Elisabeth Borchers’ Gedicht „Wohnungen“

ELISABETH BORCHERS

Wohnungen

Die Seele meiner Mutter wohnt in einer Amsel
Die Seele meines Vaters wohnt in einer Abendsonne
Albert wohnt in einem Pfifferling
Ludwig in einem Stellwerk
Hubert in einem Schulheft

Alles kehrt wieder
und ist schon vollendet

1998

aus: Elisabeth Borchers: Alles redet, schweigt und ruft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2001

 

Konnotation

Von allen Dichterinnen ist sie die spektakulär Unspektakulärste“, lobt Arnold Stadler die 1926 in Homburg am Niederrhein geborene und im Elsaß aufgewachsene Elisabeth Borchers. Und es hat den Anschein, dass sie, die immer schon sparsam Metaphern gebrauchte, mit jedem Buch noch knapper, klarer und unprätentiöser wird. Von erhebenden Lektüren, Begegnungen mit anderen Autoren – Borchers war lange Zeit selbst als Lektorin tätig – vom ersten Schultag eines Kindes oder von der Natur erzählen ihre Gedichte. Eine sehr konkrete Metaphysik der nahen Dinge.
In diesem Gedicht wird die ganze Welt zur Behausung. Mit Leichtigkeit erteilt das Ich der menschlichen Hybris eine Absage, ohne dabei ganz auf Hoffnung zu verzichten. Wir sind zwar nicht mehr als Amsel, Abendsonne und Pfifferling. Aber die Dinge, sofern wir sie – staunend wie Kinder, die überall wohnen können – als Lebensäußerungen ansehen, sind so groß oder klein wie wir selbst. Als könnten wir in allem, was wir wirklich wahrnehmen und womit wir umgehen, auch tatsächlich „leben“. Es lebe die Poesie der einfachen Dinge!

Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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