FRIEDRICH THEODOR VISCHER
Zu spät
Sie haben dich fortgetragen,
ich kann es dir nicht mehr sagen,
wie oft ich bei Tag und Nacht
dein gedacht,
dein und was ich dir angetan
auf dunkler Jugendbahn.
Ich habe gezaudert, versäumet,
hab’ immer von Frist geträumet;
über den Hügel der Wind nun weht:
es ist zu spät.
um 1880
Eine Szene des Abschieds – und eine schockhafte Begegnung mit der Vergänglichkeit. In der Trauer um den endgültigen Verlust eines geliebten Menschen rekapituliert das lyrische Ich im Gedicht des Philosophen und Ästhetikers Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) die eigenen Versäumnisse. Ein Schuldgefühl stellt sich ein, das Bewusstsein eines elementaren Versagens als Freund oder Liebender. Es gehört offenbar zu den schönsten Illusionen der Spezies Mensch, sich über die Befristung des Daseins hinwegzuschwindeln.
Der linkshegelianischen Fraktion der Philosophie zuhörig, exponierte sich Vischer als ketzerischer Geist wider eine konservative Theologie, bekannte sich zum Pantheismus und engagierte sich als demokratischer Aktivist in der Nationalversammlung in Frankfurt. Neben seinen philosophisch-ästhetischen Schriften publizierte er auch eine stattliche Anzahl Gedichte. In seinen 1887 publizierten Lyrischen Gängen brillierte er mit scharfen Satiren – das Liebesgedicht auf einen Verstorbenen oder eine Verstorbene bildet eine Ausnahme in seinem Werk.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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