aufmerksam macht, die wegen Abtreibung verurteilt wurde.“211 Diese Gedichte sind z.T. „Reminiszenzen“,212 die die Erfahrungen bis zurück zu den ersten Tagen des Krieges und seine Reise auf den Schlachtfeldern Lothringens einbeziehen:
ICH LIEBTE NICHT
Ich liebte nicht die Totenkopfhusaren213
Und nicht die Mörser mit den Mädchennamen
Und als am End die grossen Tage kamen,
Da bin ich unauffällig weggefahren.
…
Man stirbt nicht nur durch Minen und durch Flinten.
Man wird nicht von Granaten nur zerrissen.
In meine Nächte drangen Ungeheuer,
Die mich die Hölle wohl empfinden ließen.
Der von Eckhard Faul konstatierte Stilwechsel findet sicher auch über die intensive Lektüre Heinrich Heines vielfältige Anregungen, die Hugo Ball für die Zeit ab Oktober 1915 mehrmals erwähnt.214 Dies ist mir ein weiterer Anlass zu fragen, ob Teile des „Totentanzes“ nicht erst im Herbst bzw. Winter 1915 entstanden sein können? Denn unzweifelhaft ist Heinrich Heine Motivgeber für zwei der Sprachbilder im „Totentanz“, wie Gerhard Schaub detailliert und anschaulich nachweist.215
Ich will und kann hier nicht auf alle Bilder und Motive eingehen, die in den „Totentanz“ eingeflossen sind, zumal Gerhard Schaub sie sehr genau bis hin zu Zitaten aus „kriegsaffirmativen Soldatenliedern“ ebenso nachweist wie z.B. den Hintergrund für „Wir murren nicht“.216
Auch ist seiner Analyse des Totentanzes als „Parodie“ und „Anti-Kriegs-, ein Anti-Preußen-Lied und ein Anti-Kaiser-Lied“217 nur zuzustimmen.
Der Totentanz – ein Lied
Denn mächtig verbündet in unseren Tagen
Das reiche Ungeziefer ist.
Es sitzt mit dem Geldsack unter dem Arsch
Und trommelt siegreich den Dessauer Marsch.218
Dies ist dem Gedicht „Der Wanzerich“219 entnommen und deutet die Konnotation des Dessauer Marsches als „Siegesmarsch“ an. Sein Rhythmus und seine Melodie haben einen fast zwingend mitreißenden Sog. Fritz Mauthner hat diese Wirkung – selbst auf skeptische Zeitgenossen – in seinen Erinnerungen beschrieben:
Besonders der Dessauer Marsch machte uns wirblig, ich weiss nicht mehr warum. Er erklärte uns auf einmal die Weltgeschichte. Es ist mir heute noch nicht zum Lachen, wenn ich daran denke…220
Der Totentanz kommt aus Basel
2. XI Basel: Diesmal wird es die Stadt der Totengräber, der Messkuriosa und Anomalien sein… Wer hier etwas… auf dem Gewissen hat, der trommelt und man versteht ihn. Es wird nur einmal im Jahr und summarisch getrommelt. Die ganze Bürgerschaft beteiligt sich daran. Man gedenkt seiner verstorbenen Freunde und… aller historisch erfassbaren Hinrichtungen, Füssiladen, Bataillen und Kasernen… aller schreckhaften und funeralen Einrichtungen und Vorkommnisse dieses finsteren Daseins und trommelt sie sich von der Seele. Als Alarm und Reveille betrachtet, ist es die Auferstehung der Toten. Es ist zu überlegen, ob ich mir Basel nicht zur Geburtsstadt kreiere.221
Meine These, dass Balls „Totentanz 1916“ erst relativ kurz vor Veröffentlichung seine endgültige Form erhielt, stützt sich auch auf die Vermutung, dass sich Titel und Herzstück des Liedes in dieser Zeit in Basel eingefunden haben. Schaub verweist auf die „Totentanz-Konjunktur zur Zeit des Ersten Weltkriegs“222 und die vermutlichen Kenntnisse Balls für Geschichte und Bedeutungshof des Totentanzes,223 aber eine schlüssige Erklärung für die Übernahme dieses Motivs für sein Lied liefert er nicht. Was ist naheliegender als die Vermutung, dass Ball in Basel darauf gestoßen sein muss.
