HELGA M. NOVAK
ich möchte nochmal durchatmen
und mit großen Schritten
offenen Auges und lächelnd
durch ein Land gehen
wo keiner ein blutiges Handwerk treibt
wo keine Schuldfrage steht
und wer hat angefangen
ich möchte nochmal alles vergessen
und mich selber
und durch ein Land gehen
das mich entwirrt und bewirtet
und meinen Kopf und meine Hände befreit
wo alle Verborgenheit sich in Rauch auflöst
wem nützt es denn wenn ich bleibe
1975
aus: Helga M. Novak: solange noch Liebesbriefe eintreffen. Gesammelte Gedichte, Hrsg. v. Rita Jorek. Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt a.M. 1999, 2008
Mit ihren wechselnden Heimatländern hatte die rebellische Dichterin Helga Novak (geb. 1935) stets große Identifikationsprobleme. 1966 hatte das SED-Regime der jungen Dichterin die DDR-Staatsbürgerschaft aberkannt. Die damalige Literaturstudentin hatte in ihrem Gedichtbuch Ballade von der reisenden Anna (1965) ein harsches Misstrauensvotum formuliert gegenüber einem Staat, in dem „Misstrauen und Spitzel / die hausgemachten Soßen würzen“. Später nomadisierte Novak zwischen Island, Westdeutschland und Italien, ohne in diesen Refugien je heimisch zu werden. 1992 zog sie sich in die polnischen Wälder zurück.
Das um 1975 entstandene Gedicht beschwört eine Utopie: Es entwirft ein Land, das nicht durch politische Verbrechen diskreditiert ist und keine „Schuldfragen“ auszutragen hat. Es ist ein Land, das die Dichterin zeitlebens nie gefunden hat. Das Verbleiben in der alten Heimat wird radikal in Frage gestellt. Doch das Gefühl der Befreiung und der Ankunft in einer neuen Welt lässt sich nur im Medium des Gedichts erträumen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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