Christine Thiemts Gedicht „The Walking Tree“

CHRISTINE THIEMT

The Walking Tree

Das ist der Baum, vor dem uns unsere Mütter
Immer gewarnt haben. Der uns abends nachsteigt,
Mit grünen Lidern winkt und über Zäune klettert.
In seinen Mußestunden hört er Mozart.
Er späht durch Fenster, hinterläßt an Türen
Gelbe Graffiti. Beim Vortrag im Sophiensaal macht er sich
Ganz eigene Gedanken. Lauscht auf unser Atmen
Und wirft uns Blüten hin, Schnee, der nicht schmilzt.

2007

aus: Jahrbuch der Lyrik 2007. Hrsg. von Christoph Buchwald und Silke Scheuermann. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2008

 

Konnotation

Wir kennen diesen überraschenden Vorgang aus den Mythologien. Ein Naturphänomen wird mit menschlichen Eigenschaften belehnt, in der Tradition des Anthropomorphismus. Der hier porträtierte Baum hat die Züge eines Genussmenschen, der bei Bedarf den Frauen „nachsteigt“ und auch die Grenzen und „Zäune“ überschreitet. Die Übersetzerin und Dichterin Christine Thiemt (geb. 1965) hat jedenfalls einen sehr vitalen Baum erfunden, der überall markante Zeichen seiner Anwesenheit hinterlässt.
Der Baum, offenbar ein in jeder Hinsicht sehr männliches Wesen, agiert auch als Verführer, der sehr genau die Lebensregungen der von ihm mit Interesse verfolgten Frauen registriert. Mit einiger Ironie wird indes aus der Augenperspektive des lyrischen Chronisten konstatiert, dass dieser sehr aktive Baum sogar „ganz eigene Gedanken“ vorzuweisen hat. An Verführungsideen mangelt es dieser erstaunlichen stammbewehrten Pflanze ebenfalls nicht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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