Heinz Erhardts Gedicht „Kurz vor Schluß“

HEINZ ERHARDT

Kurz vor Schluß

Schön ist der Wein, bevor er getrunken,
schön ist das Schiff, bevor es gesunken,
schön ist der Herbst, solange noch Mai ist,
schön ist der Leutnant, solang er aus Blei ist.
Schön ist das Glück, wenn man es nur fände!
Schön ist das Buch, denn gleich ist’s zu Ende.

um 1950

aus: Heinz Erhardt: Von der Pampelmuse geküsst. Gedichte, Prosa, Szenen. Reclam Verlag, Stuttgart 2004

 

Konnotation

Von dem Dichter und Kabarettisten Heinz Erhardt (1909–1979) hat ein lachbereites Publikum oft nur die Reihung von Slapsticks und Kalauern erwartet. Für die auf Ulk und Scherz abonnierte Öffentlichkeit der 1950er Jahre agierte er als dicklicher Pausenclown oder ungeschickter Biedermann. Wer seine Gedichte näher studiert, entdeckt jedoch oft einen bitteren metaphysischen Witz darin, ein Bild des notorisch scheiternden Menschen, dem die Erfüllung des Glücks stets vorenthalten bleibt.
Die Heiterkeit des reimenden Komikers ist nur vorgeschützt, die von ihm gepriesene „Schönheit“ nur als sehr vergängliches Glück, als ferne Utopie oder im Modus des Konjunktivs zu haben. Die Lektüre eines fast ausgelesenen Buches wird zum Sinnbild für die Vergänglichkeit des Menschenlebens. Wenn hier also Einsichten „kurz vor Schluss“ resümiert werden, meint das auch die begrenzte Lebensfrist des Protagonisten, der vergeblich das Glück sucht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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