GOTTFRIED BENN
Aber du –?
Flüchtiger, du mußt die Augen schließen,
denn was eindringt, ist kein Großes Los,
abends im Lokal ist kein Genießen,
selbst an diesem Ort zerfällst du bloß.
Plötzlich sitzt ein Toter an der Theke,
Rechtsanwalt, mit rotem Nierenschwund,
schon zwei Jahre tot, mit schöner Witwe,
und nun trinkt er lebhaft und gesund.
Auch die Blume hat schon oft gestanden,
die jetzt auf dem Flügel in der Bar,
schon vor fünfzig Jahren, stets vorhanden
Gott weiß wann, wo immer Sommer war.
Alles setzt sich fort, dreht von der alten
einer neuen Position sich zu,
alles bleibt in seinem Grundverhalten –
aber du –?
1954
aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe. Band I: Gedichte 1. In Verb. m. Ilse Benn hrsg. von Gerhard Schuster. Klett-Cotta, Stuttgart 1986
Die Bierkneipe ist für den späten Gottfried Benn (1886–1956) das Zentrallabor für Poesie. In seinen Stammlokalen rund um den Bayerischen Platz in Berlin empfing er seine stärksten Eindrücke. „Ich habe abends meistens Durst u. Unruhe u. gehe in eine Kneipe“, schrieb er 1950 seinem Briefpartner F.W. Oelze, „da distanziert sich das Leben von mir u. wirft sich als Figuren an die Wände.“ In einer dieser abendlichen Sitzungen widerfuhr dem Lyrischen Alter ego Benns eine außerordentliche Erfahrung: die Wiederkehr eines Toten.
Es sind Beobachtungen eines Stoikers, der seinen letzten Lebensabschnitt heraufdämmern sieht. Das Ich beginnt die eigene Vergänglichkeit zu spüren und verweist auf kleine Rendezvous mit dem Tod. Bei allen Veränderungen, die vom lyrischen Subjekt diagnostiziert werden, gibt es auch eine Konstante im „Grundverhalten“. Das lyrische Ich hält am Ende die eigene Position offen: Es ist nicht absehbar, wann und wo der Wechsel der Existenz bevorsteht. Das Gedicht wurde in der Welt am Sonntag vom 12. September 1954 erstmals veröffentlicht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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