Gottfried Kellers Gedicht „Schein und Wirklichkeit“

GOTTFRIED KELLER

Schein und Wirklichkeit

In Mittagsglut, auf des Gebirges Grat
Schlief unter alten Fichten müd ich ein;
Ich schlief und träumte bis zum Abendschein
Von leerem Hoffen und verlorner Tat.

Schlaftrunken und verwirrt erwacht’ ich spat;
Gerötet war ringsum Gebüsch und Stein,
Des Hochgebirges Eishaupt und Gebein,
Der Horizont ein sprühend Feuerrad.

Und rascher fühlt’ ich meine Pulse gehen,
Ich hielt die Glut für lichtes Morgenrot,
Erharrend nun der Sonne Auferstehen.

Doch Berg um Berg versank in Schlaf und Tod.
Die Nacht stieg auf mit frostig rauhem Wehen,
Und mit dem Mond des Herzens alte Not.

1844

 

Konnotation

Dass die ersehnte Verwandlung eines Melancholikers in einen glücklichen, erwartunqsfrohen Menschen misslingt, ja misslingen muss – zeigt uns hier das Sonett des großen Schweizer Lyrikers und Erzählers Gottfried Keller (1819–1890). Zwei Quartette und ein Terzett lang sieht es so aus, als könne die Transformation eines Schlafenden gelingen. Als er erwacht, sind Landschaft, Himmel und Gebirge in ein glühendes Rot getaucht. Aber die erhoffte Morgenröte erweist sich als Abenddämmerung – so lässt sich „des Herzens alte Not“ doch nicht abschütteln.
Nach dem Scheitern seiner Malstudien in Zürich und in München hatte Keller seine ersten Gedichte 1846 veröffentlicht; eine Sammlung von Liebesliedern, „Vaterländischen Sonetten“ und jahreszeitlich orientierten Gedichten. Aus dieser ersten Gedicht-Publikation stammt das 1844 entstandene Sonett, das ursprünglich unter dem Titel „Was ist es an der Zeit“ veröffentlicht wurde und erst in den „Gesammelten Gedichten“ von 1883 die Überschrift „Schein und Wirklichkeit“ erhielt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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