Der Basler Totentanz bezeichnet ursprünglich eine Bildkomposition, welche im Spätmittelalter in Basel auf die Innenseite der Friedhofsmauer bei der dortigen Predigerkirche gemalt wurde und ein memento mori darstellt.
Veröffentlichung und Wirkung des Totentanzes
Hugo Balls „Totentanz“ wurde zum ersten Mal Anfang Januar 1916 veröffentlicht und zwar auf der Titelseite des Revoluzzers – Untertitel „Sozialistische Zeitung für Bildung und Unterhaltung“ (Zürich) – als „eines fürs ganze Jahr gedachtes, sarkastisches Memento mori, eine makabre literarische Neujahrsbotschaft “.224 Er wurde als Postkarte225 gedruckt, und „soll später auch in großer Stückzahl über den Schützengräben der deutschen Front abgeworfen worden sein“.226
Wer den Dessauer Marsch attackierte, griff Preußen, griff das Deutsche Kaiserreich an. – Mit seinem… Antikriegslied attackiert Ball ein musikalisch-militärisches Herzstück der von ihm je länger je leidenschaftlicher bekämpften preußisch-protestantischen Mentalität.227
Der „Totentanz“ ist für Ball so eine emotional und politisch weitgehend geklärte Verdichtung seiner Haltung zum Krieg. Er enthält in nuce alle Impulse, die er dann in Bern bei der Freien Zeitung in seiner politisch entschiedenen Publizistik so hellsichtig ausformulierte.228 Sie mündete in die Kritik der deutschen Intelligenz.
Seine Wirkung aber entfaltete der „Totentanz“ vor allem durch den mündlichen Gesangsvortrag, das heißt als kabarettistisch dargebotenes Lied in den Räumen des am 5. Februar 1916 von Hugo Ball und anderen Emigranten eröffneten Cabaret Voltaire, der Wiege des Zürcher Dadaismus. Interpretin des Liedes auf der Kabarettbühne ist von Anfang an Balls Freundin, ,Muse‘, und spätere Frau Emmy Hennings gewesen, eine gelernte, erfahrene, über die Maßen talentierte Kabarettistin, die durch die besondere Art ihres Vortrags den ,Totentanz 1916‘ schnell zu einem beliebten ,Cabaretschlager‘ gemacht hat.229
Das Produzentenpaar Ball-Hennings
Sie singt mit einer nicht schönen aber expressiven Stimme… Sie singt ein Soldatenlied auf diesen Krieg von Hugo Ball. Sie singt es auf eine einfache fast fröhliche Melodie. Und der Sarkasmus und Haß, die Verzweiflung der in den Krieg gejagten Männer, klingt in jedem Satz.230
„Ihre Vorträge“ waren „weder stimmlich noch vortragsmäßig im herkömmlichen Sinne künstlerisch“. „Sie stellten vielmehr in ihrer ungewohnten Grelle einen Affront dar, der das Publikum nicht weniger beunruhigte als die Provokationen ihrer männlichen Kollegen.“231 Emmy „kreischte wie eine Möve, die sich von den Wellen des Kattegatt erhebt…“232 Ich stelle mir vor, dass ihre Stimme sich ähnlich einzigartig angehört haben muss, wie die Stimme von Janis Joplin.
„Ohne Emmy“ „wäre es mir nicht möglich“, „das tägliche Programm zu geben“, weiß Ball233 – und beschreibt in seinen Briefen die künstlerische Symbiose mit der Sängerin:
Weisst Du, dass Du Empörung und Zärtlichkeit verursachen kannst, oft liegt beides in einem einzigen Ton und wenn ich arbeiten will, brauche ich nur an Deine Lieder zu denken… Oh, wie mich Deine Stimme zum Schreiben anregt! Ich hielt nicht viel von meinem ,Totentanz‘, als Du ihn mir aber das erste Mal vorgetragen hast in der grauen Schoffelgasse in Zürich, oh, Emmy, das werde ich nie vergessen und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte… Ja, Deine Stimme kann ich nicht vergessen… Und jeder Ton liegt mir noch im Ohr und treibt mich zu immer neuen Dingen…234
So wie Emmy Hennings durch ihre Stimme dem „Totentanz“ kurz nach der Geburt des Liedes eine – vom Autor nicht erwartete – Wirkung einhauchte, sie machte seine Worte lebendig,235 so war es auch ihre Art des Vortrags, ohne den der Text nicht in dieser Aufsehen erregenden Form seine Geltung erreicht hätte.
