Ernst Jandls Gedicht „mein vater und seine mutter:“

ERNST JANDL

mein vater und seine mutter:

wie hat er können trennen
von seiner lieben mutter sich
für immer und mit tränen

meine mutter und ihr vater:

wie hat sie können trennen
von ihrem lieben vater sich
für immer und mit tränen

mein vater und meine mutter:

wie hat er können trennen
von seiner lieben gattin sich
für immer und mit tränen

mein vater und ich:

wie hab ich können trennen
von meinem lieben vater mich
für immer und mit tränen

nach 1980

aus: Ernst Jandl: poetische werke 9. Luchterhand Verlag, München 1997

 

Konnotation

Die familiäre Triade von Vater, Mutter und Sohn wird hier – als wäre es ein genealogisches Naturgesetz – über drei Generationen hinweg aufgesprengt. Das in den 1980er Jahren entstandene Gedicht Ernst Jandls (1925–2000) rekapituliert litaneiartig eine endlose Geschichte der Trennungen. Das Verlassenwerden und Verlorensein, so signalisiert das Gedicht, gehört notwendig zum Dasein einer Familie.
Als literarische Urszene seines Lebens hat Ernst Jandl die schwere Krankheit seiner Mutter Luise beschrieben – sie litt an Muskelschwund –, die 1940 zu ihrem frühen Tod führte. Nach der Geburt ihres Sohnes hatte Luise Jandl ihre Ausbildung zur Lehrerin abgebrochen und sich in Erfüllung ihrer streng katholischen Lebensmaximen auf das Wohl ihrer rasch wachsenden Familie konzentriert. Nach der Diagnose ihrer Krankheit begann sie zu schreiben. In dieser Zeit entstehen auch die ersten Gedichte des Sohnes.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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