Ernst Jandls Gedicht „,wer sein kind liebt, der züchtigt es.‘“

ERNST JANDL

,wer sein kind liebt, der züchtigt es.‘

ich weiß, ich habe gelogen

nein, mama, ich hab nicht gelogen
du hast gelogen!
nein, mama, ich hab nicht gelogen
die hände runter, die wange her
nein, mama, ich hab nicht gelogen
runter die hände, die wange her
nein, mama!

so wurde ich erzogen

nach 1992

aus: Ernst Jandl: poetische werke, hrsg. v. Klaus Siblewski. Luchterhand Literaturverlag. München 1997

 

Konnotation

Eine zentrale Glaubensformel der „Schwarzen Pädagogik“ basiert auf dem jahrhundertelang zustimmend tradierten Spruch: „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es“, der ursprünglich auf die biblischen „Sprüche Salomos“ zurückgeht. Brutalität wird hier zum Erziehungsprinzip – der Rohrstock galt auch nach dem Ende des wilhelminischen Deutschland, das sich „Zucht und Ordnung“ auf die Fahnen geschrieben hatte, als probates Mittel zur Durchsetzung sozialen Lernens. Der radikale Wort-Artist Ernst Jandl (1925–2000) hat sich diesem Thema mit dem ihm eigenen Sarkasmus genähert.
In seiner Kindheit litt Jandl unter der Strenge der Mutter, die sich nach Ausbruch ihrer schweren Krankheit (Muskelschwund) immer mehr in einen weltabgewandten Katholizismus flüchtete. Das nach 1992 entstandene Gedicht rekapituliert in minimalistischer Lakonie die reflexhafte Erniedrigung und Demütigung des Schutzbefohlenen durch Gewalt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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