Emmy lehrte den „Buchstabenkönig“ die Macht des lebendigen Wortes coram publico, bis aus ihm selber im Vortrag aus einer rhythmischen Buchstabenfolge und „Lautgedichten“ eine aus tiefen Räumen kommende Musik hervorbrach.
Nicht zur Eröffnung am 5.2., sondern erst am nächsten Tag wird von Hugo Ball der Programmpunkt „,Totentanz‘ unter Assistenz des Revoluzzerchors“ aufgeführt, aber seither gehörte er wohl zum festen Repertoire, war Anregung für Weiterungen und gewiss nicht unwesentlich für das „Image“ dieses Cabarets inmitten der internationalsten (Kriegs) Emigrantenstadt der Zeit, Zürich.236
Ohne das professionelle Varieté-Paar hätte es das Cabaret Voltaire nicht gegeben.
Hugo Ball, der Älteste an Jahren, war für uns, die wir Anfang der Zwanziger standen, eine Art geistiger Nährvater. Emmy Hennings wurde die Seele des Cabarets, ihre Couplets retteten uns vor dem Hungertode.237
Das nachfolgende Resümee George Steiners ist so berechtigt, wie bedauerlich:
Allmählich dürfen wir… die Behauptung wagen, daß der ganze Modernismus bis auf den heutigen Tag, bis zur minimalistischen Kunst und zum Happening, zur aleatorischen und zur ,Freak-out‘-Musik, nur ein Nachspiel – noch dazu oft mittelmäßig und aus zweiter Hand – zum Dadaismus ist. Die sprachlichen, theatralischen und künstlerischen Experimente, die während des Ersten Weltkriegs in Zürich begonnen und später nach Köln, München, Berlin, Hannover, Paris und New York übertragen wurden, gehören zu den wenigsten unbestritten echten Revolutionen und Zäsuren in der Geschichte der menschlichen Einbildungskraft.
Die Genialität der Dadaisten lag weniger in dem, was sie vollendeten (stellten sie doch gerade den Begriff von etwas ,Fertigem‘ in Frage), als in der Reinheit ihrer Wünsche und der Uneigennützigkeit ihres schöpferischen und kooperativen Impulses. Die Slapsticks und Erfindungen von Hugo Ball, Hans Arp, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck, Max Ernst, Kurt Schwitters, Francis Picabia und Marcel Duchamp haben eine würzige Frische, eine asketische Logik, wie sie den einträglicheren Rebellionen der Folgezeit bekanntlich abhanden gekommen sind.238
Dass an der Wiege des Dadaismus der „Totentanz 1916“ gesungen wurde, mit all den Folgen für alles weitere, wurde in der Dada-Rezeption großteils ausgeblendet ebenso wie die damit eng verbundene spätere publizistische Tätigkeit Balls bei der Freien Zeitung bis hin zur seiner Kritik der deutschen Intelligenz, einem luziden noch heute gültigen politischen Essay.239
Hannah Arendt sieht in Ereignissen des Ersten Weltkriegs den Anfang einer unheilvollen Kettenreaktion:
Nichts, was seit dem Ersten Weltkrieg sich wirklich ereignete, konnte wieder repariert werden, und kein Unheil, nicht einmal der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, konnte verhindert werden. Jedes Ereignis hatte die Qualität einer Katastrophe, und jede Katastrophe war endgültig.240
Epilog
Mein persönliches Anti-Kriegslied, das ich in der Zeit meiner Kriegsdienstverweigerung – mit der Gitarre auf der Haustreppe sitzend lautstark – in den Pfälzer Hof mitten im Dorf brüllte, war nicht – ich verweise auf den Prolog – der „Totentanz“, sondern „Soldat Soldat“ – ein Agitationslied von Wolf Biermann:
Soldat Soldat, ich finde nicht
Soldat Soldat, dein Angesicht
Soldaten sehn sich alle gleich
lebendig und als Leich.241
Biermanns Lied hat den drohenden Atomkrieg als Hintergrund und dekuvriert die Entindividualisierung und lückenlose Kollektivierung in der Formulierung „ohne Angesicht“ und „alle gleich / lebendig und als Leich.“. Es spricht die künftige Soldatengeneration – in Deutschland! – an, „die Welt ist jung“ „so jung wie Du“ – die Welt war nicht so „jung“!
