FRIEDRICH HEBBEL
Der letzte Baum
So wie die Sonne untergeht,
aaaGibt’s einen letzten Baum,
Der, wie in Morgenflammen, steht
aaaAm fernsten Himmelssaum.
Es ist ein Baum und weiter Nichts
aaaDoch denkt man in der Nacht
Des letzten wunderbaren Lichts,
aaaSo wird auch sein gedacht.
Auf gleiche Weise denk ich Dein,
aaaNun mich die Jugend lässt,
Du hältst mir ihren letzten Schein
aaaFür alle Zeiten fest.
um 1850
Vor dem endgültigen Erlöschen blitzt hier noch etwas auf in der Ferne – ein letztes Zeichen belebenden Lichts. „Der letzte Baum“ des Dichters und Dramatikers Friedrich Hebbel (1813–1863) markiert einen Punkt, an dem die Tagwelt endet und die Nacht beginnt. Das „letzte wunderbare Licht“ ermöglicht noch einmal eine Erinnerung an die unwiederbringliche Lebensphase der eigenen Jugend. Das Nachglühen dieser hoffnungsvollen Zeit wird in der letzten Strophe evoziert – zugleich wird drängend präsent, dass dieser „letzte Schein“ der Nacht weichen wird.
Wie seine Tagebücher belegen, hat Hebbel schon sehr früh an den Tod gedacht. „Dumpfheit im Kopf vielleicht beginnender Tod“, notierte er bereits 1843. Und 1857 halten die Tagebücher fest: „Du atmest fremden Tod als dein Leben ein und fremdes Leben als deinen Tod aus.“ Und auch der „letzte Baum“ führt das Ich und auch den Leser des Gedichts an die existenziellen Begrenzungen heran.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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