Kerstin Preiwuß: Rede

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Kerstin Preiwuß: Rede

Preiwuß-Rede

sprache atemluft
sprach pure atemluft
sprach von atmen von purer atemluft
atmet es aus es atmete sich ein
wort ist eine pore ist heut sein

kleid aus haut
körper uferlos
in der luft
der körper uferlos
das kleid sprachkluft

weiß mich
weiß mich unter einer glocke
weiß von langsamen ersticken
wüsste nicht wo anders man als unter einer glocke
vom langsamen ersticken sprechen kann

habe ich eine tarnkappe auf dem kopf?
bin ich eine verrückte frau mit einem bemalten gesicht?
luft ist nicht zu sehen nicht zu greifen mit den händen
zum gehalten werden reicht sie nicht

leicht teilt die luft sich
leichter als luft sich teilt
legt die luft sich
leichter als luft sich legt
die ihre hände bewegt
ihr den rand

 

 

 

Jemand stirbt,

doch wird nicht ihm allein Gewalt angetan; der Tod zeichnet auch die, die bleiben. Um der Erschütterung zu begegnen, muß sie überführt werden in Sprache. Dies zu tun, setzen die Gedichte von Kerstin Preiwuß eine Bewegung unterhalb der Bewußtseinsschwelle in Gang, die das Reden und das Erkennen verändern wird und den Tod selbst zur Sprache bringt, als läge er dem Ich dieser Gedichte auf der Zunge. Letztlich sind es die Worte, die einen Weg zurück weisen in die Welt, wie sie vor der Erschütterung war und nach ihr wieder sein wird.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2012

 

Leichter Ernst

– Neue Gedichte der Leipziger Autorin Kerstin Preiwuß. –

2006 überbrachte das Lyrikdebüt der Leipziger Autorin Kerstin Preiwuß noch Nachricht von neuen Sternen. Inzwischen liegt von ihr ein Gedichtband vor, der wiederum erdgebunden daherkommt – in Preiwuß’ Langgedicht Rede wird in dreizehn Abschnitten jemand zu Grabe getragen und zugleich sprachlich vergegenwärtigt.
Als Gewährsmann wählt Preiwuß Stéphane Mallarmé, der mit seiner „poésie pure“ dem Realismus entkommen wollte, da er ihn für unzulänglich hielt, menschliches Sein zu ergründen. Preiwuß zitiert eingangs Mallarmés Diagnose des „nicht zu verleugnenden Strebens meiner Zeit“, nämlich, „den doppelten Status der Rede auseinanderzuhalten, roh oder unmittelbar auf der einen, essentiell auf der anderen Seite“.
Dieses Bestreben gilt heute vielleicht weniger, zumindest galt es nicht für Mallarmé, und es gilt nicht für Preiwuß. Immer wieder gelingt es ihr, eine neue Balance der Rede herzustellen – leicht und ernst, feurig und kühl, nüchtern und phantastisch. Dies, aber auch die stilistischen Mittel, mit denen Preiwuß operiert, offenbart eine lyrische Urszene:

mein therapeut heißt sprache, die
selbe geschichte einer beziehung zwischen innen und außen
wie wir um unsere hände ringen. wie wir
beide uns gebärden im schatten ewiger gewalten
die zu verwandeln mühsam ist und selten
selig macht

Mittels syntaktischer Vexierspiele gelingt es Preiwuß, der Sprache neue Luft, neuen Raum zum Atmen zu verschaffen. Überhaupt finden sich scheinbar Prosaisches („man traut sich ja erst jahrtausende später damit zu twittern / denn twittern ist ein anderes wort für mein vibrierendes glück“) und Poetisches („können wir uns zueinander legen? / fragt der alte prellbock seine schienenden“) häufig gelungen aufgelöst in Bildern, die an Celan erinnern und den Tod als permanenten Begleiter beschwören:

er faßt dich nicht an
er trägt dich im sinn

Sprache sei des Erste und Letzte, was gelte, notierte Preiwuß vor einigen Jahren; sie zu ihren Geburts- und Todespunkten zwischen Laut und Stille, Klang und Schweigen zu führen, gelingt dieser Autorin auf eigene Weise.