Im Nachhinein frage ich mich, ob nicht genau dies – wie die weithin dominierende Wiederaufnahme des Marxismus (-Leninismus) im Mainstream der Studentenbewegung und den folgenden Organisationsversuchen als Hauptquelle – Ergebnis der Ausblendung dessen ist, was der Deserteur Hugo Ball so luzide herausgearbeitet hat.242 Es ist wirklich nicht nur ein dramaturgischer Kniff, wenn im „Totentanz “ – mitten drin und als zentrales Bild – von mir und dich und deine Brust und du die Rede ist, vom einzelnen Menschen und seiner Verantwortlichkeit: Die dritte von insgesamt fünf Strophen beginnt, den Automatismus der unbeirrt vorrückenden Kriegsmaschine der 1. Strophe wiederaufnehmend, mit:
So morden wir, so morden wir.
Dann aber wird – im Gegensatz zur 1. Strophe – die Fortsetzung abgebrochen und es wird das Kollektiv personalisiert:
Wir morden alle Tage
Unsre Kameraden im Totentanz.
Dieser Totentanz ist kein kollektiver, es sind zwei Menschen, die um den Sieg als Mörder kämpfen:
Bruder reck dich auf vor mir,
Bruder, deine Brust!
Bruder, der du fallen und sterben musst.
Und – so die Vorhaltung – wollt ihr Mörder werden, wollen wir als Mörder leben „alle Tage“? „Wir murren nicht, wir knurren nicht. / Wir schweigen alle Tage,“ – auch „Bis sich vom Gelenke das Hüftbein dreht.“
Eine solch eindringliche Vergegenwärtigung des Krieges wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg verdrängt und auch dann kaum angesprochen, als im Zuge der Studentenbewegung die Vätergeneration auf ihre persönliche Verantwortung hin zur Rede gestellt wurde.
Weit über das von Ball politisch gezielt gedachte Eingreifen in die aktuelle Entwicklung nach Kriegsende hat die „Kritik“ auch heute noch vieles von seiner phantastisch aufklärerischen Kraft. Gerade auch deshalb, weil die weitere Entwicklung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg im größtmöglichen Desaster endete. In Kenntnis der späteren Geschichte wurde die „Kritik“ zu einem unerhörten Kassandraruf auf das – ausgehend von Deutschland – von Katastrophen verheerte 20. Jahrhundert.
So kann man den Totentanz 1916 nicht nur als ein „Memento mori“ auf den Ersten Weltkrieg begreifen, sondern für das gesamte 20. Jahrhundert bis hin zu seinem Ende, an dem angesichts der Kriege in Jugoslawien und im Irak nicht wenige aus der deutschen Intelligenz ihre Haltung änderten – hin zu einem Pazifismus, der nicht mehr „a tout prix“ tragbar zu sein scheint.
Verlust des Paradieses
Mit der Säkularisierung wurde nicht mehr der Weg in den Himmel, sondern das Paradies auf Erden das Ziel. Mit unabsehbaren Folgen. Die menschheitsgeschichtlichen Erfahrungen, die sich in vielfältigsten religiösen Lehren und Ritualen des Alltags in unendlich vielen Metamorphosen tradierten, waren meist und weithin mit der Aufklärung aus dem Geist und Sinn geblasen, und von der Gestaltung der aufgeklärten Welt abgeschnitten. Die Rückkehr ins Paradies war nun politisch-utopisches Programm für die Jetztzeit, sozusagen aus dem Stand und möglichst subito!
