Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Die vollkommene Leere“

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Die vollkommene Leere

Ein erhabenes Ziel, gewiß,
nur meine Lunge
will nichts davon wissen.
Sie füllt sich, leert sich,
wenngleich nicht ganz.
Auch das Nervensystem
stört, meldet sich,
meldet Hitze. Vielleicht
ist sie ausgefallen,
die Klimaanlage? Nirgendwo
ein Nirwana, immer schrillt
ein Telephon irgendwo,
und auf dem Balkon
summen die Wespen,
die es, so wie ich,
nicht weit gebracht haben
in der Kunst der Meditation.

2009

aus: Hans Magnus Enzensberger: Rebus. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2009

 

Konnotation

Der Eintritt in die absolute Leere, in die Freiheit von allen irdischen Bindungen und Abhängigkeiten, mag ein buddhistisches Heilsziel sein. Für das lyrische Alter Ego Hans Magnus Enzensbergers (geb. 1929) ist die „vollkommene Leere“ schon biologisch eine Fiktion. Das Bio-System des Körpers weist die Leere ab – und auch die kleinen unvermeidlichen Störungen im Alltag durchkreuzen die Einübung ins Nirwana.
In seinem Spätwerk präsentiert sich Enzensberger gerne als abgeklärter Ironiker, der Weltanschauungen und verbissene Heilsbotschaften demontiert und dabei das Pathos der Ideologien mit den pragmatischen Begrenzungen des Alltagslebens konterkariert. Zum Titel „Die vollkommene Leere“ hat er offenbar eine starke Zuneigung entwickelt, denn bereits 1988 hat er so seinen Essay über das Fernsehen überschrieben, dem er damals spöttisch bescheinigte, als „buddhistische Maschine“ die „technische Annäherung an das Nirwana“ zu vollziehen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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