ERNST JANDL
Die morgenfeier, 8. Sept. 1977
einen fliegen finden ich in betten
ach, der morgen sein so schön erglüht
wollten sich zu menschens wärmen retten
sein aber kommen unter ein schlafwalzen
finden auf den linnen ich kein flecken
losgerissen nur ein zartes bein
und die andern beinen und die flügeln
fest an diesen schwarzen dings gepreßt
der sich nichts mehr um sich selbst bemüht
ach, der morgen sein so schön erglüht
1977
aus: Ernst Jandl: poetische werke, hrsg. v. Klaus Siblewski. Luchterhand Literaturverlag, München 1997
In einer Frankfurter Poetik-Vorlesung hat der radikale Sprachartist Ernst Jandl (1925–2000) dereinst seine Hörer mit der Frage konfrontiert, ob die eigenwilligen Fügungen seines Gedichts „die morgenfeier“ eine Störung darstellten: „Ich meine die Punkte darin, an denen von unserer Normalsprache abgewichen wird, so daß ich es als ein Gedicht in einer heruntergekommenen Sprache bezeichnen kann.“ Auf jeden Fall hat es Jandl hervorragend verstanden, die vom Titel geweckten Erwartungen mit ästhetischen Schocks zu durchkreuzen.
„Die morgenfeier“ suggeriert zunächst eine hymnische Gehobenheit in Ton und Sujet. Jandl aber kontert das angedeutete elegische Pathos mit Ironie und Zynismus. Die zerquetschte Fliege in ihrer Erbärmlichkeit steht exemplarisch für das Mitgeschöpf Mensch. Es dominiert, so Jandl selbst, ein „Gefühl von Traurigkeit, das der Mensch für den Menschen und damit für sich selbst empfindet, ,der sich nichts mehr um sich selbst bemüht‘“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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