HENRIETTE HARDENBERG
Südliches Herz
Blüte sitzt tief,
Bergspitzen biegen sich hin,
Wind ausgeruht liegt,
der Baum steht starr.
Da plötzlich erblüht
Mitten ins Herz hinein
Brennend sitzt du in mir Baum.
Nirgend ist Ruhe in mir,
in Flammen schreie ich auf,
ein Meer in allem bewegt.
Da zucken auch sie,
Blüte und Baum,
schon rot von ihrer Süße.
1920er Jahre
aus: Henriette Hardenberg: Das literarische Werk. Bd. 1: Gedichte. DuMont Buchverlag, Köln 1973
Wie ihre Kollegin Emmy Hennings (1885–1948) gehörte Henriette Hardenberg (1894–1993) zu den raren expressionistischen Dichterinnen, die von ihren männlichen Kollegen als anmutige Traumfrau oder exzentrische Muse heftig umworben wurden. In der Zeitschrift Die Aktion hatte Hardenberg, die mit bürgerlichem Namen Margarete Rosenberg hieß, 1913 ihre ersten Gedichte veröffentlicht. 1916 heiratete sie den prominenten Expressionisten Alfred Wolfenstein (1888–1945), von dem sie sich nach dessen homosexuellem Bekenntnis scheiden ließ. 1937 gelangte sie über Prag ins Exil nach London.
In diesem Gedicht aus den 1920er Jahren vibriert die existenzielle Unruhe einer ganzen Generation. Es sind heftige Affekte, die hier auflodern, Leidenschaften, die sich in den Naturphänomenen spiegeln. Das „Südliche Herz“ erscheint hier als empfindsames Sehnsuchtsorgan, in dem Grundelemente des Vegetabilischen „Blüte“ und „Baum“ – in starkem Wachstum begriffen sind und die Welt aus ihrer Erstarrung herausführen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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