Philip Kovce, Süddeutsche Zeitung, 31.7.2012

Hör zu, wie das Ich klingt

– Eine ausdrucksstarke Stimme unter den Lyrikern ihrer Generation: Kerstin Preiwuß’ Gedichtband Rede vermittelt zwischen Laut und Stille, Geplapper und Wahrhaftigkeit. –

Ein Zitat von Stéphane Mallarmé eröffnet Kerstin Preiwuß’ Langgedicht Rede :

Ein nicht zu verleugnendes Streben meiner Zeit ist, wie im Hinblick auf verschiedene Zuständigkeiten, den doppelten Status der Rede auseinanderzuhalten, roh oder unmittelbar auf der einen, essentiell auf der anderen Seite.

Vielleicht gilt dieses Streben, den doppelten Status der Rede auseinanderzuhalten, heute kaum noch – weil die beiden Ebenen ineinander diffundieren oder schon längst die eine Seite ein Übergewicht gewonnen hat. Die unmittelbare, rohe Rede ist durch die Unmittelbarkeit moderner Kommunikationsmedien geradezu potenziert worden. Wo ist der Raum für das Essentielle? Vielleicht ja doch im Gedicht, in dem die beiden in Opposition gebrachten Seiten einander spiegeln können, in dem möglicherweise ein Gleichgewicht der Rede hergestellt werden kann. Und bestimmte aufgeladene Wörter einen Bedeutungshof um sich bauen können, Magie entfalten.

mein therapeut heißt sprache, die
selbe geschichte einer beziehung zwischen innen und außen
wie wir um unsere hände ringen. wie wir
beide uns gebärden im schatten ewiger gewalten
die zu verwandeln mühsam ist und selten
selig macht, vielmehr

ist meinem mund die sprache ein tier
bricht aus ihr das meuternde wort tönt silbe um silbe
ich schwiege ja, ich schwiege es ja an
die stille gewöhn ich mich doch dann.

„die sprache ein tier“: ungezähmt, sprunghaft, geschmeidig, leicht, vorbewusst und verbunden mit der Stille, die in das semantische Durcheinander Kunstpausen fügt, die Wahrnehmungsoffenheit ermöglicht. Sprache ist das Medium, zwischen Innen und Außen zu vermitteln, zwischen Laut und Stille, zwischen Geplapper und Wahrhaftigkeit. Was sie überhaupt erst zum Klingen bringt, ist nicht recht benennbar: Es geschieht an jenen Schnittstellen, an denen sich etwas unmerklich verschiebt, Alltagsrede ins Poetische überführt wird.
Dort, wo der Gedanke zum Klang wird, lauscht die 1980 geborene Kerstin Preiwuß genau. Nicht umsonst kommt Worten, die ein Dazwischen markieren oder einen Übergang, bei ihr ganz besondere Bedeutung zu: „begrenzung“, „grenze“, „haut“, „membran“ oder „hymen“. Es sind diese dünnen Schichten, diese durchlässigen Systeme, die als Filter das Rohe aussieben und die Essenz freigeben. Und es sind naturwissenschaftliche Begriffe – etwa aus der Glaziologie und der Medizin –, die in die Alltagswelt übertragen werden, um sie erfahrbarer, vibrierender zu machen.
Preiwuß’ Gedicht ist der Versuch einer Selbstvergewisserung in einem Moment, da das Ich angesichts eines nahe rückenden Todes verloren zu gehen droht. Wie an Geländern und Wänden tastet es sich an bestimmten, Assoziationen provozierenden Begriffen entlang und in zwölf Kapiteln durch eine durcheinandergewirbelte Welt: Die Schädeldecke ist die äußere Begrenzung, die literarische Tradition innere Quelle für zahlreiche Referenzen. Die Liebe ist in diesen Gedichten das Nicht-Benannte, aber immer wieder umkreiste; das eigene Ich Echoraum und Spielfläche zugleich. Immer nah am Körper, der die Sprache erst hervorbringt, bewegen sich diese Texte. Verschattet erscheinen sie von jenen größeren Fragen, die selbst in den verspielten Passagen stets berührt werden. Die Dämonen sitzen hier nicht nur zwischen den Zeilen.
Preiwuß scheut sich dabei nicht vor einem existenziellen Ton, wie man ihn in der zeitgenössischen Lyrik so lange nicht gehört hat. Es klingen darin Stimmen vergangener Zeiten an, ob Paul Celan oder gar Rilke; aber auch zeitgenössische Dichterinnen wie Friederike Roth scheinen ihre Spuren in Rede hinterlassen zu haben. Und doch spürt man die Unbedingtheit dieses lyrischen Ich, sich selbst zur Sprache zu bringen, einen eigenen Sound entstehen zu lassen:

