HEINRICH HEINE
Erwartung
Morgens steh ich auf und frage:
Kommt feins Liebchen heut?
Abends sink ich hin und klage:
Ausblieb sie auch heut.
In der Nacht mit meinem Kummer
Lieg ich schlaflos wach;
Träumend, wie im halben Schlummer,
Wandle ich bei Tag.
1817
Seine neuen Poesien seien „viel sanfter und süßer“, schrieb der junge Heinrich Heine (1797–1856) im Oktober 1816 an einen Freund; es handle sich ausschließlich um „Minnelieder“, die in der Regel aus der Beziehung des Dichters zu seiner Kusine Amalie hervorgingen. In diesen meist kurzen, epigrammatischen Liebesliedern sind die Klagen eines Verlassenen über den Verlust der Liebe in exemplarischen Figurationen zusammengefasst. Prägnanter lässt sich der Liebesschmerz wohl kaum formulieren.
Obwohl die Hoffnung des Liebenden regelmäßig grausam enttäuscht wird, kann er von ihr nicht ablassen. Der Kummer frisst den Leidenden auf, die Schlaflosigkeit verwandelt ihn in eine somnambule Gestalt. Die „Erwartung“, die der Titel des vermutlich 1817 entstandenen Gedichts aufruft, weiß um ihre Nicht-Erfüllbarkeit – und dennoch lässt sich die Sehnsucht nach dem „Liebchen“ nicht abschütteln.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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