Friedrich Christian Delius’ Gedicht „Junge Frau im Antiquitätenladen“

FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS

Junge Frau im Antiquitätenladen

Zwischen dem üblichen Kram
(den ich nicht weiter aufzähle)
steht die junge Frau
(die eine andre Gesellschaft will,
aber nicht weiß, ob sie
den Mann zu Haus noch will,
der auch eine andre Gesellschaft will)
und sieht sich um und
steht vor dem Antiquitätenhändler
(der ihre Zuneigung weckt, indem
er ihr sehr altes Spielzeug vorführt,
der keine andre Gesellschaft will,
ihr aber die Enttäuschungen ansieht).
So steht sie unschlüssig und
schon bereit, sich ihm hinzugeben,
weil er von ihr was zu kapieren scheint,
dreht dann aber doch ab und
macht die Tür von außen zu.

1975

aus: Friedrich Christian Delius: Ein Bankier auf der Flucht. Gedichte und Reisebilder. Rotbuch Verlag, Berlin 1975

 

Konnotation

Eine Schwelle zwischen zwei Welten ist hier überschritten worden. Die junge Frau, die der Erzähler und Lyriker Friedrich Christian Delius (geb. 1943) porträtiert, ist in ihrer Herkunftsgeschichte von den kulturrevolutionären Impulsen der linken 68er-Generation geprägt. Mit der kühnen politischen Utopie der Gesellschaftsveränderung hat aber die Institutionalisierung privaten Glücks nicht mithalten können. Jetzt sieht sich die junge Frau mit Verführungsangeboten aus der alten, überwunden geglaubten Welt konfrontiert.
Das 1975 erstmals veröffentlichte Gedicht umkreist nur einen alltäglichen Augenblick, wie er in der „Neuen Subjektivität“ der 1970er Jahre oftmals ins Zentrum gerückt wurde. Der „Antiquitätenladen“ symbolisiert dabei die Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft. Und das „sehr alte Spielzeug“ meint nicht nur die erotischen Zeichen, die an die junge Frau herangetragen werden, sondern auch die Sinn-Angebote, mit denen immer wieder das Einverständnis mit der alten Gesellschaftsordnung erzielt werden konnte. Die junge Frau entscheidet sich aber gegen die alte Welt – die „Antiquitäten“ bieten keine Perspektiven mehr.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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