Berthold Viertels Gedicht „Einsam“

BERTHOLD VIERTEL

Einsam

Wenn der Tag zuende gebrannt ist,
Ist es schwer nachhause zu gehn,
Wo viermal die starre Wand ist
Und die leeren Stühle stehn.

Besser sich mit den Verirrten
Laut vereint zum Weine finden.
Elend läßt sich mit Gift bewirten,
Und ein Lahmer führt einen Blinden.

Freundin, Verlorne, ich könnte dich bitten,
Aber du wirst mich um Geld erhören.
Und wir eilen mit ungleichen Schritten,
Um uns tiefer noch zu zerstören.

Wer hat den Mut, ohne Rausch, ohne Blende
Durch die leeren Pausen zu gehn
Und einsam der Tageswende
In die erlöschenden Augen zu sehn!

1940er Jahre

aus: Berthold Viertel: Dichtungen und Dokumente. Kösel Verlag, München 1956

 

Konnotation

Meine Arbeit hatte bereits im Treibsand zerbröckelnder Verhältnisse begonnen. Sie blieb provisorisch und auf Abruf getan. Kein größeres Werk gelang mir. Keine geschlossene Abfolge meines Wirkens, auch nicht einmal der bleibende Ansatz einer Tradition, welcher die mehr als sieben mageren Jahre überwintern konnte.“ Der österreichisch-jüdische Lyriker und Dramatiker Berthold Viertel (1885–1953), der nach 1933 aus Deutschland und Österreich vertrieben wurde und über London in die USA gelangte, fand über seinen Förderer Karl Kraus (1874–1936) in die Literatur. Er begann 1913 als Dramatiker und Regisseur in Wien, bevor er in seinen verstreuten lyrischen Arbeiten zum Chronisten einer existenziellen Verlorenheit wurde.
Im Exil in London und später in New York gehörte Viertel zu den umtriebigen Geistern in der Emigranten-Szene und engagierte sich als Vermittler zwischen den deutschsprachigen Autoren und ihren Gastländern. Sein 1956 aus dem Nachlass publiziertes Gedicht spricht vom isolierten Dasein eines „verirrten“ Einzelgängers, den nur gelegentlich das Zusammensein mit anderen Versprengten aus seinem „Elend“ erlöst.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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