GERHARDT RÜHM
sieht man mich noch?
sieht man mich noch?
ich bin ein loch
durch mich schiesst alle welt hindurch
als ding als greis als kind als lurch
der bäcker backt in mir das brot
es fällt durch mich des nachbars kot
ein mord passiert in mir und frisst
sich durch bis man den grund vergisst
ein stern tritt glühend in mich ein
vielleicht auch nur ein kieselstein
ich bin ein loch
sieht man mich noch?
1986
aus: Gerhardt Rühm: Geschlechterdings. Chansons. Romanzen. Gedichte. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1990
Die Sprachalchemisten-Werkstatt des Wiener Alt-Avantgardisten Gerhard Rühm (geb. 1930) haben Skeptiker schon vor Jahren schließen wollen. Die Experimente des letzten überlebenden der Wiener Gruppe, so monierten die Kritiker, seien zu seriell, zu durchschaubar, zu abgenutzt, um noch wirklich poetisch überraschen zu können. Wer sich indes mit den lyrischen Versuchen Rühms genauer beschäftigt, wird die Formvirtuosität und Vielseitigkeit seiner Sprachexerzitien bewundern.
Eins seiner ebenso sarkastischen wie volksliedhaften Gedichte aus dem Jahr 1986 umkreist die Faktizität einer Hohlform – ein Loch, das völlig sinnfrei ist, nur reine Funktion für Alltagsverrichtungen. Das lyrische Ich selbst definiert sich in groteskem Humor als „Loch“, und von schöner Paradoxie ist die Frage nach der eigenen Identität und nach der Wahrnehmung durch die Außenwelt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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