FRIEDRICH HÖLDERLIN
Der Sommer
Noch ist die Zeit des Jahrs zu sehn, und die Gefilde
Des Sommers stehn in ihrem Glanz, in ihrer Milde;
Des Feldes Grün ist prächtig ausgebreitet,
Allwo der Bach hinab mit Wellen gleitet.
So zieht der Tag hinaus durch Berg und Thale,
Mit seiner Unaufhaltsamkeit und seinem Strale,
Und Wolken ziehn in Ruh’, in hohen Räumen,
Es scheint das Jahr mit Herrlichkeit zu säumen.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaMit Unterthänigkeit
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaScardanelli
d. 9ten Merz
1940
In den späten Versen Hölderlins (1770–1843), die der zutiefst verstörte Dichter im legendären Turmzimmer im Haus des Schreinermeisters Ernst Zimmer schrieb, erkennt die Forschung Symptome seines dichterischen Verstummens. Nach seinem psychischen Zusammenbruch 1806 verfasste Hölderlin nur noch reimende Strophen, von denen er sich in früheren Jahren als für ihn untrüglichen Zeichen poetischer Stagnation distanziert hatte.
Solche äußerlich makellos gebauten Gedichte unterzeichnete Hölderlin nur noch mit seinem Pseudonym Scardanelli und setzte daneben ein manchmal reales, manchmal phantasiebestimmtes Datum – ganz so, als wolle er diese Gedichte verleugnen. In seinen letzten drei Lebensjahren schrieb er einige Jahreszeiten-Gedichte in denen Subjekt und Natur in trauter Harmonie zueinander finden. Die Hölderlin-Exegeten deuten diesen Umstand als Verlust des „eigenen Tons“. Aber selbst in ihrer Konventionalität bewahren diese Verse über den Sommer einen romantischen Sehnsuchtston, der um die Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit der „Natur-Herrlichkeit“ weiß.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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