Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Et ego“

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Et ego

Diese tropischen Abende in Thessaloniki,
und die hellen Nächte am Ofotfjord –
weißt du noch?

Sicher weiß ich es noch.
Aber was war das schon,
verglichen mit dem Wochenende in Minnesota,
im Neuschnee versunken,
und mit dem Vollmond über Stockelsdorf-Krumbeck,
Post Pronstorf, Landkreis Bad Segeberg –
weißt du noch?

Sicher weiß ich es noch.
Aber ich weiß nicht mehr,
warum.

1995

aus: Hans Magnus Enzensberger: Kiosk. Neue Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995

 

Konnotation

Der emphatische poetische Bezug auf eine zauberhafte Landschaft, auf den Ort der Idylle, ist kulturgeschichtlich in der berühmten Formel „Et in Arcadia ego“ fixiert, die sich erstmals im Gemälde eines italienischen Barockmalers eingeschrieben fand. In der lyrischen Moderne wird das poetische Bekenntnis „Auch ich war in Arkadien“ fast immer mit ironischen Brechungen unterlaufen und mit schnoddrigen Gegenreden konterkariert. Bei Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) beobachten wir eine fortschreitende Banalisierung des Arkadien-Mythos.
Das helle Licht der antiken Landschaften mag noch in den „tropischen Abenden in Thessaloniki“ und in norwegischen Nächten erinnerbar sein. Aber dann werden von Enzensberger ganz andere Naturerfahrungen dagegengehalten, die sich in Orten mit sehr profanen Namen ereignen. Am Ende dieses in den 1990er Jahren entstandenen Gedichts ist dem lyrischen Subjekt die Arkadien-Begeisterung vollständig abhanden gekommen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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