HILDE DOMIN
Ausbruch von hier
Für Paul Celan, Peter Szondi, Jean Améry, die nicht weiterleben wollten
Das Seil
nach Häftlingsart aus Bettüchern geknüpft
die Bettücher auf denen ich geweint habe
ich winde es um mich
Taucherseil
um meinen Leib
ich springe ab
ich tauche
weg vom Tag
hindurch
tauche ich auf
auf der andern Seite der Erde
Dort will ich
freier atmen
dort will ich ein Alphabet erfinden
von tätigen Buchstaben
1970er Jahre
aus: Hilde Domin: Sämtliche Gedichte. Hrsg. V. Nikola Herweg u. Melanie Reinhold. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2009
Im Gegensatz zur Dichtkunst ihres jüdischen Dichterkollegen Paul Celan (1920–1970), dessen vom Grauen des Holocaust verfinsterte Poetik der Negativität auf viel Widerspruch stieß, hat Hilde Domin (1909–2006), die Dichterin der emphatisch benannten Exilerfahrung, ihr Sprechen stets als Vollzug eines poetischen Heilsgeschehens begriffen. Wo Celan der „Schönheit“ des lyrischen Worts grundsätzlich misstraute, da setzte Domin ganz auf die Verkündung eines positiven Aphabets „aus tätigen Buchstaben“.
In ihrer Widmung verweist Domin auf die großen jüdischen Autoren, die sich von ihrem peinigenden Schuldgefühl, den Holocaust überlebt zu haben, nicht befreien konnten. Domins Gedicht bahnt sich demonstrativ einen Fluchtweg aus den Schrecken der Vergangenheit und bekennt sich zur Selbsterrettung durch Sprache. Zugleich wird hier die Möglichkeit eines eingreifenden, „tätigen“, also auch politischen Gedichts installiert.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
Schreibe einen Kommentar