sprache atemluft
sprach pure atemluft
sprach von atmen von purer atemluft

Eine Notwendigkeit ist hier zu spüren. Sie macht dieses genau komponierte, eine Balance zwischen Leichtigkeit und Ernst suchende Langgedicht zu einem besonderen und Kerstin Preiwuß zu einer eigenständigen, ausdrucksstarken Stimme unter den Lyrikern ihrer Generation.

Ulrich Rüdenauer, Die Zeit, 24.7.2012

 

 

Das sprechende Ich

Von Kerstin Preiwuß ist das Langgedicht Rede erschienen. Es zeigt das Sprechen als innere Notwendigkeit des Ichs. –

„Die Sprache kann man nicht anzweifeln, die Sprache ist immer das Erste und Letzte, was gilt, sie ist Netz, Seil und Balancierstange in einem“, schreibt Kerstin Preiwuß in ihrem Essay, 2010 erschienen in der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter. In Preiwuß’ Gedichten zeigt sich ein Vertrauen in die funkenschlagenden, schützenden und spielerischen Fähigkeiten der Sprache. Ihre Gedichte wirkten sicherlich harmlos – wäre ihnen nicht auch eine dunkle Seite eigen, die vom Ende allen Sprechens durch den Tod weiß: „Ich erfuhr, dass der Tod jede Sprache beendet und dass vor diesem Hintergrund die Sprache eine Gewalttat ist“, bemerkt die 1980 in Lübz geborene Preiwuß im gleichen Essay. Ihre Gedichte kennen die „Gratwanderung zwischen Mangel und Fülle“, wissen um die „starke Neigung zum Verstummen“ der Dichtung, von der Paul Celan ein halbes Jahrhundert zuvor in seiner Büchnerpreis-Rede sprach.
In der Tradition Celans steht Rede, wie Preiwuß’ nun vorliegendes Langgedicht in dreizehn Abschnitten heißt, nicht nur aufgrund seiner Eis- und Bergmetaphorik; ebenso wenig wegen des auffallenden Gebrauchs von zusammengesetzten Wörtern wie etwa „gletscherzunge“. Celans Werk ist nur eines unter mehreren, mit denen sich dieses Gedicht lebendig und fruchtbar auseinandersetzt:

wer zur herbstzeitlose ist eine hagere sophie
reißt in meinen schädel ein loch
mit ein wenig trauerflor mach ich es blickdicht

Hierin lässt sich Morgensterns Henkersmädel Sophie entdecken, jene Sophie aus Morgensterns Galgenliedern.
Auch Anklänge an Rilke sind vernehmbar. Und kein geringerer als Stéphane Mallarmé wird im Motto als Gewährsmann aufgerufen:

Ein Streben meiner Zeit ist es, den doppelten Status der Rede auseinanderzuhalten, roh und unmittelbar auf der einen, essentiell auf der anderen Seite.

Auf der Suche nach einem bestimmten Modus des Redens spannen sich die Verse in Rede auf zwischen Unmittelbarkeit und Direktheit, der Spontaneität des Sprechens und dem Essentiellen. Über Spontanes und Gegenwärtiges hinaus verweist jenes Essentielle auf etwas dauerhaft Gültiges. Bei der Wahl ihrer Mittel greift Preiwuß zu allen der Lyrik zu Gebote stehenden rhetorischen Kniffen und Finessen. Hin und wieder wirkt deren Einsatz kalkuliert – und deshalb nicht immer voll überzeugend.
Doch Preiwuß zeigt auch deutlich: Sprechen ist ohne Zweifel eine innere Notwendigkeit. Das in Rede sprechende Ich sieht sich regelrecht gezwungen, die Dinge von allen Seiten zu betrachten, sie zu benennen, sie anzuzweifeln – bis hin zur Gewaltsamkeit:

dein schädel stülpt seinen inhalt um wie ein gugelhupf
den du aus der form stürzen musst um ihn zu genießen

Das dichterischste Element
Wer sich den Bewegungen dieser Sprache hingibt, kann dieses sprechende Ich dabei beobachten, wie es Sprache überhaupt erst hervorbringt, wie Dichten und Sein in Versen eins werden, wie sehr diese Verse verbunden sind mit dem dichterischsten aller Elemente, nämlich der Luft:

atem, einziges zeichen von luft.

