Hauke Hückstädts Gedicht „Autoskizze, Seelower Höhen“

HAUKE HÜCKSTÄDT

Autoskizze, Seelower Höhen

November, ohne Schnörkel für den Betrachter.
In ihrer Spagatsilhouette
grätschte die Feldscheune ins Gelände
und turnte im Rückspiegel bis zur Biege.
Dieser Baum dort hat eine Rebellenfrisur,
sagtest du, und tatsächlich, ich sah,
er war aufgeschlitzt, der Länge nach.
Die vergeßlichen Karten kannst du vergessen
für einen Ausflug in Erinnerungslücken.
Wir hielten uns an Konturen, und ich weiß noch
das abschüssige Bett in der Pension Oderblick.

um 2000

aus: Hauke Hückstädt: Neue Heiterkeit. Zu Klampen Verlag, Springe 2001

 

Konnotation

Was uns hier vor Augen gestellt wird, ist weit mehr als eine spontane Expedition in ein unvertrautes Gelände im Osten Brandenburgs. Die zwei Reisenden des Gedichts scheinen eher ziellos in einem unübersichtlichen Terrain hin und her zu schweifen. Nur beiläufig, fast lässig werden die Beobachtungen kommentiert – gleichwohl ist es eine Autofahrt mitten hinein in schlimmste geschichtliche Verheerungen.
Der Lyriker Hauke Hückstädt (geb. 1969), der in seinen Gedichten einen ironisch grundierten Erzählgestus bevorzugt, erkundet hier einen Ort, an dem im April 1945 eine der blutigsten Schlachten des zweiten Weltkriegs stattgefunden hat. Und so ist der scheinbar so flapsig kommentierte Zustand des „aufgeschlitzten“ Baums auch ein Hinweis auf die hier im Verlauf der Kriegshandlungen komplett zerstörte Landschaft des Oderbruchs. Den Nachgeborenen, die hier das Terrain durchfahren, droht eine Art Geschichtsvergessenheit in „Erinnerungslücken“. Es ist nicht nur in diesem Fall – das Gedicht, das Erinnerung stiftet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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