Es gibt zwei menschliche Hauptsünden, aus welchen sich alle anderen ableiten: Ungeduld und Lässigkeit. Wegen der Ungeduld sind sie aus dem Paradiese vertrieben worden, wegen der Lässigkeit kehren sie nicht zurück. Vielleicht aber gibt es nur eine Hauptsünde: die Ungeduld. Wegen der Ungeduld sind sie vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück.243
Am Ende von Hugo Balls Roman Tenderenda der Phantast taucht der „Totentanz“ noch einmal auf:
CHORUS SERAPHICUS
Das Voll und Ganze wird hier Ereignis.
Im Totentanze strebt es zum Gleichnis.
Das Unerhörte – hier tritt es ein.
Im grellen Lichte: Verworfensein.244
Mit unendlicher Geduld begab sich Hugo Ball auf einen langen Weg in eine Vergangenheit noch weiter zurück als in die Reformationszeit, dem Ausgangspunkt seiner „Kritik“:
Hatte ich in meinem ersten Buch den Zwiespalt aufgezeigt, in den besonders die deutsche Bildungsarbeit durch die Reformation und den anschließenden Klassizismus gebracht worden war, so musste mir daran gelegen sein, zu den Lehren einer Zeit zurückzukehren, in der ein Ausgleich zwischen christlichen und hellenischen Idealen schon einmal mit grossen Ergebnissen errungen worden war. Diese Zeit war diejenige der grossen christlichen Kirchenväter, das Urchristentum und der früh byzantinischen Kirche… so glaube ich nunmehr eingesehen zu haben, daß solchem Ungestüm, auf dem im Grunde der deutsche Heldenbegriff beruht, daß dem sogenannten furor teutonicus nur begegnet werden könne mit der Entfesselung einer übernatürlichen, einer jenseitigen, einer symbolischen Weltbetrachtung…
Dem in Deutschland wiedergeborenen Heldenbegriff einer tiefen Vergangenheit stelle ich sehr bewußt eine Heiligenlehre gegenüber, deren Heroismus, so hoffe ich, dem Naturheroismus überlegen ist und auch als überlegen erkannt werden mag. Gilt dieses heilige Heldentum doch der Moral, dem Geiste, den göttlichen Dingen. So lege ich der jungen deutschen Republik in drei Heiligengestalten eine Analyse religiöser, geistiger, moralischer Fragen vor, die keineswegs aus kirchlichen Vorurteilen, sondern aus freier Erkenntnis der Notwendigkeit, aus einer mit persönlichen Opfern erstandenen Überzeugung stammen.245
Am Ende des Byzantinischen Christentums246 spricht Hugo Ball symbolmächtig von der Sprache, ja von der möglichen Heilung der „Zunge des Satans selbst“. Mir kommen dabei die jeweiligen Schlussbemerkungen zweier anderer Texte in den Sinn: Die bereits zitierte zur „Schuld“ am Ende der „Totenrede“247 und der letzte Satz des „ersten dadaistischen Manifests“, das er so beendet:
Das Wort, meine Herren, das Wort ist eine öffentliche Angelegenheit ersten Ranges.248
Denn im Schlusskapitel schildert Ball die Begebenheit, als der Heilige Symeon vor einer riesigen Schlange249 nicht zurückweicht, ihr „nicht den Kopf zertreten“ lässt, sondern sie „mit Güte“ aufnimmt und sie „sogar“ „heilt“. Und Ball fragt:
Was bedeutet sie, die Heilung der Schlange?… „Frohe Botschaft dem Juden- und dem Christentume? Reicht des Styliten Bußgewalt bis zum Geheimnis der Erbsünde hin? Und naht im Schoße der Zeiten [d.h. auf Erden, wenn ich das richtig verstehe] noch einmal Verzeihen und höchste Versöhnung…? Genügt dann ein Impuls zum Heiligen hin, daß auch der Dämon noch Güte findet? Wird dann die Allmacht selbst sich erweichen lassen und ihren Groll widerrufen?250
Karl Piberhofer, in Michael Braun (Hrsg.): Hugo Ball. Der magische Bischof der Aantgarde, Verlag Das Wunderhorn, 2011








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