Die besten Verse in Rede sind von schneidender Schärfe und Präzision. Besonders immer dann, wenn die Beziehungen zwischen Sprache und Körper umkreist werden, wenn das Ich sich einem Du zuwendet. Zwar haftet manchen Versen noch Unentschiedenheit und Konventionalität an, etwa in:

wie ich mich nach mir sehne ich verzehre mich nach mir
ich möchte ungeheuer viel

doch nichts ist ungeheurer als der mensch

Gleichzeitig begeistert Rede in seiner strengen Komponiertheit, dem Umkreisen, Verschränken und Verschieben semantischer Felder, die im Gedicht wahrzunehmen sind. Kerstin Preiwuß’ Annäherung an die immer neu zu stellenden Fragen der Dichtung, die Fragen nach Liebe und Tod, ist lyrisch – im besten und wahrsten Sinne des Wortes. Und die Aufbruchstimmung, die in dieser Stimme liegt, ist nicht zu überhören:

dann sag ich wie es war
als der schwarze mann
sein umriss aus schatten mich verschlang

später sag ich später war dann
als er verschwand

Beate Tröger, der Freitag, 17.4.2012

Heute wird gehäutet

„Schwebende Gesänge“ wolle er herstellen, entstofflichte Gebilde aus reinem Klangzauber, hat der große französische Symbolist Stéphane Mallarmé einmal verkündet. Bis ins späte 20. Jahrhundert hinein taugte diese Maxime als Leitspruch für die poetische Moderne, bevor der Hermetismus an Anziehungskraft verlor und Konzepten einer stärkeren Realitätszugewandtheit weichen musste. In dem neuen Gedichtbuch der jungen Lyrikerin Kerstin Preiwuß ist Mallarmé nun wieder in vielfacher Hinsicht der Tongeber. Im Motto des Gedichtbands wird er als Kronzeuge für die „essentielle Rede“ zitiert, die in den insgesamt zwölf Kapiteln des Buches entfaltet wird. Preiwuß’ Langgedicht beeindruckt mit vielen rein phantasmagorischen Versen von hypnotischer Suggestivität. In einem poetologischen Begleittext zu diesem Gedichtbuch, der bereits vor einiger Zeit in der literaturzeitschrift Zwischen den Zeilen erschienen ist, erfährt man, dass der Band ursprünglich den Titel Rodungen tragen sollte. Das ist in seiner Prägnanz ein vortrefflicher Titel, geht es in diesem Buch doch tatsächlich um die tiefgreifende Erschütterung und Veränderung eines Ich, das sich seiner selbst nur mehr vergewisssern kann in diversen Maskeraden und Verwandlungsritualen. In jedem Kapitel versucht sich die Ich-Figur gleichsam selbst neu durchzubuchstabieren, nach der Maßgabe bestimmter Leitmotive. Das beginnt mit der Markierung des Ich durch einen „mittelstreifen auf der schädeldecke“. In den folgenden Kapiteln sind es immer wieder einzelne vokabuläre Keimzellen, die metaphorisch variiert werden und das Gedicht in eine eigentümliche Schwebe bringen: die Metaphorik der Zunge zwischen „gletscherzunge“ und „knisterndem hymen“, die Liebes- und Körpergeschichte zwischen Josephine und Kali, schließlich die Figurationen einer Ich-Entgrenzung. Ausgangspunkt des Textes ist eine Begegnung des Ich mit dem Tod und der Versuch, aus dem Moment wortloser Erschütterung herauszutreten und den Tod ins lyrische Sprechen aufzunehmen. Manche Teile dieses Langgedichts irritieren durch allzu schlichte Sentenzen, die den Fluss der „Rede“ unterbrechen: „man steigt nicht zweimal in denselben fluss. sagt heraklit“. Was aber in diesem Gedichtbuch verstört und bezaubert, sind die Bilder der Häutung und schmerzhaften Verwandlung, in denen sich die Protagonistin spiegelt:

