HILDE DOMIN
Nacht
Man hat mich Tote aufs Wasser gelegt
ich fahre die Flüsse hinunter
die Rhône den Rhein den Guadalquivir
den Haifischfluß in den Tropen.
Am Meer die Särge.
Ich ohne Münze zwischen den Zähnen
ich treibe in meinem Bett
an den barmherzigen
Bewahrern
geliebter Toter vorbei
überzählig
unnützer als Treibholz
in den Tag.
nach 1960
aus: Hilde Domin: Gesammelte Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1987
Der Traum der Emigrantin Hilde Domin (1909–2006) gebiert Ungeheuer. Eine Tote wird als offenbar nirgendwo zugehöriges Subjekt einem Gewässer überantwortet. Sie treibt dahin auf europäischen Flüssen und auf einem tropischen „Haifischfluß“. Größer könnte die Verlorenheit kaum sein. Es handelt sich offenbar um eine geächtete, von allen verstoßene Person, die selbst als Tote keine Heimat mehr findet.
Noch nicht einmal die Fahrt ins Totenreich ist dieser Leiche garantiert. Denn in Anspielung auf den antiken Topos von der Münze, die man Verstorbenen unter die Zunge legt, damit sie vom Fährmann Charon sicher in den Hades geleitet werden, bekräftigt sich die Heillosigkeit dieses Schicksals: „Ich ohne Münze zwischen den Zähnen.“ Das Gedicht spiegelt in Form einer Todesphantasie die „linguistische Odyssee“ Hilde Domins, die nach 1933 durch ein halbes Dutzend Länder bis in die Dominikanische Republik führte.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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