Barbara Köhlers Gedicht „Newspaper“

BARBARA KÖHLER

Newspaper

Wir nehmen die gekauften Nachrichten hin
nicht wahr wir legen sie ab einen Vorrat
an Versprechen & Verbrechen 100 Prozent
Altpapier bis zur Entsorgung gestapeltes
Gestern nehmen wir an nicht wahr was wir
ablesen hält uns auf dem laufenden hält
nichts an und kein Versprechen ist halt-
barer als der Tod der anderen nicht wahr
nur eine Drohung eine leere die Stellung
der Schrift unter Druck das Papier woran
wir uns halten ist recyclebar in Zukunft
ist eine Lebensversicherung das Wahre es
dreht sich alles um uns du sag doch was
es ist nicht wahr sag doch ist nicht war

1990er Jahre

aus: Barbara Köhler: Blue Box. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1995

 

Konnotation

Wer ordnet die Informationsströme, die in der globalisierten Nachrichtenwelt durch uns hindurchgehen und uns hineinsaugen in ihren breiten Fluss? Das Gedicht Barbara Köhlers (geb. 1959) jedenfalls, das im neutral wirkenden Blocksatz gehalten ist und als Subjekt ein kaum widerstandsfähiges „Wir“ installiert, errichtet auf den ersten Blick keine Barrikade gegen die uferlose Flut der Nachrichten, sondern treibt mit im Strom der „Versprechen & Verbrechen“. Das Lyrische erhebt hier nicht den Anspruch auf „Wahrheit“, sondern bildet zunächst nur die reale Nachrichtenfabrikation ab.
In den Strom der Rede hat die sprachempfindliche Dichterin dann aber kleine Markierungen und rhetorische Elemente eingeschmuggelt, die sich der Gewalt der „newspaper“-Information widersetzen. Das unscheinbare Frage-Anhängsel „nicht wahr“, das hier in der Art einer Litanei wiederholt wird, bezeichnet ganz wörtlich die „Unwahrheit“ der „news“-Zeichen. So entsteht ein leiser suggestiver Ton des Verzweifelns wie im strukturverwandten „Reklame“-Gedicht Ingeborg Bachmanns (vgl. Lyrikkalender, 21.2.2007).

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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