heut wird gehäutet
sagen die leut
ausschaben
sagen die leut
roh am schmerz
weidet euch

wächst ein geweih aus
linnen erst dann pergament dann bast
zur not ein

verschwinden unter der hand
kauert unter den nägeln
der kopf und der leib einer frau
ist mir gegeben
zum überleben

Das sind Verse von beklemmender Intensität.

Michael Braun, Der Tagesspiegel, 25.3.2012

auch in die horen, Heft 246, 2. Quartal 2112

Kürzer hätte es auch getan

Nicht schlecht, aber auch nicht nicht der lyrische Mega-Hammer. Ich habe die Gedichte bzw. das Buch zweimal gelesen. Es ist im freien Rhythmen geschrieben, und spricht über Gott und die Welt, vornehmlich über die Welt der Kerstin Preiwuß, und tut was Lyrik meißtens tut, es betrachtet jedes Wort als Grundsätzlichkeit, als in die Welt hineingeboren, dass allein schon deshalb applaudiert und ausgezeichnet werden muss weil es da ist. Mag es auch so sein, denn Lyrik hat heute einen internationalen Stellenwert durch die Nobelpreisträger der letzten Jahre bekommen und dadurch, dass viele gute Lyriker auch gleichzeitig Übersetzer sind, und somit Nachdichter auf hohem Niveau. Das ist Begrüßenswert, macht aber die Lyrik auch zu einem „Weiten Feld“, wodurch der geneigte Leser es schwer hat einen Weg durch den Dschungel der lyrischen Bücher zu finden. Kerstin Preiwuß hat mit Rede einen guten Gedichtband geschrieben, der aber nichts für einen lauschigen Leseabend ist, sondern in den man sich hineindenken muss.

Hanno Hartwig, amazon.de, 3.1.2014

Rede ist ein Langgedicht,

das zu einzigartig ist, um Vorbild zu sein für andere Langgedichte. Es ist gut, dass es ein Langgedicht ist, denn es benötigt sehr viel Raum und nutzt ihn. Man ist dankbar für die Distanz, die seine Einzelteile darin untereinander austauschen können. Aber niemals verlieren sie den Kontakt zueinander ganz. Auch kommunizieren seine Strophen, seine Zeilen sowie seine Umbrüche in alle Richtungen. Das Langgedicht Rede ist ein trauriger Text, der von seinem wie kreisenden Anfang an mit einer verstörenden, leicht irren Komik begabt ist. Ich finde weder verschämte noch auftrumpfende Reime, sondern heftende Reime: Gleichklang als leisen Trost. Formal verbirgt sich Komplexität in Leichtgesagtem, wobei das Leichte wie in einer Kür dasjenige ist, das am schwersten zu erringen ist.

Monika Rinck, Lyrik-Empfehlung 2012

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Kathrin Serong: Sprachliche Begegnung mit dem Tod
literaturkritik.de, Juli 2014

Miriam Tabea Kraaz: Zu „Rede“, Kerstin Preiwuß
lyrikkritik.de, 2012

 

Es muss Funkkontakt bestehen

– Dichterleben. Ob Plagwitz oder Zentrum-Nord: Leipzigs junge Lyriker bilden keine Szene oder Schule, sondern dichten an vielen Orten. Fünf Porträts und 21 Gedichte. –

