Gottfried Benns Gedicht „Zwei Träume“

GOTTFRIED BENN

Zwei Träume

Zwei Träume. Der erste fragte,
wie ist nun dein Gesicht:
was deine Lippe sagte
oder das schluchzend Gewagte
bei verdämmerndem Licht?

Der zweite sah dich klarer:
eine Rose oder Klee,
zart, süß – ein wunderbarer
uralter Weltenbewahrer
der Muschelformen der See.

Wird noch ein dritter kommen?
Der wäre von Trauer schwer:
ein Traum der Muschel erglommen,
die Muschel von Fluten genommen
hin in ein anderes Meer.

1954

aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe. Band I: Gedichte 1. In Verb. mit Ilse Benn hrsg. von G. Schuster. Klett-Cotta, Stuttgart 1986

 

Konnotation

Am 15.10.1954 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung zwei dunkel-melancholisch getönte Gedichte Gottfried Benns (1886–1956), Sehnsuchtsmelodien, getragen von einem Bewusstsein der Finalität. Unter dem Titel „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“ war auch das Gedicht von den „zwei Träumen“ zu lesen, das dann in Benns letzten Band Aprèslude (1955) mit einem neuen Titel aufgenommen wurde.
In ihren eigensinnigen Kommentaren zum Briefwechsel mit Benn erhebt Ursula Ziebarth (geb. 1921), die letzte Geliebte des Dichters, Anspruch darauf, die biografischen Ursprungsmomente des Gedichts freizulegen. Die Verse vom „wunderbaren uralten Weltenbewahrer / der Muschelformen der See“ beziehen sich laut Ziebarth auf die Gehäuse der Meerschnecken, „von denen besonders schöne Exemplare in Worpswede auf meinem linken Fensterbrett lagen“. In dieser Perspektive erscheint das Gedicht als subtile Liebeserklärung des Dichters an seine unberechenbare Geliebte. Die dritte Strophe imaginiert dabei die Unvermeidlichkeit eines Verlusts.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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