Conrad Ferdinand Meyers Gedicht „Jetzt rede du!“

CONRAD FERDINAND MEYER

Jetzt rede du!

Du warest mir ein täglich Wanderziel,
Viellieber Wald, in dumpfen Jugendtagen,
Ich hatte dir geträumten Glücks soviel
Anzuvertraun, so wahren Schmerz zu klagen.
Und wieder such ich dich, du dunkler Hort,
Und deines Wipfelmeers gewaltig Rauschen –
Jetzt rede du! Ich lasse dir das Wort!
Verstummt ist Klag und Jubel. Ich will lauschen.

1862

 

Konnotation

Die Romantik hatte den Wald zu einem Sehnsuchtsort erhoben, an dem man sich dem allgegenwärtigen „Rauschen“ – so eine Grundvokabel Joseph von Eichendorffs (1788–1857) überlassen kann. Bei dem sehr krisenanfälligen Schweizer Dichter Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) ist ein Nachhall dieser romantischen Gestimmtheit durchaus noch zu spüren. Jedoch scheint der „vielliebe Wald“ als Ort von Glücksträumen aus „dumpfen Jugendtagen“ hier nur noch eine ferne Erinnerung zu sein. Aber das lyrische Subjekt nimmt nun – nach offenbar langer Absenz vom früheren Refugium – einen neuen Anlauf.
Das lyrische Ich hat nun eine neue Stufe in seinem Naturverhältnis erreicht: Jetzt wechseln die Rollen, der Wald soll den aktiven Part übernehmen, das Ich will nur Zuhörer sein. Wo zuvor die Subjektivität des Einsamen sich des Waldes bemächtigte, versteht sich das Ich jetzt lediglich als passives Medium. Fast demütig erklärt das Subjekt seine Bereitschaft, nur noch „zu lauschen“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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