Hansjörg Schertenleibs Gedicht „Gib mir dein Aug“

HANSJÖRG SCHERTENLEIB

Gib mir dein Aug

Gib mir dein Aug, zeig mir
die Welt. Mir ist sie längst
ein ewig gleicher Hügelzug.
Die Karten sind verteilt,
wir zeigen Kunst und meinten
doch das echte Leben.
Um unsre spitzen Schädel
pfeift ein Wind, die Worte
drehen leer und heiser.
In unsern Rücken dröhnen
Glocken, steigen Vögel –
groß wie Düsenjets.
Ich hack der Amsel weg ihr
Aug: wie könnt ich leben
ohne Hände, die mich rühren?

um 1990

aus: Jahrbuch der Lyrik 9. Hrsg. von Christoph Buchwald und Robert Gernhardt. Luchterhand Literaturverlag, Hamburg/Zürich 1993

 

Konnotation

Hansjörg Schertenleib, 1957 in Zürich geboren, lebt nach längeren Aufenthalten in Skandinavien heute in Irland und in der Schweiz. Dieses Unstete seiner Biographie scheint konsequent: In seinen Romanen und Theaterstücken sowie in seinen Gedichten nimmt das Fremdsein eine zentrale Stellung ein. Die poetische Erkenntnis setzt hier voraus, dass das Vertraute fremd wird, um durch die Außenperspektive den eigenen biographischen Ort zu verstehen.
Mit der Wucht der Gewalt will das Subjekt des Gedichts einen Wechsel in der Sicht auf die Welt erreichen. Doch die tut alles erdenkliche, um diesen Wechsel zu verhindern: Tosen – der Düsenjets, des Windes, der Worte – und die Ausweglosigkeit verteilter Land – oder Spiel-Karten. Unter diesen Zustand zieht das Gedicht mit der poetisch inszenierten Blendung am Schluss gewaltsam einen Strich.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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