Eines der größten Probleme Leipzigs liegt knapp 200 Kilometer entfernt: Berlin. Dabei hat die Stadt der bundesdeutschen Hauptstadt durchaus etwas entgegenzusetzen und zwar ausgerechnet auf deren Hoheitsgebiet der Schönen Künste. Zum einen erblüht in Leipzig die klassische Musik in einer Üppigkeit, die dem Protestantismus ansonsten eher fremd ist. Zum anderen hat die zeitgenössische Malerei nicht zufällig hier Schule und dann auf der Welt das große Geld gemacht. Auch in Sachen Literatur besteht kein Anlass zur Bescheidenheit: In jedem Frühjahr verzeichnet das als Buchmesse getarnte Literaturfestival neue Rekorde. Zudem zeugen mehrere kleine Verlage und feine Zeitschriften von publizistischem Wagemut. Auch das Deutsche Literaturinstitut wäre nirgends besser aufgehoben als im Leipziger Musikerviertel zwischen Kunsthochschule und US-Konsulat.
Doch da ist noch etwas anderes, wodurch diese Stadt auf der literarischen Landkarte hervorsticht: Hier leben erstaunlich viele Dichter. Ja, ausgerechnet die Lyrik, diese vielleicht heikelste Gattung, hat sich in dem Biotop aus literarischer Infrastruktur, geringen Lebenskosten und städtebaulicher Unfertigkeit bestens eingerichtet. Was auch andernorts nicht unbemerkt bleibt: Gerade sorgt eine Leipziger Poetengeneration von Anfang- bis Mitte-Dreißig-Jährigen bei einschlägigen Gelegenheiten für Aufsehen und -hören. Und das, ohne eine eigene Szene darzustellen; es gibt keine festen Orte oder regelmäßigen Treffen, obwohl die meisten mit dem Deutschen Literaturinstitut ein gemeinsames Nadelöhr haben. Am besten also, man besucht die Dichter da, wo sie arbeiten: zu Hause.

Gnade und Hoffnung 

Kerstin Preiwuß wohnt hinter einer Jugendstilfassade, die nichts von der Hektik und Hitze der Leipziger Südvorstadt hindurch lässt. An ihrem großen Tisch aus massiver Eiche, zwischen offener Flügeltür und einem wandfüllenden Bücherregal, fühlt man sich an die konzentrierte Atmosphäre von klimatisierten Bibliotheken erinnert. Es gibt Melonenstückchen und gekühltes Wasser mit Holundersirup. Durch die Erkerfenster kann man den vor Sonnenlicht leuchtenden Park sehen. „Eigentlich ist mir das Arbeitszimmer zu groß und offen“, sagt Preiwuß leise, „ich habe es lieber geschützter, verborgener. So war das auch mit meinen Gedichten. Irgendwann habe ich niemandem mehr erzählt, was ich da mache. Und es ging mir besser damit.“ Einige aber, darunter die Förderer vom Deutschen Literaturfonds, haben es dennoch mitbekommen und ihr für 2010 ein Arbeitsstipendium verliehen. 
Doch wie muss man sich ihre Arbeit vorstellen?

Sie ist meistens unsichtbar und passiert ständig. Es ist eine andere Art, Sprache wahrzunehmen, der Sprache zuzuhören.

Kerstin Preiwuß’ Aufmerksamkeit hat etwas Ausgeruhtes, sie sieht einem in die Augen und spricht dann vom Tod eines nahen Verwandten.

Durch diese Erschütterung bin ich nicht mehr heil, das ist klar. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, etwas davon in die Sprache legen zu können.

Fast unbeweglich sitzt Preiwuß am Tisch und berichtet von der Gewalt durch Sprache und der Rettung durch sie, während von draußen kaum hörbar das Läuten einer Kirchenglocke dringt. Würde sie sich als religiös bezeichnen?

Ich glaube an die Sprache. Ich glaube an Wörter wie Hoffnung und Gnade und dass diese Wörter etwas Wirkliches transportieren.

Dann sagt sie, mehr zu sich als im Gespräch:

Wir machen hier etwas, womit uns niemand beauftragt hat, woran wir nichts verdienen, wobei es keine Richtlinien gibt. Wir setzten selbst die Zeit fest, die es braucht. – Was machen wir da eigentlich?

Jörn Dege, der Freitag, 25.8.2010

 

Verleihung des Anke Bennholdt-Thomsen-Lyrikpreis 2020 an Kerstin Preiwuß am 5.11.2021 im Deutschen Literaturarchiv Marbach

Kerstin Preiwuß erzählt

Holm-Uwe Burgemann und Konstantin Schönfelder: VOR|ZEICHEN #7 Kerstin Preiwuß: Auch Dunkelheit kann Wärme sein

 

 

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